Das falsche Leben (eBook)

Schuld, Scham und die Grenze moralischer Freiheit
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
200 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45953-0 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Das falsche Leben -  Gianluca Cavallo
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»Es gibt kein richtiges Leben im falschen«: Das berühmte Adorno-Diktum bringt die eigene Verstrickung in das Böse und Schlechte zum Ausdruck. Das Subjekt fühlt sich schuldig, weil es weiß, was es anders und besser machen könnte. Aber zu welchem Preis? Ist dieser Preis moralisch akzeptabel? Lässt sich das falsche Leben nicht vielleicht rechtfertigen? Dies sind die Fragen, die dieses Buch auf Grundlage der Lektüre Adornos aufwirft. Da sie keine eindeutige Antwort zulassen, stellt sich bald eine weitere: Wie geht das Subjekt mit dieser moralischen Unsicherheit um? Gianluca Cavallo konzeptualisiert Schuld und (moralische) Scham neu, damit sie nicht mehr als Versagen erlebt werden, sondern als Gefühle, welche die Grenze unserer moralischen Freiheit wahrnehmbar machen - eine Grenze, die wir zu akzeptieren lernen sollten.

Gianluca Cavallo promovierte in Sozialphilosophie an der Universität Frankfurt am Main mit einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes.

Gianluca Cavallo promovierte in Sozialphilosophie an der Universität Frankfurt am Main mit einem Stipendium der Studienstiftung des deutschen Volkes.

Einleitung


In der Moralphilosophie wird meistens von der Fiktion eines Subjekts ausgegangen, das durch Reflexion die Fähigkeit besitzt, nach bestimmten Prinzipien zu handeln. Moralische Konflikte oder Dilemmata werden als zufällige Konflikte betrachtet, die die grundsätzliche Fähigkeit, richtige Entscheidungen zu treffen, nicht wesentlich beeinträchtigen. Die alltägliche Erfahrung zeigt jedoch, wie schwierig es ist, moralische Entscheidungen zu treffen, da wir in den meisten Fällen keine vollständige Kontrolle über die Umstände unseres Handelns haben und daher gezwungen sind, uns daran anzupassen. Immer wieder erkennen wir, wie stark unsere moralische Freiheit eingeschränkt ist. Eine Kundenrezension von Friedrich von Borries Roman »RLF: Das richtige Leben im falschen« auf Amazon veranschaulicht diese Erfahrung sehr gut (ja, ich benutze diese Webseite, um mich über Bücher zu informieren):

Das richtige Leben im Falschen: Das war so eine der Fragen, die man sich im Studium stellte, als die Aussicht auf eine dauerhafte Erwerbstätigkeit wie ein Verrat an sich selbst erschien, wie ein Ausverkauf der Werte und der Selbstbestimmtheit.

Studierende der heutigen Generation stellen sich dieselbe Frage, wie ein 2018 in Frankreich veröffentlichtes Manifest verdeutlicht: »Wenn wir unseren ersten Job annehmen, müssen wir oft feststellen, dass das System, an dem wir dort teilhaben, mit unseren Überzeugungen nicht vereinbar ist und uns in tägliche Widersprüche führt«.1 Ähnliche Gedanken finden sich im Transkript einer Vorlesung von Adorno: Wenn man »eine Arbeit zu finden hofft, die nun wirklich seiner eigenen Bestimmung und seiner eigenen Fähigkeit gemäß ist«, »[beißt man] sofort auf Granit«, denn das, was man dann tatsächlich tun muss »eigentlich gar nicht seine eigene Sache ist« (NS13: 28-29).2

»Es gibt kein richtiges Leben im falschen« (GS4: 43):3 Mit diesem berühmten Satz beschrieb der Philosoph des beschädigten Lebens die Erfahrung eines »Verrats an sich selbst«, wie die Amazon-Kundin schreibt, in anderen Worten: Die Erfahrung eines Zwiespalts zwischen dem, wie man lebt, und dem, wie man glaubt leben zu sollen. Adornos Moralphilosophie gibt die abstrakte Fiktion eines freien Subjekts auf und führt uns schonungslos die Unmöglichkeit vor Augen, hier und jetzt ein richtiges Leben zu führen, ohne jedoch auf Kritik zu verzichten. Im Gegenteil: Gerade die Erfahrung dieser Unmöglichkeit motiviert und begründet die Kritik. Durch das Leiden, kein richtiges Leben führen zu können, erkennen wir, dass nicht nur unser Leben, sondern auch »das Ganze« (GS4: 44), in dem wir leben und das unsere Freiheit einschränkt, falsch ist. Die Erfahrung des Leidens, wie wir später sehen werden, ist die Erfahrung der Nicht-Identität zwischen Individuum und Gesellschaft. Das Individuum wird gezwungen, sich selbst zu verraten, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Wenn das Individuum sich hingegen durch gesellschaftliche Teilhabe selbst verwirklichen würde, gäbe es keinen Grund für Kritik. In welchem Sinne aber leiden wir darunter, kein richtiges Leben führen zu können? Adorno beschreibt dieses Leiden als eine narzisstische Verletzung (NS13: 110), denn die Ideale, die unserer Vorstellung von richtigem Leben zugrunde liegen und unsere Kritik motivieren, sind Bestandteil unserer Eigenidentität. Wenn wir daran scheitern, diese Ideale in unserem Handeln zu verkörpern, dann müssen wir erkennen, dass wir nicht die Menschen sind, die wir gerne wären. Hierin liegt die narzisstische Verletzung. Die Psychologie lehrt uns, dass eine solche Erfahrung Schamgefühle hervorruft (Piers 1971). Adorno ist kein Psychologe, und das ist möglicherweise der Grund, warum er kaum von Scham, sondern viel häufiger von Schuld spricht. Schuld und (moralische) Scham4 sind jedoch nicht nur psychologisch, sondern auch begrifflich eng miteinander verknüpft. Eine Person fühlt sich schuldig, wenn sie glaubt, einen moralischen Wert verletzt zu haben. Wenn sie aber diesen Wert internalisiert hatte, dann ist er Bestandteil ihrer Eigenidentität. Den Wert zu verletzen bedeutet also gleichzeitig, ein ein Idealbild von sich selbst zu verfehlen. Die Person schämt sich, gegen einen für sie bedeutsamen Wert verstoßen zu haben, da dies bedeutet, dass sie ihrem Ichideal nicht gerecht wird. Die These, dass wir daran leiden, kein richtiges Leben führen zu können, bedeutet also, dass wir uns deswegen schämen bzw. schuldig fühlen.

Die psychologische Dynamik dieses Leidens wird im zweiten Teil dieses Buches behandelt. Zuvor möchte ich im ersten Teil mit Adorno für die Plausibilität der Idee argumentieren, dass ein falsches Leben ein schuldiges (und beschämendes) ist. In der Negativen Dialektik behauptet Adorno, dass das Subjekt sich schuldig fühlen »muss«, weil es zwangsläufig in seinem moralischen Bestreben scheitert:

Je mehr Freiheit das Subjekt, und die Gemeinschaft der Subjekte, sich zuschreibt, desto größer seine Verantwortung, und vor ihr versagt es in einem bürgerlichen Leben, dessen Praxis nie dem Subjekt die ungeschmälerte Autonomie gewährte, die es ihm theoretisch zuschob. Darum muß es sich schuldig fühlen. (GS6: 220)

Wie genau ist aber dieses »muss« zu verstehen? Es gibt drei mögliche Auslegungen. Wenn man den zitierten Abschnitt als Kritik betrachtet, bedeutet dies, dass die Moral dem Subjekt ideologisch eine Freiheit zuschreibt, die es in Wirklichkeit nicht besitzt. Daher sollte Schuld als unterdrückend abgelehnt werden. Wenn man »muss« in einem normativen Sinne liest, impliziert der zitierte Abschnitt, dass das Subjekt sich seiner eigenen Schuld bewusst werden muss, um sein eigenes Versagen und die gesellschaftlichen Ursachen dahinter zu erkennen. Schließlich kann »muss« deskriptiv verstanden werden: Dann besagt die zitierte Passage, dass das Subjekt nicht umhin kann, sich schuldig zu fühlen, Mit anderen Worten., Menschen fühlen sich tatsächlich schuldig, weil sie ihrer Verantwortung nicht gerecht werden können. Ich präsentiere alle drei Interpretationen nicht, um meine hermeneutische Arbeit für die Leser_innen zu rekonstruieren, sondern weil ich davon überzeugt bin, dass die Einbeziehung dieses Abschnitts in Adornos Gesamtwerk zeigt, dass alle drei gleichzeitig zutreffend sind. Die kritische und die normative Auslegung bilden die Pole von Adornos dialektischem Verständnis der Moral. Demnach ist Moral immer in gewisser Weise einschränkend und unterdrückend, weil sie die Spontaneität menschlicher Impulse zähmt. Sie ist außerdem überfordernd und frustrierend, weil sie dem Subjekt stets etwas abverlangt, was seine Handlungsfähigkeit übersteigt. Sie birgt aber gleichzeitig ein Freiheitsversprechen, da sie das Bild endlich humaner Beziehungen zwischen Menschen aufblitzen lässt. Dementsprechend ist das Schuldgefühl zugleich abzulehnen, weil es auf der ideologischen Annahme realer Freiheit beruht, und anzunehmen, weil es auf der unverzichtbaren Idee möglicher Freiheit beruht und es uns ermöglicht, die unfreie Gesellschaft durch die Erfahrung moralischer Unfreiheit zu kritisieren.5 Die »deskriptive« Interpretation stützt sich hauptsächlich auf bestimmte Passagen aus Vorlesungen, in denen Adorno die Erfahrungen der Studierenden ansprach. Besonders deutlich ist eine Passage aus der Metaphysik-Vorlesung. Dort behauptet der Frankfurter Professor, dass man sich dem Schuldgefühl nicht entziehen könne, »wenn man nicht ganz stumpf sich macht« (NS14: 176). Man könne aus eigener Erfahrung ganz genau wissen, worin diese Schuld bestehe, obwohl sie nicht auf eine treffende Definition gebracht werden könne.

Die kritische Lesart bereitet keinerlei Schwierigkeiten. Die Idee, dass Schuld nur dann besteht, wenn der moralische Verstoß hätte vermieden werden können, ist in der Philosophie allgemein akzeptiert und intuitiv verständlich. Wenn man unfrei ist und daher den Verstoß nicht vermeiden kann, gilt man als unschuldig. Obwohl man sich trotzdem schuldig fühlen kann, ist diese Reaktion irrational, da es eigentlich keinen Grund gibt, sich schuldig zu fühlen. Darüber hinaus bietet die kritische Interpretation einen Einblick in die gesellschaftlichen Ursachen für moralisches Versagen. Das Individuum scheitert, weil soziale Strukturen seinen Handlungsspielraum stark einschränken. Freiheit wird lediglich als Ideologie betrachtet, die die Auswirkungen der Gesellschaft auf das Individuum...

Erscheint lt. Verlag 20.11.2024
Reihe/Serie Philosophie & Kritik
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Allgemeines / Lexika
Schlagworte Anthropologie • Arbeitsphilosophie • Kritische Theorie • moralische Scham • Motivation für Widerstand • Passive Unterwerfung • soziale Konflikte • Soziale Pathologien • soziale Scham • Sozialphilosophie • Theorie der Scham • Wirtschaftsphilosophie
ISBN-10 3-593-45953-1 / 3593459531
ISBN-13 978-3-593-45953-0 / 9783593459530
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