Zeit, Raum und Postmoderne (eBook)
182 Seiten
tredition (Verlag)
978-3-384-25178-7 (ISBN)
Studium der Skandinavistik und Germanistik in Tübingen (D) und Århus (DK), lebt und arbeitet in Berlin als Autor und Übersetzer. Diverse Veröffentlichungen in Zeitschriften, Sammelbänden und Anthologien. Veröffentlichungen in Buchform: * Von Quanten und unsterblichen Soldaten. Zeit- und Raumaspekte bei Ib Michael (2016) * Zeit, Raum und Postmoderne (2024)
Studium der Skandinavistik und Germanistik in Tübingen (D) und Århus (DK), lebt und arbeitet in Berlin als Autor und Übersetzer. Diverse Veröffentlichungen in Zeitschriften, Sammelbänden und Anthologien. Veröffentlichungen in Buchform: * Von Quanten und unsterblichen Soldaten. Zeit- und Raumaspekte bei Ib Michael (2016) * Zeit, Raum und Postmoderne (2024)
3.1. Alltag und Sprache
Versucht man, sich den Phänomenen Zeit und Raum zu nähern, stellt man schnell fest, dass dies nicht so eindeutig und einfach ist, wie es auf den ersten Blick scheint. Zwar sind sowohl Zeit als auch Raum im Alltag stark präsent, aber zunächst nur in sehr oberflächlicher Weise. So scheint Zeit etwas mit der Uhr und Raum in Kubikmetern Messbares zu sein. Bei genauerer Betrachtung hat man so aber nur Messdaten erhalten, die stellvertretend für etwas stehen, das man damit eigentlich noch nicht erfasst hat. Was damit immer noch fehlt, ist irgendeine Erkenntnis über das Wesen, Sein etc. von Zeit und Raum. Der so ausgemessene Raum setzt sich jenseits seiner Bemessungen eindeutig fort und kann somit nicht hinreichend durch die vorliegenden Zahlenwerte beschrieben werden. Die Zeit erstreckt sich über den mit der Uhr bemessenen Zeitpunkt oder Zeitraum hinaus und kann so ebenfalls nicht durch Zahlenwerte endgültig beschrieben werden. Interessant ist dabei auch die Verbindung in der Alltagssprache, die durch Begriffe wie Zeitraum bzw. Zeitpunkt beschrieben wird.
Was Peter Rohr als Probleme bei der Annäherung an das Phänomen Zeit formuliert, kann genauso auch für das des Raumes gelten:
Es ist eine Eigentümlichkeit der Zeit, dass sie sich einer Subsumtion unter die meisten der überkommenden Denkkategorien zu entziehen scheint, so als sei sie nicht in ihnen, sondern hinter ihnen zu finden. Ist es etwas Materielles oder etwas Mentales? Etwas Subjektives oder etwas Objektives? Ist sie eine Entität (etwas, was Eigenschaften hat) oder selbst eine Eigenschaft an etwas anderem? Ist unser Wissen von ihr über Sinnesdaten vermitteln, oder gibt es von ihr eine nicht-sinnliche Intuition?
Die Zeit entzieht sich diesen und anderen ähnlichen Alternativen, sie ist in derartigen Kategorien nicht zu fassen.57
Die Aufgabe muss also sein, passende Ebenen zu finden, mittels derer Zeit und Raum erfasst oder wenigstens beschrieben werden können, auf denen beide stattfinden oder die ihnen zu Grunde liegen. Gleichzeitig stellt sich die Frage nach dem Zusammenhang oder wenigstens der Verbindung von Zeit und Raum.
Eine Ebene, die zumindest mit dem oben angeführten Alltag in Verbindung steht, nämlich Sprache und die zu ihr gehörende Grammatik, zeigt bereits deutlich, wie weit die Sichtweisen auf Zeit und Raum voneinander abweichen können. Vergleicht man, inwieweit Zeit- und Raumaspekte verschiedenen Sprachen als grammatisches Ordnungsmuster zu Grunde liegen, zeigen sich deutlich Unterschiede.
So beinhalten indogermanische Sprachen58, sieht man vom Satzbau als grundsätzlichem, aber bis zu einem gewissen Grad von Sprache zu Sprache variierenden Ordnungsmuster ab, in der Regel zwei Bestimmungsmuster, nach denen sich maßgeblich Sinn und Inhalt eines Satzes entscheiden: Konjugation und Deklination. Während mit der Konjugation unter anderen der zeitliche Charakter eines Satzes bestimmt wird, liegt der räumliche in der Deklination.59 Es macht einen Unterschied für das Verständnis, ob z. B. das Verb sein in seiner reinen Form als Infinitiv erscheint oder in seiner zeitlich konkretisierten Form als ich bin, ich war oder ich werde sein. Damit sind Zeitpunkte bestimmt, in denen das angeführte ich ist. Aber auch Zeitabschnitte oder -räume sind ausdrückbar: ich bin gewesen oder ich werde gewesen sein. Substantiviert man es, erhält man das Sein. Während sein – vor allem eingebunden in einen Satz – dessen zeitlichen Charakter deutlich macht, ist es durch seine Substantivierung räumlich geworden. Das Sein als solches muss etwas sein, das in einem Raum steht, wenn nicht sogar einen einnimmt, damit es gegenständlich sein kann; Das Sein hat man. Dekliniert man dieses Substantiv, erhält man nähere Angaben über seine Räumlichkeit, Antworten auf Fragen wie Wo, Wohin, Woher oder Wozu gehörend.
Ein großer Teil, der für das Verständnis eines Satzes und darüber hinaus eines Textes notwendig ist, spielt sich bereits auf diesen Ebenen ab, was vermuten lässt, dass das den entsprechenden Sprachen zu Grunde liegende Denken zeitliche und räumliche Strukturen aufweist. Dass dies nicht grundsätzlich so sein muss, also nicht als Grundmuster menschlichen Denkens, sondern nur als Struktur eines Denkens, das einer bestimmten Sprache oder Sprachgruppe immanent ist, zeigt sich beim Blick auf andere Sprachen, die entsprechend anders funktionieren.
Besonders das Konzept Zeit wird hier gelegentlich in der Sprache noch stärker differenziert, um verschiedene Ebenen kenntlich zu machen, die vermutlich dann auch nicht als miteinander verbunden aufgefasst werden. Als Beispiel kann hier die Verwendung verschiedener Zeitbegriffe im Griechischen beziehungsweise im Hebräischen stehen. So gilt für Griechisch:
Zunächst erscheinen sie als „chronos”; dieses griechische Wort stammt von der indogermanischen Wurzel „gher” = fassen, packen (vgl. griech. „cheir” = die Hand) und interpretiert Zeit als die alles packende und in ihre Bande schlagende Macht. (…) Dieser Wechsel ist zyklisch, aber nicht in einem strengen Sinn der genauen Wiederholung von Phasen, sondern im Sinne der unberechenbaren Auf- und Abwärtsbewegung des Daseins zwischen Leben und Tod. (…)
Der andere Zeitbegriff heißt „aion” = Lebenszeit, natürliche Spanne eines Lebens. Jedes Lebewesen hat seinen naturbemessenen Aion, auch der Kosmos insgesamt hat seinen Aion, daraus hat sich dann später der griechische Begriff für Ewigkeit entwickelt. Hier wird Zeit als ein spezifisches Maß gesehen, das Lebensstruktur ermöglicht.60
Ergänzend kann hier der Begriff des kairos = der günstige Augenblick genannt werden, der für den Augenblick steht, in dem Entscheidungen sichtbar sind oder getroffen werden sollten oder zumindest können. Im Gegensatz zu chronos und aion handelt es sich hier also um einen Zeitpunkt und keinen Zeitverlauf. Entsprechend gilt für Hebräisch folgendes:
Das Hebräische kennt drei Wörter für Zeit, die jeweils spezifische Aspekte der Zeit beleuchten: ‚et, *olam und ræga. Daneben tritt noch eine zuweilen wichtige Hervorhebung eines Zeitpunktes, der für das göttliche Handeln in der Zeit wichtig ist. Hierfür wird meist in prophetischen Texten das Wort weatta (und nun, (…)) gebraucht. ‚Et meint einen spezifischen Zeitpunkt, der durch ein qualifiziertes Ereignis charakterisiert ist. Ein solches Ereignis kann sowohl im Kontext von Prozessen in der Natur wie auch im Bereich menschlichen Handelns stattfinden. (…) Der zweite Begriff für Zeit *olam wird üblicherweise mit Ewigkeit übersetzt. Er hat allerdings eine etwas speziellere Bedeutung. Er kann sowohl fernste Zeit wie auch, vor allem in späteren Texten, soviel wie Weltzeit, im Sinne eines in sich geschlossenen Zyklus, bedeuten. (…) Der dritte Begriff für Zeit ist ræga. Er bezeichnet einen kurzen Zeitabschnitt, einen Augenblick.61
Offensichtlich lassen sich keine Rückschlüsse auf eine Vorstellung der Zeit an sich finden. Eine abstrakte Vorstellung der Zeit scheint nicht zu existieren. Vielmehr sind die oben genannten Begriffe immer im Zusammenhang mit Handlungen und damit in einem konkreten das tägliche Leben der Hebräer betreffenden Kontext zu verstehen. Immer sind bestimmte Ereignisse und Aktivitäten die Grundlage für die Verwendung dieser drei Zeitbegriffe, womit das hebräische Zeitverständnis eindeutig handlungsorientiert ist. Interessant ist aber, dass sich hieraus ein Zusammenhang von zeitlicher und räumlicher Vorstellung ablesen lässt, da immerhin die Zuordnung der Zeitformen zu jeweiligen Handlungen gerade durch die Handlungsebene gleichzeitig eine Zuordnung von Räumlichkeit mit sich führt.
Im Japanischen dagegen fallen grammatische Phänomene wie Konjugation und Deklination weg. Die erzählte Zeit bzw. der erzählte Raum wird nicht grammatisch geklärt, sondern eröffnet sich ausschließlich aus dem Kontext des Erzählten. Dafür ergeben sich andere Besonderheiten, die hier interessant sind. So berichtet Roland Barthes, dass Japanisch „[w]ie viele anderen Sprachen auch (...) zwischen Belebten (Mensch und/ oder Tier) und Unbelebten, und zwar insbesondere auf der Ebene der verschiedenen Verben für sein”62 unterscheidet. Hier eröffnet sich aber, nicht zuletzt auch in der Betrachtung von Raum und Zeit, eine neue Ebene, die über grammatische Grundstrukturen von Sprachen hinausgeht.
Ein Traum: eine fremde (befremdliche) Sprache kennen und sie dennoch nicht verstehen: in ihr die Differenz wahrnehmen, ohne dass diese Differenz freilich jemals durch die oberflächliche Sozialität der Sprache, durch Kommunikation oder Gewöhnlichkeit eingeholt und eingeebnet würde; in einer neuen Sprache positiv gebrochen, die Unmöglichkeiten der unsrigen erkennen; die Systematik des Unbegreifbaren erlernen; unsere „Wirklichkeit” unter dem Einfluss anderer Einteilungen, einer anderen Syntax auflösen; unerhörte Stellungen des Subjekts in der Äußerung entdecken, deren Topologie verschieben; mit einem Wort, ins Unübersetzbare hinabsteigen und dessen Erschütterung empfinden, ohne es je abzuschwächen, bis der ganze Okzident in uns ins Wanken gerät und mit ihm die Rechte der Vatersprache, der Sprache, die wir von unseren Vätern erben und die uns wiederum zu Vätern und Besitzern einer Kultur macht, welche die Geschichte gerade in „Natur” verwandelt. Wir wissen, dass die Hauptbegriffe der aristotelischen Philosophie in gewisser Weise durch die Fügungen...
Erscheint lt. Verlag | 5.6.2024 |
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Verlagsort | Ahrensburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft ► Anglistik / Amerikanistik |
Schlagworte | Differance • Kultur • Literatur • Moderne • Physik • Postmoderne • Quanten • Raum • Relativitätstheorie • Sprache • Zeit |
ISBN-10 | 3-384-25178-4 / 3384251784 |
ISBN-13 | 978-3-384-25178-7 / 9783384251787 |
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