Wenn Tiere kämpfen und Menschen Kriege führen (eBook)
272 Seiten
FinanzBuch Verlag
978-3-98609-556-7 (ISBN)
Boris Cyrulnik ist ein international anerkannter Neuropsychiater und führender Verfechter der Resilienztheorie, die besagt, dass wir viel besser in der Lage sind, traumatische Ereignisse in unserem Leben zu überwinden, als wir uns vorstellen können. Er arbeitet mit Völkermordopfern in Ruanda und Kindersoldaten in Kolumbien und reist um die Welt, um Menschen und Ländern zu helfen, ihre Vergangenheit zu bewältigen und positive neue Perspektiven zu schaffen. Er ist Autor zahlreicher Bücher, die große Beachtung fanden und vielfach übersetzt wurden.
Boris Cyrulnik ist ein international anerkannter Neuropsychiater und führender Verfechter der Resilienztheorie, die besagt, dass wir viel besser in der Lage sind, traumatische Ereignisse in unserem Leben zu überwinden, als wir uns vorstellen können. Er arbeitet mit Völkermordopfern in Ruanda und Kindersoldaten in Kolumbien und reist um die Welt, um Menschen und Ländern zu helfen, ihre Vergangenheit zu bewältigen und positive neue Perspektiven zu schaffen. Er ist Autor zahlreicher Bücher, die große Beachtung fanden und vielfach übersetzt wurden.
Vorwort
»Vierzig Diebe unter Liebesentzug« (so der französische Originaltitel dieses Buches, Quarante voleurs en carence affective): Das ist provokant, das klingt nicht ernst gemeint. Sie wollen doch wohl nicht behaupten, dass es reichen würde, die Diebe zu lieben, damit die Kriminalität sinkt!
Aber genau diese Idee thematisiert das Buch, indem es sie in eine Reihe mit den bahnbrechenden Arbeiten von René Spitz1 und John Bowlby2 stellt, zwei Psychoanalytikern, die ihre Überlegungen zur menschlichen Psychologie mit Arbeiten zur Tierethologie untermauerten.
Sehen Sie, Sie übertreiben. Man kann schließlich die Welt der Gedanken und der Freudschen innerseelischen Konflikte mit jener der Hunde und Katzen vergleichen, unserer treuen Begleiter!
Als Darwin Mitte des 19. Jahrhunderts ebendiese Idee vorstellte,3 wurde er von jenen ausgelacht und verachtet, die es vorzogen, in den gewohnten Denkmustern zu verharren. Indem Darwin aber die Tiere und die Menschen in ihrem natürlichen Umfeld beobachtete, revolutionierte er die Biologie und definierte den Platz des Menschen in der Welt der Lebewesen völlig neu.
Als nach dem Zweiten Weltkrieg wieder Frieden einkehrte, stellten die Millionen von Waisen, die der Krieg in Europa zurückgelassen hatte, ein großes Problem dar. In England requirierten Anna Freud und ihre Freundin Dorothy Burlingham in Hampstead am Rande Londons eine Reihe schöner Häuser und tauften sie nurseries, um dort achtzig von den Bombenangriffen und dem Verlust ihrer Eltern traumatisierten Kinder zu pflegen und zu versorgen. Weil die Kleinen noch nicht sprechen oder sich infolge ihrer Traumata nicht mehr verständlich machen konnten, ergänzten die beiden Frauen ihre unmittelbaren Beobachtungen zum Verhalten der Kinder mit einer psychoanalytischen Interpretation. In Zusammenarbeit mit René Spitz entstand so ein wunderbares Büchlein, in welchem die großen Namen der Psychoanalyse ihre Beobachtungen zu 29 Publikationen zur Tierethologie (Verhaltensbiologie der Tiere) in Bezug setzten.4 Ungefähr zur gleichen Zeit erhielt John Bowlby von der WHO den Auftrag, ein Konzept zu entwickeln, wie diesen Kindern, die keine Familie mehr hatten, geholfen werden könnte, wieder einen guten Entwicklungsweg einzuschlagen. Dieser Pädagoge, Arzt und Psychoanalytiker ließ sich ebenfalls von den wissenschaftlichen Erkenntnissen zur Tierwelt inspirieren.5
Was fand ich an diesen Publikationen so fesselnd? Als ich noch die Oberschule besuchte und davon träumte, einmal Psychiater zu werden, las ich in einem kleinen Que sais-je von den Arbeiten des Primatologen Harlow, der zeigte, wie ein kleiner Affe, der sämtlicher Beziehungen beraubt wurde, sich nicht weiterentwickelte.6 Ich sah mich in diesem Makakenbaby selbst und fand den Vergleich keineswegs beschämend. Ich fühlte mich nicht »herabgesetzt auf den Rang eines Tieres«, denn die Beobachtung eines Affen half mir zu verstehen, dass ein traumatisiertes Lebewesen nur dank anderer Lebewesen seinem Trauma entrinnen kann.
Jede Weltanschauung steht für ein autobiografisches Selbstbekenntnis. In den Kriegsjahren war ich häufig isoliert und von allen Beziehungen abgeschnitten gewesen. Diese Abgeschiedenheit schützte mich vor den Verfolgungen der Nazis und ich fühlte mich bei den Gerechten,7 bei denen ich aufgenommen wurde, in Sicherheit. Als ich nach dem Krieg meine Familie nicht wiederfand, steckte man mich in eine kalte Institution bei Villard-de-Lans auf dem Vercors-Plateau (ein Gebirgsmassiv in den französischen Alpen). In den Nachkriegsjahren machte ein Dogma die Runde: »Ein Kind hat den Mund zu halten. Und man soll mit ihm nicht sprechen, außer um es gehorchen zu lehren.« In dieser Gefühlswüste verkümmerten die meisten Kinder. Während manche sich wehrten und zu kleinen Bestien wurden, gehörte ich zu jenen, denen es gelang, sich einen Schutzraum zu bauen, indem sie sich die Welt der Tiere erschlossen. Kaum aufgewacht, eilte ich frühmorgens zu einem Felsen, auf dem ich die Truppenbewegungen der Ameisenbataillone entdeckt hatte: diejenigen, welche die Eier trugen, die Staffeln fliegender Ameisen, die von einer Plattform abhoben, und die Straßen, auf denen sie die Nahrungsvorräte transportierten. Kein Science-Fiction-Film hätte in mir mehr Leidenschaft wecken können, ihre Welt zu entdecken. Und weil es in dieser Anstalt des Schweigens niemanden gab, mit dem ich etwas hätte unternehmen können, schlich ich durch ein Loch im Zaun, um mit dem Hund des Nachbarn zu sprechen. Er empfing mich schwanzwedelnd und lauschte still und aufmerksam, als ich ihm mein Unglück schilderte. Dieser Hund hat mir sehr geholfen.
Menschliche Beziehungen hatte ich ausschließlich zu Tieren. Ist das der Grund, warum ich immer denke, die conditio humana (also die Wesensmerkmale des Menschen gegenüber denen anderer Lebensformen) ließe sich über das Studium der Tiere besser verstehen? Ich empfand es nicht als beschämend, als Nikolaas Tinbergen mir erläuterte, die Möwen würden sich mithilfe von rund fünfzig Schreilauten und Körpergesten verständigen, die eine wahre Verhaltensgrammatik bildeten,8 und könnten überdies viel besser sehen als ich. Als ich erfuhr, dass die Delphinmütter eine Reihe von Klickgeräuschen ausstoßen, die dem Delphinkind eine Art Muttersprache vermitteln, fühlte ich mich dadurch nicht herabgesetzt. Es faszinierte mich vielmehr und half mir zu verstehen, dass die menschliche Sprache mit nichts vergleichbar ist.
Während eines kurzen Aufenthalts am Pariser Institut de psychologie bot sich mir die Gelegenheit, mit Rémy Chauvin in Kontakt zu kommen und mich mit ihm im Rahmen von Seminaren, die Léon Chertok und Isabelle Stengers an der École des Hautes Étude en Science Sociales organisiert hatten, auszutauschen. Seit den 1960er-Jahren lehrte Chauvin zur Epigenetik der Bienen und erklärte uns, dass man nicht extrapolieren dürfe: »Was für eine Tierart gilt, muss noch lange nicht für den Menschen gelten.« Die Tierwelt liefere uns aber einen Schatz an Hypothesen und eine wissenschaftliche Methode, die der Diagnosepraxis beim Menschen ähnelt, wo man am Krankenbett eine Beobachtung macht, um sie anschließend im Labor zu präzisieren.
Auch wenn ich kein echter Ethologe (Verhaltensbiologe), sondern Neuropsychiater bin, hat die Tierwelt mir – nicht anders als René Spitz, John Bowlby und vielen anderen forschenden Praktikern – geholfen, die conditio humana zu verstehen.
Die fruchtbarste Lehrzeit bot sich mir in den 1970er-Jahren, als Jacques Cosnier, Hubert Montagner und Jacques Gervet mich anlässlich von Begegnungen, die das CNRS (Nationales Zentrum für wissenschaftliche Forschung) und das INSERM (Nationales Institut für Gesundheit und medizinische Forschung) organisierten, zur Zusammenarbeit einluden. Meine Eigenschaft als »Psychiater, der sich für Tierethologie interessiert«, stieß auf Verwunderung bis hin zu Belustigung, erfuhr dann aber eine erste Anerkennung, als die Professoren Sutter, Tatossian und Soulayrol mir einen kleinen Dozentenposten an der medizinischen Fakultät von Marseille verschafften, der mich berechtigte, Medizinstudenten in Ethologie zu unterrichten. Die Tierethologen ermunterten mich, angeregt von ihren Arbeiten eine Humanethologie auf Basis ihrer Arbeiten zu organisieren.9
Serge Lebovici und Michel Soulé, die großen Namen der Psychiatrie der 1980er-Jahre, die diese Nebenspur mit Interesse verfolgten, begleiteten mich beschützend auf meinem »Trampelpfad«,10 der mittlerweile zu einer Autobahn mit beträchtlichem Publikationsverkehr zwischen beiden Feldern angewachsen ist.
Eine wichtige Weichenstellung erfolgte auf dem von Jacques Petit und Pierre Pascal organisierten Congrès des Embiez bei Toulon.11 Auf dieser hübschen kleinen Insel versammelten sich im Jahr 1985 Tierethologen, Biologen, Universitätsprofessoren (Soulayrol, Rufo) und Praktiker, die zu präzisieren versuchten, was René Spitz und Anna Freud 1945 geschrieben hatten: Die Ausbildung des Apparats zur Wahrnehmung der Welt (Gehirn und Sinne) beginnt im Uterus, wenn der zukünftige Säugling seine Prägung durch den Körper seiner Mutter und ihre Beziehungen zu ihrem affektiven und sozialen Umfeld erfährt. Ist die Vorstellung vom Individuum eine Illusion des westlichen Denkens? Die Entwicklung von Gehirn und Seele des Fötus vollzieht sich in drei Nischen: dem Bauch der Mutter, dem elterlichen Heim und dem verbalen Umfeld.
Wir haben mit den Tieren die ersten zwei sensorischen Nischen gemein, auch wenn jede Art in ihrer eigenen Welt lebt. Aber sobald die Menschen ihren Weg in die Noosphäre – jene auf dem abstrakten Gedanken gründende Welt – antreten, erlangen sie die Fähigkeit zur Kreativität ebenso wie zum Wahn. Die Kreativität setzt etwas in die Welt, das es in dieser Form noch nicht gab, was die Entwicklung von Ideen ermöglicht. Der Wahn hingegen setzt etwas in die Welt, das dort nicht ist und nicht sein wird, eine...
Erscheint lt. Verlag | 13.10.2024 |
---|---|
Übersetzer | Nikolas Bertheau |
Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Aggression • Aggressionstrieb • Ethologie • Gewalt • Gewalt in der Gesellschaft • Krieg • Neurologie • Neuropsychiater • Psychiater • Psychiatrie • Psychologie • Resilienz • Tiere • Ursprung der Gewalt • Verhaltensforschung • Zivilisation |
ISBN-10 | 3-98609-556-X / 398609556X |
ISBN-13 | 978-3-98609-556-7 / 9783986095567 |
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