Literatur als bildgebendes Verfahren -  Maximilian Rankl

Literatur als bildgebendes Verfahren (eBook)

Motiv- und stilanalytische Untersuchungen zur frühen Prosa Gottfried Benns
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2024 | 1. Auflage
292 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-4210-0 (ISBN)
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Gottfried Benn ist einem breiteren Publikum vor allem als Lyriker bekannt. Dabei kann gerade seine frühe Prosa neben Texten Franz Kafkas, Carl Einsteins und Carl Sternheims als protoypisch gelten für jene Strömung des deutschen literarischen Expressionismus, die als "erkenntnistheoretische Reflexionsprosa" (Vietta/Kemper) in die Literaturgeschichte eingegangen ist und deren Spätfolgen bis zu Arno Schmidt und Uwe Johnson reichen. Neuerdings ist besonders die Bedeutung der Forschungen zur Hirnphysiologie um 1900 als Folie dieser Texte hervorgehoben worden. Dabei sind aber der Einfluss der Erkenntnis- und Sprachkritik Nietzsches und deren ästhetische Konsequenzen weitgehend aus dem Blickfeld geraten. Die vorliegende Arbeit will - nach Abklärung biographisch-historischer "Wirklichkeiten", die auch Abbildungen zu Benns Brüsseler Zeit umfasst - mit einer textnahen Motiv- und Stilanalyse sowie im Vergleich mit Positionen Friedrich Nietzsches den besonderen Charakter dieser Prosa fassbar machen und einem Verständnis näherbringen. Darüber hinaus erscheint ihre zeit- und erkenntniskritische Dimension gerade heute wieder von aktueller Brisanz.

Maximilian Rankl, geb. 1955 in Kempten/Allg., ist promovierter Literaturwissenschaftler. Er studierte Germanistik, Geschichte, Politologie und Baltologie, war Lehrbeauftragter und Dozent an den Universitäten München und Greifswald und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter an Kulturinstituten der deutschen Vertriebenen sowie als Drehbuchautor fürs Fernsehen. Derzeit ist er Dozent für Literatur an der VHS München. M. A. mit einer Arbeit über "Erkenntniskritik und ihre dichterische Gestaltung in den frühen Novellen Gottfried Benns"; Dissertation über "Jean Paul und die Naturwissenschaft"; Aufsätze u. a. zum Bild Litauens in der deutschen Literatur; Publikationen zu Paul Adler und Miguel de Unamuno und zur Rezeption Unamunos in Deutschland.

ERSTER TEIL:


Die Problemlage der Zentralfiguren


I. Historische und biographische Bezüge45


In diesem ersten Kapitel beziehe ich – nicht zuletzt durch einige Abbildungen – den biographischen Hintergrund wieder stärker mit ein, ohne damit einer reduktionistischen Deutung der Texte durch Verengung des Blickwinkels auf „Fakten“ das Wort reden zu wollen. Doch wenn in Bezug auf die frühen Texte Benns immer von „Wirklichkeitsverlust“46 die Rede ist, so gilt andererseits auch, dass es „Wirklichkeitselemente […] in Benns Prosatexten wie in der Lyrik […] in Hülle und Fülle“ (Büssgen 2010: 234) gibt und „in dieser Prosa […] nicht die empirische Welt der Dinge […], sondern die tradierten, rationalitätsbasierten Wahrnehmungsmuster“ (ibid.234f.) dementiert und durch neue – in meiner Terminologie: bildgebende Verfahren – ersetzt werden. Um diese aber zu erkennen, ist es nötig, zunächst einmal festzustellen, welche Elemente überhaupt aus der empirischen „Wirklichkeit“ stammen.

Hier geht nicht nur in der älteren Forschung manches durcheinander. Nicht nur wurde und wird – sofern ein direkter Bezug zur biographischen Situation des Autors Benn ins Blickfeld rückt – meist auf eine psychische Krise oder Erkrankung Benns fokussiert47, es wird auch im Hinblick auf die genaue Datierung und Situierung manches recht oberflächlich schnell mal dahingeschrieben, wie z. B. bei Marcus Hahn, bei dem es heißt, dass Benn „ab Oktober 1914 am Prostituierten-Krankenhaus St. Gilles“ arbeitete (Hahn 2006:245); in „Wirklichkeit“ war Benn erst ab Anfang 1916 (vgl. Hof 2011:160f.) an diesem Krankenhaus tätig. Es ist lohnenswert, aus den biographischen Darstellungen, die nicht nur bei Walter Lennig (1962), Hanspeter Brode (1978) u.a., sondern auch und besonders bei Holger Hof (2011) in solchen Arbeiten vielleicht unvermeidlicher Weise ständig zwischen der beruflichen, dichterischen und privaten Ebene hin- und herspringen, für die frühe Prosa relevant erscheinende konkrete Daten und klarere Linien herauszuarbeiten.

1. Gehirne: Charlottenburg – München – Bischofsgrün


Nach seiner Approbation als Arzt wurde Benn im März 1912 als aktiver Offizier Militär-Arzt beim Infanterie-Regiment 64 in Prenzlau, dann beim 3. Pionier-Bataillon in Spandau“ (Brode 1978:29). Benn hatte seit 1905 an der Kaiser-Wilhelms-Akademie für das militärärztliche Bildungswesen (Pépinière) studiert, was den finanziellen Vorteil hatte, dass der Staat die Hälfte der Kosten übernahm (vgl. Brode 1978; Hof 2011:84f.) Anders wäre bei den beschränkten Mitteln seines Elternhauses ein Medizinstudium nicht möglich gewesen. Dafür mussten sich die Studenten pro Semester für ein Jahr Militärdienst verpflichten, das wären im Falle Benns zehn Jahre gewesen. Doch bereits im Mai 1912 wird Benn angeblich aufgrund einer „Wanderniere“ (vgl. Hof 2011:116) beurlaubt und anschließend aus dem Militärdienst entlassen.

a) „zwei Jahre lang an einem pathologischen Institut ange-stellt“ / „ungefähr zweitausend Leichen“ (II, 13)


Zunächst kann die Aussage „er war zwei Jahre lang an einem pathologischen Institut angestellt gewesen, das bedeutet, es waren ungefähr zweitausend Leichen […] durch seine Hände gegangen“ (II, 13) biographisch auf die Anstellungen Benns an im Wesentlichen zwei „pathologischen Instituten“ in Charlottenburg zurückgeführt werden:

Nach seiner Entlassung aus dem Militärdienst arbeitete Benn seit Ende Oktober 1912 als Assistenzarzt am pathologisch-anatomischen Institut im Charlottenburger Krankenhaus Westend (siehe S. , Abb. 1/2)48: 297 Sektionen von eigener Hand sind nachweisbar; der 26. Oktober 1912 ist das Datum von Benns erstem Sektionsprotokoll (vgl. Brode 197849; Hof 2011:119). Am 4. September 1913 schickt Benn von hier aus noch Korrekturen des Gedichtheftes Söhne (vgl. Brode 1978:32); am 10. November 1913 tritt er dann die Leitung des pathologischen Instituts in der Frauenklinik des neu eröffneten Erweiterungsbaus des Städtischen Bürgerhaus-Hospitals (Sophie-Charlotten-Straße 117) an (vgl. Hof 2011:135), die er am 31. März 1914 beendet (vgl. Brode 1978;33).

Trotz einiger widersprüchlicher Angaben zum Verlauf sind Anfangs- und Enddaten der Sektions-Tätigkeit Benns mit dem 26. Oktober 1912 bzw. 31. März 1914 gut belegt; sie erstreckt sich immerhin auf rund 17 Monate, die „zwei Jahre“ in Gehirne sind also nur leicht übertrieben, ebenso vermutlich die „zweitausend Leichen“ 50, doch im Gesamt skizziert diese Aussage doch recht realistisch die biographische Vorgeschichte.

b) „Er hatte die letzten Monate tatenlos verbracht“ (II, 13)


Nach Beendigung der Sektionstätigkeit im März 1914 heuerte Benn als Schiffsarzt der Hapag an und reist nach New York (Brode 1978:34); Tag der Rückkehr ist der 8. Mai 1914 (vgl. Hof 2011:138). Bis Mitte oder Ende Juni verbringt Benn nun tatsächlich mehr oder weniger „tatenlos“ (also höchsten einige Wochen, nicht „die letzten Monate“).

c) „fuhr durch Süddeutschland dem Norden zu“ (II, 13)


Jedenfalls hält er sich im Frühsommer 1914 in München auf, worüber man nichts Genaueres erfährt, außer dass er zeitweise in Leoni am Starnberger See gewohnt und am 30. Juli dort geheiratet hat (vgl. Brode 1978:35; Hof 2011:144): Edith Osterloh, verwitwete Brosin, die Benn bei einem Urlaub auf Hiddensee kennengelernt hatte, lebte inzwischen in München und versuchte sich dort als Schauspielerin (vgl. ibid.:140). Zuvor aber, Mitte oder Ende Juni, fuhr er zur Vertretung einer Chefarzt-Stelle an der Lungenheilstätte Bischofsgrün im Fichtelgebirge im Landkreis Bayreuth (vgl. ibid.:142), also geographisch völlig korrekt von München aus „durch Süddeutschland dem Norden zu“ (II, 13) und „von einem See und über die Berge“ (II, 17), nämlich vom Starnberger See durch die Fränkische Alb.

d) „die Anstalt lag hoch“ (II, 13)


Jetzt saß er auf einem Eckplatz und sah in die Fahrt: es geht also durch Weinland […] vorbei an Scharlachfeldern, die rauchen von Mohn. Es ist nicht allzu heiß; ein Blau flutet durch den Himmel, […] Männer arbeiteten im Heu, Brücken aus Holz, Brücken aus Stein; eine Stadt und ein Wagen über Berge vor ein Haus. Veranden, Hallen und Remisen, auf der Höhe eines Gebirges, in einen Wald gebaut — hier wollte Rönne den Chefarzt ein paar Wochen vertreten. […] Im Gelände war niemand außer Angestellten und Kranken; die Anstalt lag hoch. (II, 13; siehe S. , Abb 3/4).

„Spätestens hier“, schreibt Holger Hof, „beginnt die Geschichte des Dr. Rönne von der Lebenswirklichkeit des Dr. Benn abzuweichen. […] Die Art der Benn-Rezeption jedenfalls, Werk und Biographie in eins zu setzen, treibt nirgends so absurde Blüten, wie jene, aus der Bischofsgrüner Vertretungsepisode biographisch zu destillieren, Benn habe den Chefarzt für mehrere Wochen vertreten sollen, der nach nur einer Woche habe zurückgerufen werden müssen, da Benn sich am Rand einer Psychose befunden habe“ (Hof 2011:142f.) Für die Motivgestaltung nicht ohne Bedeutung ist es aber, dass es heißt: „die Anstalt lag hoch“ (II, 13), was einerseits der realen Topographie entspricht, sich andererseits aber auch schön in die später zu erörternde gestalterische Opposition von „oben vs. unten“ einfügt (vgl. unten S. ).

e) Datierung


Wo behauptet wird, der Chefarzt habe „nach nur einer Woche […] zurückgerufen werden müssen, da Benn sich am Rand einer Psychose befunden habe“ wird bei Hof (2001:143) nicht klar; aus dem Text geht jedenfalls hervor, dass er „vor ein paar Wochen gekommen war“ (II, 17), sein wie auch immer gearteter Zusammenbruch erst nach einigen Wochen stattgefunden hat. Wenn Benn von Mitte/Ende Juni bis Ende Juli 1914 als Vertretung des Chefarztes in der Lungenheilstätte Bischofsgrün befindet, so stimmt dies mit der Geschichte Rönnes durchaus überein. Eine „Psychose“ Benns dagegen ist tatsächlich reine Spekulation; Fakt ist dagegen wieder, dass er am 30. Juli 1914 in München Edith Osterloh geheiratet hat, zwei Tage vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges.51

2. Die Eroberung: Brüssel – Schlachthof – Palmengärten


Im Zuge der Generalmobilmachung wurde auch Benn einberufen und stieß am 1. August 1914 – zum Oberarzt befördert – zu seiner Kompanie in Spandau, die Teil der 6. Reservedivision und somit Teil des Verbands des III. Reservekorps (vgl. Hof 2011; 144 und 469, Anm. 69). Er wird nach Belgien beordert und, will man Walter Lennig glauben, war bis fast zum Ende des Jahres im Zuge der...

Erscheint lt. Verlag 24.9.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
ISBN-10 3-7597-4210-6 / 3759742106
ISBN-13 978-3-7597-4210-0 / 9783759742100
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