Spaemanns Philosophie (eBook)
633 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4586-1 (ISBN)
Thomas Buchheim
Wie oder wer sind Personen?
Versuch einer ontologischen Bestimmung in Anlehnung
an Ideen Robert Spaemanns1
Spaemanns prägnantes, aber vielsagendes Aperçu, dass es Personen »nur im Plural gibt«2, bildet den Ausgangspunkt zur Betrachtung eines Kerngedankens seiner Philosophie, demzufolge die Personalität einer jeden Einzelperson abhängt von der ihr einbeschriebenen Systematik einer Beziehung zwischen allen, die ebenfalls Personen sind. Diese der Personalität einer jeden einbeschriebene Beziehung mit allen ist selbst kein natürlicher, obwohl erst auf der Grundlage bestimmter Naturverhältnisse zwischen lebendigen Individuen personen-charakteristischer Verhaltensneigung unwillkürlich sich einstellender, sie unter das Dach einer gemeinsamen Form des Lebens versammelnder und insofern kollektiver Sachverhalt3 – eben dem, dass es Personen nur im Plural gibt.
Ist Person zu sein ein nicht selbst natürlicher, sondern nur über einer gewissen Natur unter gewissen Bedingungen unwillkürlich sich einstellender Sachverhalt, dann sind alle diejenigen lebendigen Individuen, die Personen sind, zwar Personen von Natur, d. h. geborene, aber nicht dank ihrer Natur, sondern dank jener sich einstellenden Form des gemeinsamen Lebens. Ich möchte diese eigenartige Zwischenlage der Personalität von Personen zwischen Natur und Übernatürlichkeit, wie sie Robert Spaemann in seinem Buch Personen scharfsinnig und eindrücklich beschrieben hat, in vier von Spaemanns Buch unabhängig formulierte Kernaussagen fassen, von denen nicht nur nach meiner Meinung, sondern im Anschluss an verbreitete Intuitionen und den normalen Sprachgebrauch jede für sich genommen unerlässlich ist, die zusammen aber sogar als hinreichend dafür gelten können, um wen zutreffend eine Person zu nennen. Meine Absicht gilt daher, wenn sie zutreffende von nicht zutreffenden Fällen der Anwendung unterscheidbar macht, einer ontologischen Bestimmung des Begriffs,4 – nicht um dessen oft betonte ethisch-normative Valenz zu bestreiten, sondern nur, um sie nicht für eine bloße Bestimmung der Sache schon zu benutzen und damit als zugestanden voraussetzen zu müssen – was Spaemann selbst häufig genug getan hat und so seine neue konzeptuelle Idee dem zwar falschen, aber immer wieder laut werdenden Verdacht aussetzte, nur Ausdruck eines philosophisch untermalten weltanschaulichen Interesses zu sein.
Nein, das ist sie nicht! Doch lässt sich dies erst erkennen, wenn es gelingt, einzig und allein den rein begrifflichen Zügen seiner Idee folgend ein philosophisch kohärentes und für den fraglichen Begriff zureichendes Theoriekonzept auszuformulieren.5 Dadurch ist es dann auch möglich, Spaemanns konzeptuelle Grundidee als einen höchst originellen und neuen Vorschlag auf die sonstige weltweite philosophische Diskussion über den Begriff und die Identität von Personen zu beziehen und auf diese Weise sowohl Unterschiede wie Ähnlichkeiten kenntlich zu machen. Denn das ist es, was manchen von Spaemanns guten Ideen am ehesten zu fehlen scheint: Sie werden nicht wahrgenommen in der international maßgeblichen akademisch-philosophischen Diskussion, sondern kursieren in sehr begrenzten Gesprächszirkeln, die nicht selten eine solche weltanschauliche Gemeinsamkeit teilen, wie oben angedeutet.
Bevor ich mit dem neutralen Bestimmungsversuch beginne, möchte ich erst noch ein für meine Lektüre Spaemanns zentrales Zitat an den Anfang rücken, das mir jene konzeptuelle Grundidee besonders eindrücklich zu formulieren scheint, um sie dann anschließend durch vier Kernaussagen begrifflich genauer aufzuschlüsseln:
»Personen haben das Personsein nicht so miteinander gemeinsam wie Menschen das Menschsein. ›Person‹ ist kein Wesensmerkmal, sondern bezeichnet ein ›individuum vagum‹, also die jeweilige Einzigkeit des Lebensvollzugs. ›Person‹ ist deshalb wie ›Sein‹ ein analoger Begriff. Personen heißen ›Personen‹, wie alle Familienmitglieder denselben Familiennamen tragen. Für jeden bedeutet dieser Name etwas anderes. […] Sie fallen nicht unter den Namen wie unter einen gemeinsamen Oberbegriff, der gegenüber den Differenzen, die unter ihn fallen, indifferent ist. Der Name selbst weist vielmehr jedem, der ihn trägt, einen bestimmten Platz innerhalb einer Familienstruktur zu. So hat jede Person für immer ihren eigenen, nur durch sie definierten Platz in der Personengemeinschaft. Es gibt sie nur zusammen mit diesem Platz und den Platz nur durch sie.«6
Mein Ziel ist zu zeigen, dass Personen zwar identisch sind mit je einem lebendigen Individuum, das gewisse Wesensmerkmale besitzt (etwa: terrestrische Lebewesen höherer Spezies wie z. B. Menschen); dass aber ihre Art und Weise zu leben (Spaemann: ihr »Lebensvollzug«) sie erst dann zu Personen qualifiziert, wenn ihr pluraler Lebensverband eine Form aufweist, die durch das biographische Leben der meisten, aber nicht unbedingt aller Verbandsmitglieder verwirklicht wird. Diese Sorte von Form, die nicht durch die Lebensweise von Einzelexemplaren, sondern nur auf deren Vielzahl instanziiert wird – obwohl nicht alle Exemplare des Verbands die spezifischen Charakteristika der Lebensweise teilen müssen – ist in der genannten Hinsicht vergleichbar mit Lebensformen im Sinne von Michael Thompsons »natural historical judgements«7. Nur dass die entsprechenden Urteile wie etwa »Der Mensch ist Person« oder »Der Mensch lebt ein Leben personaler Form« nach meiner These gerade kein natural historical judgement bilden, sondern ein Urteil, das auf eine erst biographisch sich einstellende Form seines Zusammenlebens mit anderen abhebt. Indessen betrachte ich die von mir beschriebene personale Lebensform auch nicht – wie Thompson die von ihm herausgestellten life-forms – unter einem primär logischen Aspekt als eine besondere Form des Urteils, sondern als eine ontologisch reale Form,8 die sich auf Lebensverbänden unter bestimmten Bedingungen errichtet, die ich nachfolgend genauer beschreiben möchte.
Bevor ich zur ersten Kernaussage komme, ist noch ein Wort über die Bedeutung des Plurals fällig, der für die Existenz von Personen nach meinem Verständnis (angeregt durch Spaemann) unerlässlich ist. Es handelt sich dabei um ein begriffliches, nicht aber faktisches Erfordernis. Das heißt, auch wenn durch faktisch eingetretene Umstände einmal keine Vielzahl mehr, sondern nur noch ein Individuum personaler Lebensform existierte, könnte es sich nach wie vor um eine Person handeln. Dies zeigt zugleich, dass Person zu sein, kein essentieller Begriff für entsprechende Individuen sein kann, wie dies auch im oben angeführten Zitat Spaemanns klar zum Ausdruck gebracht wird: »›Person‹ ist kein Wesensmerkmal, sondern ein ›Individuum vagum‹«, d. h. ein Individuum, von dem qua Person noch unbestimmt bleibt, welchen Wesens es sei, ähnlich, wie wenn wir von einem »vernünftigen« oder »sprechenden« Individuum oder einem »handelnden Akteur« etc. sprechen. Obwohl all die genannten Prädikate – wie auch die, Person zu sein – tiefgreifende und implikationsreiche Charakteristiken für die einschlägigen Individuen sind, sind sie doch keine Wesens- oder Substanzbegriffe, an deren Merkmalen die Existenz und Individuierung der Betreffenden aufgehängt ist. Und in diesem Sinn ihres Begriffs wiederum, dass die betreffenden Individuen Personen sind, liegt es nach These Spaemanns beschlossen, dass sie »nur im Plural«, d. h. nur als Glieder eines Beziehungssystems aller, auch die Charakteristik des Personseins an sich haben. Weder also ist jemand, die eine Person ist, ihrer individuellen Essenz nach unmöglich ohne Vielzahl von Personen; noch ist es für Personen akzidentiell, im Plural aufzutreten. Aristoteles würde das Verhältnis des Begriffs Person zur Mehrzahl der Fälle vermutlich als ein Akzidenz kath’ hauto bezeichnet haben: Es kommt der Person per se zu, in Mehrzahl zu existieren, obwohl es nicht zum ti ên einai ihrer primären Substanz gehört.
1. Nur Mitglieder eines Filiationsverbands von lebendigen Individuen können Personen sein
Mit der ersten Kernaussage zur Charakteristik von Personen wird zunächst diejenige Grundlage oder natürliche Voraussetzung adressiert, die ein »individuum vagum« doch immerhin erfüllen muss, um überhaupt dafür in Frage zu kommen, eine Person zu sein. Diese Voraussetzung lautet, dass es sich um ein lebendiges Individuum (nicht um einen leblosen Computer oder Kristall oder eine abstrakte Struktur wie etwa eine platonische Idee) handelt. Die erste Kernaussage lässt sich so formulieren:
(1) Grundlage des Daseins von Personen ist die Weitergabe oder Mitteilung eines gemeinsamen Lebenserbes an eine Mehrzahl lebendiger Individuen von entsprechend gleicher Natur. (Filiationsverband)
Mit »Grundlage des Daseins« meine ich nicht nur eine notwendige Bedingung im philosophieüblichen Sinn des Worts, sondern spezieller eine derartige Bedingung, insofern sie zugleich Konstituente des dadurch Bedingten ist und ihm daher auch selbst angehört. Nach dieser ersten...
Erscheint lt. Verlag | 30.7.2024 |
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Reihe/Serie | Blaue Reihe |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | anthropologische Reflexion • Ethik • Glück • Kulturphilosophie • Ontologie • Religionsphilosophie • Robert • Spaemann • Theorie der Person |
ISBN-10 | 3-7873-4586-8 / 3787345868 |
ISBN-13 | 978-3-7873-4586-1 / 9783787345861 |
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