Die Macht der Rechtfertigung (eBook)

Perspektiven einer kritischen Theorie der Gerechtigkeit
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2024 | 1., Originalausgabe
628 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-77932-3 (ISBN)

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Die Macht der Rechtfertigung -
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Mit der Idee eines grundlegenden »Rechts auf Rechtfertigung« hat Rainer Forst eine kraftvolle Denkfigur entwickelt, deren Fruchtbarkeit für das konkrete Geschäft einer kritischen Analyse des Sozialen immer deutlicher wird. Sein Werk hat tiefe Spuren in der Philosophie und Sozialtheorie, aber auch in der politischen Diskussion der Gegenwart hinterlassen und umfasst pointierte Stellungnahmen zu Fragen der Moral und Gerechtigkeit, zu Macht, Toleranz und Freiheit. Der Band versammelt Beiträge namhafter internationaler Denker:innen, die sich mit den vielfältigen Aspekten von Forsts Werk auseinandersetzen und damit zugleich einen Einblick in die neuesten Entwicklungen innerhalb der Kritischen Theorie geben.



Mahmoud Bassiouni ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zuletzt erschien: <em>Menschenrechte zwischen Universalität und islamischer Legitimität</em> (stw 2114). Eva Buddeberg ist Professorin für Praktische Philosophie an der Bergischen Universität Wuppertal. Zuletzt erschien: Pierre Bayle, <em>Toleranz. Ein philosophischer Kommentar</em> (stw 2183, hg. zus. mit Rainer Forst). Mattias Iser ist Associate Professor of Philosophy an der Binghamton University (SUNY), New York. Anja Karnein ist Associate Professor of Philosophy an der Binghamton University (SUNY), New York. Zuletzt erschien: <em>Zukünftige Personen. Eine Theorie des ungeborenen Lebens von der künstlichen Befruchtung bis zur genetischen Manipulation</em> (stw 1986). Martin Saar ist Professor für Sozialphilosophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Zuletzt erschien: <em>Die Immanenz der Macht. Politische Theorie nach Spinoza</em> (stw 2054).

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Mahmoud Bassiouni, Eva Buddeberg, Mattias Iser, Anja Karnein und Martin Saar

Einleitung


Die Frage, welche Grundbegriffe und Ansatzpunkte zur Gesellschaftskritik nötig sind, begleitet die Kritische Theorie seit Marx und Horkheimer. In den letzten drei Jahrzehnten hat Rainer Forst einen eigenständigen Vorschlag innerhalb dieser Tradition in Form einer Gerechtigkeitstheorie ausgearbeitet, in dessen Zentrum der Begriff der Rechtfertigung steht. Er versteht die Forderung nach Gerechtigkeit als die nach einem zwischenmenschlichen Verhältnis, in dem Beteiligte verpflichtet sind, einander gute Gründe zu geben, wenn sie allgemein verbindliche Normen und Institutionen etablieren wollen. Auch deskriptiv begreift Forst soziale und politische Ordnungen als institutionalisierte Rechtfertigungsordnungen, insofern ihre geltenden Normen und Institutionen faktisch immer schon von bestimmten Rechtfertigungen getragen und mit dem zumindest impliziten Anspruch auf Rechtfertigbarkeit aufrechterhalten werden. Dabei vermag eine kritische Analyse solcher Rechtfertigungsordnungen und der hierin herrschenden sozialen und politischen Verhältnisse aufzudecken, dass sie oftmals gerade nicht auf guten, sondern auf konventionellen, instrumentellen oder ideologischen Rechtfertigungen beruhen, die existierende Beherrschungsverhältnisse – seien sie politischer, ökonomischer, kultureller oder religiöser Art – lediglich kaschieren.

Das kritische Anliegen, solche Verhältnisse aufzudecken und als nicht rechtfertigbar auszuweisen, erfordert also zum einen eine gesellschaftstheoretische Rahmung, die die empirische Macht existierender Rechtfertigungen samt all ihren Strukturen und (Re-)Produktionsmechanismen in den Mittelpunkt rückt. Zum anderen verlangt es, auf normativer Ebene zu bestimmen, was aus welchen Gründen und in welchen Kontexten als gute Rechtfertigung gelten kann. Für beide Untersuchungen ist somit der Begriff der Rechtfertigung zentral, den Forst explizit als »Vermittlungsbegriff« bezeichnet. Er soll es erlauben, »politische Ordnungen und ihre Dynamiken deskriptiv zu analysieren und zugleich normative 10Überlegungen entlang derselben konzeptuellen Bahnen anzustellen, wie sie der empirischen Arbeit zugrunde liegen«.[1] 

Sein gesellschaftskritisches Potential gewinnt der Rechtfertigungsbegriff dabei aus der Spannung, die sich zwischen dem faktisch Gerechtfertigten und dem normativ Rechtfertigbaren auftut. Ganz in der Tradition der Frankfurter Schule schreibt Forst seiner eigenen Theorie dabei ein dezidiert emanzipatorisches Interesse zu.[2]  Dieses auf gleiche Rechtfertigungsmacht zielende Interesse kann das wichtigste normative Motiv sozialer und politischer Kämpfe freilegen: Unabhängig von ihren konkreten Zielsetzungen entstehen soziale Bewegungen Forst zufolge genau dort, wo sich Menschen, die sich als »Rechtfertigungswesen« begreifen lassen, über Verhältnisse oder Regeln empören, die sie als willkürlich erfahren und gegenüber denen sie ein »Vetorecht« einklagen – das Recht, »Nein« zu sagen.[3] 

Es ist diese in spezifischen sozialen und politischen Kämpfen zum Ausdruck kommende normative Grammatik der Gerechtigkeit und des gleichen Respekts, die Forst theoretisch beschreiben und erläutern will.[4]  Dies ist nicht nur ein Beitrag dazu, Emanzipa11tions- und Widerstandsbewegungen über sich selbst aufzuklären, sondern auch dazu, einen Gesichtspunkt zur Geltung zu bringen, der im zeitgenössischen Diskurs über Gerechtigkeit oftmals aus dem Blick gerät. Dieser wird nämlich bisweilen von einem wirkmächtigen Bild »gefangen« gehalten, das Gerechtigkeit primär als Frage der Verteilung von und Versorgung mit bestimmten Gütern versteht.[5]  Obwohl Forst die Relevanz dieser Frage keineswegs bestreitet, kritisiert er an dieser güter- und verteilungszentrierten Sichtweise, dass sie die vorgelagerte und daher grundlegendere Frage ausblendet, in welchen Macht- und Herrschaftsverhältnissen die betreffenden Güter überhaupt erst produziert und zur Verteilung bereitgestellt werden und in welchen Abhängigkeitsbeziehungen die Produzent:innen und Empfänger:innen zueinander stehen. Genau diese Frage steht im Mittelpunkt eines alternativen, kritischen Bilds von Gerechtigkeit, das sich in sozialen Widerstandskämpfen immer wieder zeigt: Forderungen nach Gerechtigkeit sind hier nicht primär vom Wunsch getragen, mehr von etwas zu haben, sondern in erster Linie vom Anspruch bestimmt, als jemand zu gelten, über den man nicht wie über eine »Sache« verfügen, den man nicht einfach ignorieren oder übergehen kann, sondern dem man Gehör und gute Gründe schuldet, wenn darüber entschieden wird, wem was zusteht und wer was zu tun berechtigt ist. Forsts kritische Theorie der Gerechtigkeit untersucht also in erster Linie die asymmetrischen Macht- und Herrschaftsverhältnisse, die einige Personen in ihrer Beziehung zu anderen als unterschiedlich wertvoll und zur sozialen Teilhabe und politischen Mitbestimmung berechtigt ausweisen. Damit verletzen sie den Anspruch mancher Personen, als Gleichgestellte und Gleichberechtigte zu gelten, denen man auf Augenhöhe begegnen muss. Den Fluchtpunkt emanzipatorischer Kämpfe und Konflikte bildet somit die Forderung, dass jede und jeder als ebenbürtige normative Autorität mit einem fundamentalen Recht auf Rechtfertigung respektiert wird.

Personen als sozial konstituierte und situierte Wesen leben und handeln in verschiedenen Kontexten, in denen das Recht auf Rechtfertigung unterschiedliche Formen annimmt. So unterscheidet Forst bereits in seiner ersten, aus seiner Dissertation hervorgegangenen Monographie zwischen vier Kontexten der Gerechtig12keit beziehungsweise der wechselseitigen Rechtfertigung, nämlich der Moral, der Ethik, dem Recht und der Politik, deren jeweilige Rechtfertigungsanforderungen »rekursiv« daraus folgen, was Menschen in diesen spezifischen Kontexten wechselseitig tatsächlich an Ansprüchen erheben.[6] 

Weil moralische Ge- und Verbote kategorisch für alle Vernunftwesen gelten, besteht im moralischen Kontext die Rechtfertigungspflicht gegenüber allen anderen. Aus diesem Anspruch moralischer Normen lassen sich zwei generelle Kriterien rekonstruieren, nämlich das der Reziprozität und das der Allgemeinheit. Mit Blick auf das erste Kriterium unterscheidet Forst nochmals zwischen der Reziprozität der Inhalte und der Reziprozität der Gründe. Die Reziprozität der Inhalte besagt, dass niemand für sich in Anspruch nehmen darf, was anderen verweigert wird, etwa wenn jemand für sich selbst das Recht beansprucht, eine selbstgewählte Religion zu praktizieren, dieses Recht aber einer anderen Person abspricht. Die Reziprozität der Gründe verlangt dagegen, dass niemand die eigenen, stets perspektivischen Gründe ohne Prüfung, ob diese Gründe von anderen geteilt werden können, für andere verbindlich machen darf. Das Kriterium der Allgemeinheit fordert schließlich, die Interessen und Einwände aller betroffenen Personen einzubeziehen, wobei »die Gründe, die eine Norm legitimieren sollen, von allen Personen geteilt werden können müssen«.[7] 

In der Akzeptanz eines solchen »Rechts auf Rechtfertigung« des konkreten Gegenübers, dem eine »unbedingte Pflicht zur Rechtfertigung« korrespondiert, manifestiert sich nach Forst die »praktisch[e] Einsicht zweiter Ordnung« in eine »ursprüngliche Verantwortung«, die Menschen anderen gegenüber »schlechterdings« 13haben.[8]  Diese fundamentale Einsicht ist, anders als die spezifischen Normen, zu denen sie in der dialogischen Auseinandersetzung mit anderen führt, nicht konstruiert, sondern rekonstruiert, weil sie jeder zwischenmenschlichen Praxis als moralische Tiefengrammatik eingeschrieben ist. Die Frage »Warum moralisch sein?« lässt sich also nicht mit außermoralischen Gründen, etwa dem Bezug auf das gute oder gelingende Leben, beantworten; solche Bezüge verfehlen sogar die eigentliche Pointe und Autonomie der Moral. Der Grund der Moral liegt vielmehr, strikt deontologisch gedacht, in der Art und Weise, in der sich moralische Subjekte begegnen, nämlich als einander wechselseitig Respekt und Rechtfertigung schuldende Wesen.[9] 

Im Anschluss insbesondere an die Habermas’sche Diskursethik...

Erscheint lt. Verlag 12.8.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte aktuelles Buch • Bücher Neuererscheinung • Kritische Theorie • Neuererscheinung • neues Buch • Rainer Forst • Recht auf Rechtfertigung • STW 2472 • STW2472 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2472
ISBN-10 3-518-77932-X / 351877932X
ISBN-13 978-3-518-77932-3 / 9783518779323
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