Sufismus und Mystik in der Seelsorge -  Zeynel Abidin Zorbulut

Sufismus und Mystik in der Seelsorge (eBook)

Muslimische Seelsorge
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
134 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-7398-2 (ISBN)
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Sufismus- ein umfassendes und tiefgründiges Handwerkzeug um den betroffenen Hilfesuchenden ihr spirituelles Gleichgewicht wiederzugeben. Die heutige muslimische Seelsorge wurde zum größten Teil, von der christlichen Seelsorge ausgehend aufgebaut. In der Praxis fehlen aber praktische anwendbare Wege und Lösungen, die auch die muslimische Tradition und Sichtweise spiegeln. Das Jahrhunderte Alte Vermächtnis des Sufismus, bietet eine breite gesegnete Vielfalt an Ideen um dem gebeutelten, ausweglosen Mensch zu helfen. Für die Seelsorge ist es Sufismus (Tasawwuf) deshalb eine große Bereicherung und Ergänzung.

Zeynel Abidin Zorbulut geboren 1960 in Gaziantep/Türkei. Theologe. Masterstudium an der Universität Tübingen in der islamischen praktischen Theologie für Seelsorge und soziale Arbeit. Tätig als Klinikseelsorger seit 2016 und als Gefangenenseelsorger seit 2017. Speziell auch ausgebildet und tätig in der Psychiatrieseelsorge.

1.1 Der Sufismus


Raid Al-Daghistani betrachtet etymologisch den Begriff „Sufismus“ von unterschiedlichen Wurzeln:

1. Sufismus (arab. taawwuf) kommt von ūf, was auf Arabisch „Wolle“ bedeutet. Taawwafa heißt somit „sich dem Sufismus widmen“ bzw. „sich in Wolle kleiden“.

2. Sufismus stammt aus safā, was auf Arabisch „Reinheit“ bedeutet. Demnach sind Sufis diejenigen, die „reinen Herzens“ sind.

3. Sufismus kommt aus dem Wort aff, das auf Arabisch „Reihe“ bedeutet. Die Sufis sind diejenigen, die mit ihren Herzen in der ersten Reihe stehen (a-affal- awwal), insofern sie bei Gott gegenwärtig sind.

4. Sufismus wird aus dem Wort uffa abgeleitet, das diejenigen bezeichnet, die zu aab a-uffa gehören. Mit aab a-uffa ist eine Gruppe der Gefährten des Propheten Mohammeds (Friede sei auf ihm) gemeint, die in Armut in einer Moschee lebten und sich intensiv dem Beten und Gottgedenken widmeten.8

Sufismus ist von seinem konzeptionellen Ursprung her die Bezeichnung eines Prozesses, der mit einem geneigten und willigen Diener beginnt, der bereit ist sich mit einem festen Weg/Sufi-Orden (Tariqat) zu verbinden, durch den er die Religion des Islam im Wesentlichen praktisch lernen kann. Es bedeutet also, dass man sich - begleitet von einem Muršhīd (Sufimeister)9 oder einem perfekten Führer (Begleiter)- auf das bewusste Leben nach dem Tod vorbereitet, indem man die Welt, das Leben, das Dasein und die Religion richtig wahrnimmt. Aus diesem Ansatz geht hervor, dass das primäre Ziel der Religion der Glaube ist. Der Ort des Glaubens ist im Herzen. Der Hauptzweck des Sufismus ist es, tiefes Glaubenswissen zu erlangen. Indem das Herz im Gleichgewicht mit dem Koran und der Sunna10 reingehalten wird und man Schritt für Schritt Allah (Gott) kennenlernt. Dadurch steigert und erhebt man sich zur Position eines perfekten Menschen (Insan-i Kamil). Um dieses erhabene Ziel zu erreichen, bietet der Sufismus verschiedene Methoden und Wege, die das Herz arbeiten und sich entwickeln lässt. Mit einem nüchternen und aufgeweckten Geist und spirituell geschärften Emotionen segelt man unter dem Banner der göttlichen Namen und der Eigenschaften Gottes, zu Dimensionen voller Geheimnisse und Enthüllungen. Je länger und intensiver diese Reise andauert, umso mehr nähert der Reisende sich den Buchten der Wahrheit. Die Wahrheiten, die nichts anderes sind als das reine, klare und transzendente (übersinnliche) Wissen Allahs, das auch die Grenzen des Selbst im Licht des Korans und der Sunna erleuchtet. Mit anderen Worten, durch das Erreichen des Ihsan Bewusstseins (die Gewissheit und das Bewusstsein, dass Allah uns jeden Moment sieht) erlebt der Diener auf der Ebene des „haqq al-yaqin“ (der Wahrheit der Gewissheit)11 das, was die von Allah im Koran beschriebene Verantwortung der Dienerschaft ist und bewahrt dies in seinem Herzen mit seiner ganzen Lebendigkeit.

Der Sufismus wird oft auch die Wissenschaft des Herzens genannt, so wie auch Raid Al-Daghistani in seinem Werk Epistemologie des Herzens beschreibt:

„[…] Der Sufismus als die Wissenschaft vom Inneren befasst sich mit den ‚inneren Handlungen‘ des spirituellen Weges, [d. h. mit den inneren Stationen und Zuständen]. Die inneren Handlungen sind gleichsam die Handlungen des Herzens.“12

Was genau mit inneren Handlungen gemeint ist, erklärt Raid Al-Daghistani durch die Aussagen von As-Sarrāǧ vertiefend noch wie folgt:

„Wenn wir Wissenschaft des Inneren sagen, meinen wir damit die Wissenschaft von den inneren Handlungen, die das innere Organ betreffen, nämlich das Herz.“ Die inneren Handlungen sind: der Glaube, die Reue, die Gewissheit, die Ehrlichkeit, die Aufrichtigkeit, die Geduld, das Gedenken, die Achtsamkeit, die Ehrfurcht, die Sehnsucht, die Ekstase, die Verherrlichung, die Überwältigung, die Erkenntnis und die Liebe. Doch die inneren Handlungen sind mit den äußeren Taten verbunden. So hebt as-Sarrāǧ hervor: „Das Äußere kann nicht ohne das Innere sein, das Innere nicht ohne das Äußere.“13

Außerdem hebt Daghistani noch die Sichtweise von al-Ġazālī hervor, der sagt das:

„[…] Erfolg und Heil nicht anders zu erreichen sind, als durch Wissen und Handeln gemeinsam.“14

Es geht im Sufismus also nicht nur um die strikte Befolgung bestimmter Regeln, sondern um die Verinnerlichung bestimmter Charakterzüge, die durch wiederholte Übungen anzueignen sind. Hierbei sind die reine Absicht und das wahre Wissen unzertrennliche Instrumente, um zum vollkommenen Menschen zu werden. Alle Maqamat (Stufen) und Ahwal (Stimmungen) sind nur Stufen, um zum eigentlichen Ziel der Vervollkommnung zu gelangen. Diesen Wandel von Stufe zu Stufe, von Stimmung zu Stimmung beschreibt Daghistani in seinem Werk mit diesen Worten:

„Das Innere und das Äußere sind im Sufismus zwei untrennbare Dimensionen. Die Verwandlung der persönlichen Eigenschaften und die Verbesserung der Handlungsweisen können nur durch wahres Wissen, innere Erfahrung und reine Absicht der Handlung erlangt werden. […] Der Sufismus als Weg (ṭarīqa) der Erkenntnis und der spirituellen Vervollkommnung des Menschen ist ein initiatischer Weg (bzw. Initiationsweg) mit zahlreichen geistigen Stationen (maqāmāt) und Zuständen (awāl). Die muslimischen Mystiker entwickelten hierfür verschiedene spirituelle Techniken, die dem Suchenden auf seinem mystischen Weg helfen, die höheren geistigen Stufen15 zu erlangen. Indem der Mensch von einer spirituellen Station (maqām) zur anderen gelangt, wandelt er auch durch verschiedene innere Zustände (awāl). Jede geistige Station wird von einem bestimmten seelischen Zustand begleitet, der als religiöses Gefühl und existenzielle Stimmung verstanden werden kann. Die geistigen Stationen sind die erreichten Stufen auf dem mystischen Weg. Die seelischen Zustände sind dagegen Stimmungen, Gefühle, innere Einstellungen und Erlebnisse, die die Stufen begleiten.“16

Diese Anwendungen und Erfahrungen sind jedoch bewusst auf ein einziges Ergebnis auf dem Weg des Sufismus ausgerichtet, nämlich das Verständnis der transzendenten Wahrheiten, deren Rahmen im Koran und in der Sunna festgelegt sind. Bediuzzaman Said Nursi erzählt und beschreibt diesen Ansatz im Sufismus mit dem Ausdruck von Imam Rabbani, einem der berühmten Sufi-Meister, in seinem Werk „Die Briefe“:

„[…] Imam-i Rabbani (r.a),17 der Held und die Sonne des Silsile-i Nakshi (Nakschibend18 Kette), sagte in seinem Brief: „Das letztendliche Ziel aller sufistischen Orden, ist die Klarheit und Entwicklung des wahren Glaubens.“ Er sagte auch: "Ich ziehe die Entwicklung, Vertiefung und Enthüllung einer Angelegenheit des Glaubens zu Tausenden dem mystischen Schmecken, der Ekstase und Karā-māts19 vor."20

Angesichts all dieser Erklärungen kann gesagt werden, dass der Sufismus eine Einzigartigkeit (sui generis/einzigartig in seinen Eigenschaften, von einer eigenen Kunst) in Bezug auf Bedeutung und Verwendung hat. Prof. Dr. Mustafa Tahralı zitiert diese Erkenntnisse von René Guénon in einem Artikel zu diesem Thema in einem Artikel in der Kubbealtı Akademi:

„[…] Renè Guénon21 sagt: Dass der Sufismus eine praktizierte aktive Methode hat, dass sie unter Führung und Leitung eines Sheikh/ Muršhīd steht, dass die Linie aller Führenden Muršhīd bis zum Propheten reichen, dass der mystische Weg (tariqa), den die Person betritt, seinem Verständnisniveau, seinem Empfinden entspricht, dass Regeln, Voraussetzungen und Dhikr vorhanden sind. All das zeigt uns, dass der Sufismus sich völlig von der Mystik unterscheidet und eine ganz andere Lebensart darstellt.22

Das Phänomen des Sufismus gibt jedem, der die Fähigkeit und Ausrüstung von Natur aus hat, die Möglichkeit, über transdimensionale Kanäle göttliche Kenntnis (Ma`rifa)23 zu erlangen. Vor allem ist Mystik ein magischer Hafen, um aus dem Traum im weltlichen Leben zu erwachen, indem man die transzendenten Wahrheiten atmet. Die weltrenommierte Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel definiert in ihrem Buch „Sufismus“ diese Besonderheiten deutlich, wie folgt:

„Wenn man ihn [den Sufismus] beschreiben will, steht man bald vor einem blühenden Garten mit duftenden Rosen und klagenden Nachtigallen, die zu Symbolen für die göttliche Schönheit und die Sehnsucht der Seele werden, bald vor einer Wüste theoretischer, dem Uneingeweihten kaum verständlicher Abhandlungen in überaus...

Erscheint lt. Verlag 6.8.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft
ISBN-10 3-7597-7398-2 / 3759773982
ISBN-13 978-3-7597-7398-2 / 9783759773982
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