Total tapfer! (eBook)

Ein Lese- und Fachbuch zur psychosozialen Begleitung bei Krebs
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
118 Seiten
Vandenhoeck und Ruprecht (Verlag)
978-3-647-99293-8 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Total tapfer! -  Angelika von Aufseß
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In literarischen Erzählungen, die aus der Arbeit mit Krebspatient:innen entstanden, umschreibt Angelika von Aufseß relevante Themen der Krankheitsbewältigung. Jede Geschichte vermittelt psychoonkologische Fachkenntnisse, bringt Erfahrungen aus dem Leben Betroffener ein und beleuchtet ein spezifisches Thema der Krankheitsbewältigung. Dazu zählen krankheitsbedingte Veränderungen ebenso wie der berufliche Wiedereinstieg, die Auswirkungen auf die Partnerschaft, das Entdecken von Ressourcen oder das Ende des Lebens. Dieses Lese- und Fachbuch für professionell Begleitende, für Betroffene und ihre Angehörigen lädt dazu ein, die eigenen Gedanken und Gefühle zu Krankheit und Tod zu reflektieren und dadurch ein tieferes Verständnis zu finden. Empfehlungen von Publikationen, Internetportalen und konkreten Anlaufstellen liefern zusätzlich nützliche Hinweise.

Angelika von Aufseß, Diplom-Psychologin und Psychoonkologin, ist freiberuflich tätig als Autorin, zertifizierte Schreibgruppenleiterin und Beraterin für eine psychoonkologische App (Living Well Plus).

Angelika von Aufseß, Diplom-Psychologin und Psychoonkologin, ist freiberuflich tätig als Autorin, zertifizierte Schreibgruppenleiterin und Beraterin für eine psychoonkologische App (Living Well Plus).

Zurück ins Arbeitsleben


Planetenwechsel (Erzählung)

Noch 23 Tage bis zu meinem Wiedereinstieg in die Arbeit. In 23 Tagen werde ich auf den Parkplatz für das Lehrpersonal rollen und das Auto in die letzte Lücke quetschen. Dann hänge ich mir die Tasche über die Schulter. Dann gehe ich durch den Nebeneingang zum Lehrerzimmer. Dann treffe ich die Kolleginnen und Kollegen. Dann lächle ich in die angespannten Gesichter. Dann nimmt mich jemand in den Arm. Dann sage ich: Ist alles gut! Dann husche ich in das Büro der stellvertretenden Leitung. Dann breche ich weinend auf dem Stuhl zusammen. Dann bietet mir Korinna, die Schulleitung, Taschentücher an. Dann schniefe ich und sage: Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.

Ich halte den Film an. So läuft das nicht! So soll meine Rückkehr in den Beruf nicht aussehen. So nicht!

Noch 23 Tage von insgesamt 429 Tagen, die meine Schule ohne mich verbracht hat, die ich ohne sie verbracht habe. Meine fünfte Klasse ist jetzt eine siebte Klasse. Die Mädchen tragen BH und melden sich monatlich vom Turnen ab. Die Stimmen der Jungs kippeln. Es riecht nach Buttersäure und Männerdeo. Ich erinnere mich an meine vergangenen siebten Klassen. Sie waren wild und bunt: Welpe, Krokodil, Stockfisch, Schaf, Raubkatze, Lachmöwe, Elefantenbaby, Pfauenkönig, Iltis …, ein einziger großer Zoo, in dem die Wärter von morgens bis abends wachsam sein müssen, damit niemand durchs Raster oder aus dem Rahmen fällt. So labil sind die Kinder in dieser Übergangszeit; Porzellan oder Tretmine oder beides zugleich. Die Siebt- und Achtklässler sind mir immer schon die liebsten gewesen. Sie zu begleiten, zu fördern und zu fordern ist meine Spezialität, meine Leidenschaft. Ja, liebe Korinna, du hast recht, wenn du mich den Kolleginnen und Kollegen als Vorbild hinstellst. Ich würde über die seltene Mischung aus Stabilität und Sensibilität verfügen und würde bei aller Kumpelhaftigkeit meine Autorität nicht einbüßen. Diese öffentliche Anerkennung meiner Qualitäten rechne ich dir für immer hoch an, danke!

Aber wo ist das hin? Habe ich das noch? Kann ich das noch? Wie begegne ich meinen gemauserten Schützlingen? Werden sie mir meine Abwesenheit verzeihen? Werden sie mir vorhalten, ich hätte sie im Stich gelassen? Ausgerechnet sie, ausgerechnet in ihrer Zeit der Verwandlung? Ihr Päckchen ins Krankenhaus hat mich zu Tränen gerührt. Kein einziges Foto hat gefehlt, alle haben unterschrieben. Nachts habe ich ihre Häkelmütze getragen.

Mein erster Besuch in der Schule nach einem halben Jahr Abwesenheit hatte mir eigentlich Mut gemacht. Eigentlich.

Kurzer Gang über den Pausenhof. Es ist kalt. Viele tragen Mütze. Auch ich. Kein großes Ding. Small Talk. Klatsch und Tratsch. Die unvermeidliche Frage: Wann kommen Sie zurück, Frau Schroll? Schulterzucken, dünnes Lächeln. »Das dauert. Die Behandlung ist noch nicht zu Ende. Nach der Chemo kommt die Bestrahlung. Nach der Bestrahlung kommt die Reha. Nach der Reha … Vielleicht Ostern? Vielleicht auch erst Pfingsten? Frau Loose wird eure Klassenlehrerin bleiben. Aber keine Sorge! Bald werde ich euch wieder piesacken.« Zwinkerzwinker mit dem wimpernlosen Auge.

Doch kaum habe ich mein »Arbeitszuhause« verlassen und sitze in der Bahn, da zerbröselt mir der Mut unter den Fingern. Tränen sammeln sich irgendwo hinter meinen Augen. Zu Hause angekommen steigt ein jähes Verlustgefühl in mir auf, die abgrundtiefe Verzweiflung, dass für die anderen das ganz normale Leben weitergeht. Aber nicht für mich. Nicht für mich. Nicht für mich, verdammte Axt!

Der Verlustschmerz rollt heran wie ein Gewitter in den Bergen. Eben noch Sonnenschein, gerade den Ausblick über das Inntal genossen, da ziehen schwarze Wolken auf, ballen sich, platzen auf und überfluten Fels und Baum und Wiese mit ihren Wassermassen. Ich kauere in einer Felsenrinne. Durchnässt und verfroren. Wie in den Bergen zieht auch das Verlustgewitter weiter. Ich wische mir Rotz und Wasser aus dem Gesicht und sinke in tiefen Schlaf.

Nach dem Aufwachen immer noch Druck auf meinem Herzen und so ein bitteres Kloßgefühl in Bauch und Magen. Ich erinnere mich an einen Sommer meiner Kindheit, in dem ich wegen meiner entzündeten Ohren nicht schwimmen durfte. Die anderen Kinder kreischen vor Vergnügen. Sie springen vom Badesteg, tauchen ab, tauchen auf. Sie werfen sich juchzend gegenseitig ins Wasser, während ich auf dem Handtuch am Ufer sitze, Gummibärchen die Köpfe abbeiße und so tue, als würde ich lesen.

Dieses Mal ohne Gummibärchen, aber in gleicher Stimmung. Ich bin traurig, neidisch, vor allem aber ängstlich. Die Angst plustert sich vor mir auf und droht: Da kommst du nie wieder hin. Wie sollst du diesen anspruchsvollen Beruf jemals wieder ausüben können? Schau dich an! Du siehst aus wie der Tod auf Rädern, gerupft wie ein Huhn kurz vor der Suppe. Wie willst du deinen Schülern je wieder gerecht werden können? Glaub nicht, die kleinen Monster geben dir einen Mitleidsbonus. In der Luft zerfetzen werden sie dich, wenn du nicht stark bist. Ein schwächelnder Zoowärter ist ein toter Zoowärter. So sieht das aus!

Inzwischen bin ich zuversichtlicher. Ich habe gelernt, die aufgeplusterte Angst zu durchschauen. Sie liebt das Drama. Sie liebt Katastrophen. Oft gehe ich ihr auf den Leim. Immer öfter ziehe ich ihr den Stöpsel, indem ich sie mit der Realität konfrontiere. Dann zetert sie noch ein wenig, die Luft entweicht, und sie wird still. Ich vermute, sie sammelt ihre Kräfte für den nächsten Überfall, der unweigerlich erfolgen wird. Es ist gut, seinen Gegner zu kennen.

Noch 16 Tage bis zu meinem Wiedereinstieg. Organisatorisch ist alles geklärt. Stufenweise Wiedereingliederung. Ich soll schonend, aber kontinuierlich an die Belastungen meines Arbeitsplatzes herangeführt werden und erhalte somit die Möglichkeit, meine Belastbarkeit entsprechend meiner wiedererreichten Leistungsfähigkeit zu steigern. Soso! Bis zu den Sommerferien werde ich sechs Wochen Zeit haben, um in meinen alten Takt hineinzufinden. Ab August übernehme ich eine neue Klasse. So der Plan.

»Willst du Gott zum Lachen bringen, erzähle ihm von deinen Plänen!«, hatte im Februar die Psychoonkologin gesagt, als wir über meinen Wiedereinstieg sprachen. Sie wollte mich provozieren. Das ist ihr gelungen. Ich hätte sie in der Luft zerreißen mögen. Was, wenn ich niemanden zum Lachen bringen, sondern einfach nur wieder unterrichten will? Und zwar so schnell wie möglich! Nur wegen der paar Konzentrationslücken, der bleiernen Müdigkeit, wegen dem bisschen Dünnhäutigkeit soll ich noch zwei Monate zu Hause verbringen? In meiner Wohnung starren die Wände mich an. Mein Sofa riecht nach Schwäche und Übelkeit. Die Teekanne hat den Kanal voll von Salbei, Kamille, Frauenmantel. Sie will sich zurückziehen. Mein teurer Kaffeevollautomat soll wieder zischen und fauchen und schon frühmorgens das Aroma von Espresso in der Küche verströmen. Gebügelte Blusen statt ausgeleierter T-Shirts! Weg mit den Schlabberhosen! Raus hier!

Am Ende bin ich eingeknickt. Einstieg im Mai statt im März. Jetzt bin ich dankbar für den Aufschub. Ich plane die kleinen Schritte, in denen ich Zeit dafür haben werde, mich vom bleichen Engerling in einen schillernden Schmetterling zu verwandeln. Der Abschied von der Patientenrolle wird nicht reibungslos verlaufen, das ist mir bewusst. Ich verlasse den Planeten der Schonung und gliedere mich stufenweise ein in den Planeten der Leistungsfähigkeit und der Anforderungen.

Für die mentale Vorbereitung zücke ich die Notizen aus der Reha:

Etappenziele;

Verbündete;

Abgrenzung;

Selbstfürsorge.

Etappenziele! Ungeduld ist mein zweiter Vorname. Als Gärtnerin bin ich eine Niete. Ich ziehe am Gras, damit es schneller wächst, ich grabe die schwere Erde um, bis ich auf allen vieren ins Haus robbe und wochenlang den Garten meide. Meine Dahlien setze ich vor den Eisheiligen in die Erde, was ihnen den sicheren Tod bringt. Ich will zu viel, zu schnell und am liebsten alles gleichzeitig. Die Krankheit aber bleibt unerbittlich und lehrt mich Langsamkeit.

Mein geschundener Körper braucht die kleinen Ziele. Er verzeiht mir keinen Raubbau mehr. »Ruhig, Braune!«, mahnt die Physiotherapeutin, wenn ich mehr Wiederholungen mache als vereinbart. »Ab in die Waagerechte!«, blafft mein Körper mich an, wenn ich die Hausarbeit nur ein ganz klitzekleines bisschen übertrieben habe. Ich lerne Etappenziele.

Verbündete! Meine Hilfstruppen stehen bereit. Nachbarin Sarah wird mich in der ersten Woche zur Schule bringen und abholen. Keine Parkplatzsuche, keine durchgeschwitzte Bluse, noch ehe ich das Gebäude betreten habe. »Ich kann meine Termine auf den Nachmittag legen. Mein Schreibtisch kann warten, wo ist das Problem?«, fragt sie und lässt meine gespielte Gegenwehr an sich abperlen.

Rüdiger wird mein Ritter im Kollegium sein. Er ist jetzt schon mein Sprachrohr, mein Botschafter, mein Beschützer. Mit seinem Schild wehrt er ab, was an gut gemeinten oder auch giftigen Pfeilen...

Erscheint lt. Verlag 9.9.2024
Reihe/Serie Edition Leidfaden – Begleiten bei Krisen, Leid, Trauer
Vorwort Liane Dirks
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
Medizin / Pharmazie Medizinische Fachgebiete Psychiatrie / Psychotherapie
Schlagworte Erzählungen • Geschichten • Krankheitsbewältigung • Krankheitskrise • Kreatives Schreiben • Krebs • Krebsbetroffene • Krebsbewältigung • Krebserkrankte • Krebserkrankung • Krebspatienten • Krisenbewältigung • Langzeitüberleben • Lebenskrise • Lesebuch • Lesen • Literatur • Psychoonkologie • Psychosoziale Begleitung • psychosoziale Hilfe • Ressourcen • Todesangst • Trauer • Trauerbearbeitung • Trauerbegleitung • Trauerverarbeitung
ISBN-10 3-647-99293-3 / 3647992933
ISBN-13 978-3-647-99293-8 / 9783647992938
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