Einführung in die Rangdynamik (eBook)
122 Seiten
Carl-Auer Verlag
978-3-8497-8502-4 (ISBN)
Christina Spaller, Dr.in; Studium der Theologie und Religionspädagogik; Gruppendynamiktrainerin und Group-Workerin (ÖAGG); Professorin an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich mit Schwerpunkten in den Bereichen Inklusive Bildung mit Fokus auf soziokulturelle Differenzen sowie Soziodynamik und Gruppendynamik. Mitglied der Aktionsforschung Linz - Verein für Gruppendynamik und partizipative Forschung; Veröfffentlichungen zu Aktionsforschung, Gruppendynamik und soziokulturellen Differenzen. Andrea Tippe, MSc; Lehramtsstudium an der Pädagogischen Akademie für Deutsch, Geschichte und Sozial-Wirtschaftskunde; Gruppendynamiktrainerin und Group-Workerin (ÖAGG), Lehrsupervisorin (ÖVS/ANSE), Personal- und Organisationsentwicklerin (Donau Universität Krems); Lektorin in universitären Management- und Beratungsausbildungen; Vorsitzende der Aktionsforschung Linz - Verein für Gruppendynamik und partizipative Forschung; Kuratoriumsmitglied des Diakoniewerks Gallneukirchen. Veröffentlichungen zu Aktionsforschung, Gruppendynamik, Supervision/Coaching und Organisationsentwicklung.
Christina Spaller, Dr.in; Studium der Theologie und Religionspädagogik; Gruppendynamiktrainerin und Group-Workerin (ÖAGG); Professorin an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich mit Schwerpunkten in den Bereichen Inklusive Bildung mit Fokus auf soziokulturelle Differenzen sowie Soziodynamik und Gruppendynamik. Mitglied der Aktionsforschung Linz – Verein für Gruppendynamik und partizipative Forschung; Veröfffentlichungen zu Aktionsforschung, Gruppendynamik und soziokulturellen Differenzen. Andrea Tippe, MSc; Lehramtsstudium an der Pädagogischen Akademie für Deutsch, Geschichte und Sozial-Wirtschaftskunde; Gruppendynamiktrainerin und Group-Workerin (ÖAGG), Lehrsupervisorin (ÖVS/ANSE), Personal- und Organisationsentwicklerin (Donau Universität Krems); Lektorin in universitären Management- und Beratungsausbildungen; Vorsitzende der Aktionsforschung Linz – Verein für Gruppendynamik und partizipative Forschung; Kuratoriumsmitglied des Diakoniewerks Gallneukirchen. Veröffentlichungen zu Aktionsforschung, Gruppendynamik, Supervision/Coaching und Organisationsentwicklung.
1 Vom Anfang: Die Entwicklungsgeschichte des Rangdynamikmodells
Das Rangdynamikmodell lenkt den Blick auf die Soziodynamik unterschiedlichster kollektiver Formationen. Es beinhaltet bestimmte Prinzipien für ein geordnetes Beobachten und Erklären einer Sicht auf Gruppen. Das Modell schafft dadurch Erkenntnisse, welche wiederum für die Entwicklung von Kollektiven eingesetzt werden können. Die Entwicklungsgeschichte des Modells ist in die 1950er- und 1960er-Jahre des vorigen Jahrhunderts in Wien eingebettet, eine Zeit, in der sich emanzipatorische Ansprüche in und an Institutionen abzeichnen, um eine Demokratisierung von Gesellschaft zu ermöglichen. Die historischen Grundlagen des Modells wurden im klinischen Feld der Psychiatrie entwickelt, die folgende Forschungsarbeit zum Rangdynamikmodell hat zu Weiterentwicklungen in anderen Feldern und Arbeitsbereichen geführt.
1.1 Zum Hintergrund der Rangdynamik-Forschung
Das Modell der Rangdynamik nimmt seinen Anfang in der Gruppenarbeit von Ärztinnen bzw. Ärzten mit Personen mit schizophrener Krankheit an der psychiatrischen Abteilung der Wiener Universitätsklinik in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts und dem steigenden Interesse an Gruppenprozessen in dieser Zeit. Die Ursachen schizophrener Erkrankungen waren international im Gespräch. Widerstreitende Positionen kennzeichneten die medizinische und interdisziplinäre Diskussion. Eine Position vertrat die Auffassung, dass die Ursachen der Erkrankung ausschließlich genetisch bedingt seien, und setzte demnach auf eine somatische Behandlung, beispielsweise Psychopharmaka, Elektro- oder Insulinschockbehandlung sowie Neurochirurgie (Schindler 1960a, S. 143). Ihr gegenüber erhoben jene Mediziner:innen ihre Stimme, die mit Blick auf psychotherapeutische und psychoanalytische Ansätze die Ursachen von Schizophrenie stärker in der Persönlichkeitsentwicklung wie auch dem sozialen Umfeld der Patientinnen und Patienten verorteten. Ihnen eröffnete sich neben einer somatischen Behandlung ein weiteres Feld möglicher Heil- oder Rehabilitationsverfahren mit den zu Behandelnden.
Auf diesem Hintergrund fanden an der psychiatrischen Abteilung der Wiener Universitätsklinik neue Therapieprozesse statt, in deren Zentrum die multifaktorielle Genese für schizophrene Erkrankungen entwickelt wurde (Gastager 1965, S. 25f.). Genetische Ursachen wurden dabei nicht mehr als alleinige Auslöser angesehen, sondern die Persönlichkeitsentwicklung unter Einbeziehung der sozial konflikthaften Situationen der Patientinnen und Patienten erhoben und bei der Entwicklung von konkreten Diagnosen berücksichtigt. Ein Zusammenspiel von drei Diagnoseebenen etablierte sich als »Wiener Position« (Gastager 1965, S. 73–77):
- – eine psychiatrische Diagnose, die sich auf den Krankheitsverlauf, also die Krankheitsfaktoren bezog;
- – eine psychodynamische Diagnose, die die Persönlichkeitsentwicklung von Menschen mit schizophrener Beeinträchtigung in den Blick nahm;
- – eine soziodynamische Diagnose, die den Fokus auf die soziale Eingebundenheit der zu Behandelnden richtete.
Entlang dieser Diagnosen wurden neben der somatischen Behandlung neue psycho- und soziotherapeutische Behandlungsformen entwickelt. Die psychiatrische sowie die psychodynamische Diagnose forderten eine Arbeit mit den Patientinnen und Patienten entlang präziser Beobachtungen, d. h. dem akuten Krankheitsverlauf und der konkreten Verfasstheit der betroffenen Menschen. Die soziodynamische Diagnose erweiterte den Blick auf das soziale Umfeld, das es aus Sicht der Mediziner:innen parallel zum stationären Aufenthalt zu behandeln galt, denn dieses musste für die Rückkehr und Aufnahme der Patientinnen und Patienten vorbereitet werden. Die Aufgabe des Umfeldes war, eine adäquate integrierende Konstellation und Atmosphäre herzustellen (vgl. Gastager 1965; Gastager u. Schindler 1963).
Damit kristallisierte sich ein zweifacher Fokus in der Behandlung für Menschen mit schizophrener Beeinträchtigung heraus: eine therapeutische Arbeit mit den betroffenen Menschen und zeitgleich dazu eine therapeutische Arbeit mit dem familiären Umfeld.
So wurde ab 1946/47 als klinisches Setting die sogenannte bifokale Familientherapie entwickelt und hinsichtlich ihrer Wirkung professionell vom Therapieteam beobachtet, reflektiert und evaluiert. Beteiligt daran waren Mediziner:innen der Abteilung, die namentlich in Ausführungen von Raoul Schindler genannt wurden: Dr. Gastager, Dr. Frühmann, Dr.in Bründlmayer, Dr.in Hift (Schindler 1957d, S. 385). Gemeinsam war ihnen die Ablehnung der explizit genetischen Verortung von psychischer Beeinträchtigung und die Einbeziehung psychodynamischer und sozialer Faktoren in die Pathogenese und Diagnose. 1952 publizierten aus der Mediziner:innengruppe zu ihren Therapieerfahrungen Otto H. Arnold und Raoul Schindler den Artikel Bifokale Gruppentherapie bei Schizophrenen. In diesem Text unterschieden sie verschiedene Formenkreise schizophrener Erkrankungen, von denen ihrer Meinung nach einige nicht ausschließlich genetisch bedingt waren, und stellten erstmals die Schritte der bifokalen Gruppentherapie vor. Fünf Jahre später relativierte Schindler in einer weiteren Publikation (1957c) einmal mehr die Bedeutung eines genetischen Erbfaktors, indem er diesen lediglich als eine Vorstufe der Erkrankung oder als eine mögliche Disposition benannte. Dieser Disposition schrieb er für den eigentlichen Krankheitsverlauf und damit die Manifestation der Erkrankung »in Relation zu einem Umwelteinfluss und dessen Verarbeitbarkeit durch das Individuum« (Schindler 1957c, S. 148) wenig Bedeutung zu. Die sozialen Einflüsse und deren individuelle Verarbeitung waren für ihn maßgeblich für eine Erkrankung.
Wenn nun eine schizophrene Beeinträchtigung nicht länger (nur) genetisch bedingt war, brauchte es eine neue Idee für das Behandlungsziel. In der Folge löste der Begriff Rehabilitation den Begriff Heilung ab. Gemeint war damit: Menschen mit schizophrenen Krankheitsverläufen sollten bestmöglich unterstützt und in die Lage versetzt werden, in sozialer Gemeinschaft größtmöglich eigenständig zu leben und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Das Kriterium erfolgreicher Behandlung war die Fähigkeit, sich in gesellschaftlichen Abläufen selbstständig verhalten zu können, sozial eingegliedert und aktiver Teil der Gesellschaft zu sein (Gastager u. Schindler 1961).
Damit war die (Wieder-)Erlangung einer sozialen Eingebundenheit, die Integration in die Gesellschaft unabhängig von möglichen Dispositionen das neue Behandlungsziel.
Raoul Schindler (Wien, 1923–2014) hat gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen aus Psychiatrie, Psychoanalyse, Gruppendynamik und Psychotherapie das gruppendynamische Rangdynamikmodell erforscht, beschrieben und formuliert. Schindler arbeitete als Assistenzarzt an der Wiener Psychiatrischen Universitätsklinik, war lehrend als Psychoanalytiker tätig und Leiter des Referats Psychohygiene des Gesundheitsamtes der Stadt Wien. Als Primarius (Chefarzt) der Pavillons 24, 25 und 26 des Otto-Wagner-Spitals führte er in den frühen 1960er-Jahren moderne klinische Arbeitsmethoden sowie Parlamente und ein Café für Patientinnen und Patienten ein. Er initiierte zahlreiche Projekte, Interessengruppierungen und Vereine, darunter den ÖAGG, pro mente Wien, die Gesellschaft Österreichischer Psychotherapeutinnen bzw. -therapeuten und die Gruppendynamikseminare Alpbach. Er war sozialpolitisch aktiv und wirkte führend an der Psychiatriereform sowie am Psychotherapiegesetz mit; zudem engagierte er sich an mehreren internationalen und europäischen Vereinigungen der Gruppentherapie, Gruppendynamik und Gruppenpsychoanalyse. Ein tragendes Motto seiner Arbeit mit dem Rangdynamikmodell war es, eine Begegnung mit der innovativen Kraft der Position des Letzten der Gruppe zu ermöglichen. Das führte ihn selbst zu unorthodoxen Interventionen, die die Vielstimmigkeit der jeweiligen gesellschaftlichen Gruppierung zum Erklingen brachten (Lamatsch u. Tippe 2016).
1.2 Die ersten Muster des Rangdynamikmodells werden entdeckt
Im Rahmen der ärztlichen Fallbesprechungen und der Fallreflexion zur bifokalen Familientherapie werden unerwartet sich wiederholende Muster von sozialen Positionierungen in stationären und familiären Gruppierungen erkannt.
a) Psychodynamische Diagnose: Eine schwache Ich-Entwicklung
Schindler und Kolleginnen bzw. Kollegen diagnostizierten bei Menschen mit schizophrenem Krankheitsbild eine Ich-Schwäche oder schwache Ich-Entwicklung, die durch die Familie bedingt werde und durch die die betroffenen Menschen innerhalb des familiären Kontextes in einer Regression verblieben. Diese führte zu einer fehlenden Emanzipation aus der Familiengruppe und dadurch zur Einengung der Persönlichkeitsentwicklung.
»Diese Pat. waren in ihrer aus der Frühentwicklung und familiären Konstellation determinierten Persönlichkeitsart den Gegebenheiten der...
Erscheint lt. Verlag | 8.10.2024 |
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Reihe/Serie | Carl-Auer Compact |
Verlagsort | Heidelberg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
Medizin / Pharmazie ► Medizinische Fachgebiete ► Psychiatrie / Psychotherapie | |
Schlagworte | Alpha - Omega • Außenseiter • Beobachtung • Beratung • Coaching • Demokratieprozesse • Demokratische Prozesse • Diagnose • Funktionen • Gruppendynamik • Gruppenmodell • interaktionsmodell • Intervention • Organisationsentwicklung • Planung • Positionen • Rangdynamik • Rangordnung • Raoul Schindler • Rollen • Sündenbock |
ISBN-10 | 3-8497-8502-5 / 3849785025 |
ISBN-13 | 978-3-8497-8502-4 / 9783849785024 |
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