Verkörperte Gefühle (eBook)

Zur Phänomenologie von Affektivität und Interaffektivität | Ein neues Grundlagenwerk zur Phänomenologie der Gefühle

(Autor)

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2024 | 1., Originalausgabe
412 Seiten
Suhrkamp Verlag
978-3-518-78102-9 (ISBN)

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Verkörperte Gefühle - Thomas Fuchs
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Gefühle gelten nach herrschender Auffassung als mentale Zustände, die in einer verborgenen Innenwelt des Subjekts beziehungsweise in dessen Gehirn zu lokalisieren sind. Dem steht eine Konzeption der Verkörperung gegenüber, die Gefühle als Phänomene begreift, welche Selbst und Welt in leiblicher Resonanz miteinander verbinden. Auch Intersubjektivität beginnt aus dieser Perspektive nicht mit einem isolierten Ich, das den Weg zu anderen erst finden muss, sondern mit Interaffektivität. Diese stiftet die primären, zwischenleiblichen Beziehungen ebenso wie die dauerhaften Bindungen zu anderen Menschen. Am Beispiel zahlreicher Gefühle wie Empathie, Vertrauen, Scham, Hass und Trauer entwickelt Thomas Fuchs in seinem Buch eine neue Sicht auf unsere affektive Verbindung mit der Welt.



<p>Thomas Fuchs ist Karl-Jaspers-Professor für Philosophische Grundlagen der Psychiatrie und Psychotherapie an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Im Suhrkamp Verlag sind von ihm zuletzt erschienen: <em>Das überforderte Subjekt. Zeitdiagnosen einer beschleunigten Gesellschaft </em>(hg. zus. mit Lukas Iwer und Stefano Micali, stw 2252) und <em>Verteidigung des Menschen. Grundfragen einer verkörperten Anthropologie</em> (stw 2311).</p>

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Einführung: Verkörperte Affektivität


Wir sagen sowohl, daß wir etwas für schrecklich, lieblich und anderes hielten, und betonen damit, daß die Gefühle von der Person abhängen, als wir auch sagen, daß etwas schrecklich, lieblich oder anderes sei […], womit wir betonen, daß der Ursprung unserer Gefühle wie eine Eigenschaft in den Dingen und Geschehnissen wurzle. Diese Zweiseitigkeit, ja amphibische Zweideutigkeit der Gefühle unterstützt den Gedanken, daß sie nicht nur im Innern, sondern auch in der äußeren Welt zu beobachten sind.

Robert Musil[1] 

Gefühle scheinen in unserer gegenwärtigen Kultur etwas zutiefst Persönliches, Privates und Innerliches zu sein. Das gilt besonders in Zeiten, in denen man sich zur eigenen Legitimation gerne auf sein Gefühl beruft, als unmittelbar »gefühlte Wahrheit«, die sich der intersubjektiven Überprüfung und dem Abgleich verschiedener Perspektiven entziehen zu können glaubt. Wer sich nur auf seine eigenen Gefühlsbezeugungen stützt, der untergräbt, so bereits Hegels Kritik, das Fundament der Gemeinschaft:

Indem jener sich auf das Gefühl, sein inwendiges Orakel, beruft, ist er gegen den, der nicht übereinstimmt, fertig; er muss erklären, dass er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle. (Hegel 1970: 64f.)

Man kann nun eine solche Verabsolutierung der Gefühle auch als die Konsequenz einer Verinnerlichung ansehen, die die Verkörperung und Intersubjektivität der Gefühle ausblendet und übergreifende räumliche Gefühlsphänomene wie Stimmungen und Atmosphären gänzlich aus dem Blick verloren hat. So ordnen auch die 8herrschenden Emotionstheorien in Philosophie und Psychologie die Gefühle einer inneren »Psyche« zu, die sowohl vom Körper als auch von der Welt getrennt ist. Dazu passt die dominierende Auffassung der gegenwärtigen Sozial- und Kognitionspsychologie, wonach die subjektive Innenwelt der Gefühle für andere grundsätzlich unzugänglich sei. Was andere empfinden oder fühlen, das können wir demzufolge nur indirekt erschließen, nämlich aus ihrem äußeren Verhalten oder körperlichen Signalen – etwa nach dem Muster: »Er lächelt, also freut er sich«. Dazu dienen uns kognitive Strategien wie die »Theory of Mind«, das »Mind Reading« oder »Mentalisieren«, die die behauptete Kluft zum anderen nicht aufheben, aber notdürftig überbrücken.[2] 

Die Verinnerlichung, Privatisierung und Subjektivierung der Gefühle ist allerdings kein neues Phänomen. Sie geht letztlich zurück auf die neuzeitliche »Entzauberung des Kosmos«: Die naturwissenschaftliche Umdeutung der Welt verlagerte nach und nach alle qualitativen und affektiven Erfahrungen in das Innere des Subjekts und ließ nur eine rein physikalische, quantifizierbare Außenwelt zurück. Besonders seit der cartesianischen Trennung von res cogitans und res extensa wurde alles Gefühlshafte, also alles, was Menschen affiziert, bewegt, begeistert oder erschüttert, der seelischen Innenwelt zugerechnet, wo das Subjekt nun mit seinen »passions de l’âme« zurechtkommen musste.[3]  Die physikalische Welt war frei von allen affektiven Qualitäten, und wenn Menschen etwas für attraktiv, schön, hässlich oder bedrohlich hielten, konnte es sich fortan nur um Projektionen ihrer Gefühle handeln.

Nachdem sich allerdings der Begriff der Seele im letzten Jahrhundert zunehmend verflüchtigte, blieb für die Gefühle im Grunde kein Ort mehr übrig. Die Emotionspsychologie fasste sie konsequenterweise als Formen der Kognition auf, nämlich als Bewertungen (appraisals) äußerer Reize im Geist eines Individuums, allenfalls 9zusätzlich begleitet von physiologischen Körpersensationen.[4]  Damit geriet freilich die leibräumliche ebenso wie die interpersonale Dimension der Gefühle aus dem Blick. Die Neurobiologie der Emotionen[5]  trug zusätzlich dazu bei, Gefühle als rein mentale, im Gehirn lokalisierte Prozesse zu begreifen, auf die sich nur anhand bestimmter körperlicher Ausdruckszeichen schließen lasse.

Demgegenüber entwickelt der vorliegende Band eine grundsätzlich andere Konzeption der Gefühle. Sie stützt sich auf die Leibphänomenologie und das Paradigma der Verkörperung, das in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten weitreichende Bedeutung in verschiedenen Disziplinen erlangt hat.[6]  Diese Konzeption lässt sich unter drei Gesichtspunkten zusammenfassen:

(a) affektives In-der-Welt-Sein,

(b) affektive Verkörperung und

(c) Interaffektivität.

(a) Affektives In-der-Welt-Sein


Gegen die dualistische Trennung von affektiver Innenwelt und gefühlsneutraler Außenwelt setzt die Phänomenologie die Erfahrung, dass unser In-der-Welt-Sein immer affektiv getönt und gestimmt ist. Stimmungen und Gefühle »erschließen« in Heideggers Terminologie die Welt (Heidegger 1986: 136), d.h., nur durch Gefühle wird sie für uns überhaupt zu einer sinnvollen und bedeutsamen Umwelt. Dabei kommt die Welt unseren Gefühlen entgegen, denn sie weist ihrerseits affektive oder Wertqualitäten, »Valenzen« (Lewin 1969) oder »Affordanzen« (Gibson 1979) auf: Dinge und Situationen wirken anziehend, behaglich, vertraut oder abstoßend, unheimlich, bedrohlich usw. Stimmungen und Atmosphären brei10ten sich über Situationen, Räume und ganze Landschaften aus. Zu unserer Situiertheit, unserem Sein-in-Situationen gehört also immer eine affektive Bedeutsamkeit, die keineswegs einer Innenwelt zuzuteilen ist.

Mehr noch: Gefühle affizieren uns, d.h., sie »tun uns etwas an«, nämlich als Betroffenheiten oder Erschütterungen, die von der Situation ausgehen, in der wir uns befinden. Sie stellen, mit einem Begriff von Bernhard Waldenfels (2002), Widerfahrnisse dar, die uns geschehen und die wir erleiden, entsprechend den »Leidenschaften« (griech. páthos, lat. passio) der klassischen Affektenlehre. Zum Pathos gehört aber auch die Response, wie Waldenfels (ebd.) es nennt, also die Antwort des Subjekts auf seine Betroffenheit, sei es im Ausdruck oder in einer spontanen Handlungstendenz. Damit stellen Gefühle eine übergreifende, zugleich nach innen und nach außen gerichtete Beziehung zur Situation her, die sich weder als objektiver Vorgang noch als eine bloß subjektive Bewertung angemessen begreifen lässt. Das Subjekt bleibt mit seinen Gefühlen nicht bei sich, sondern es wird in eine weiterreichende Dynamik involviert.

(b) Affektive Verkörperung


Pathos und Response, das affektive Widerfahrnis ebenso wie die Antwort darauf, sind vermittelt durch das Medium des Leibes, nämlich als leibliche Resonanz und als leiblicher Ausdruck. Gefühle sind Affektionen, die wir an leiblichen Empfindungen, Regungen und Bewegungstendenzen spüren und die sich zugleich in Mimik, Gestik und Handlungstendenzen Ausdruck verschaffen. Angst oder Wut lassen sich nicht trennen von der gespürten Enge, den Spannungen und Erregungen des Leibes, der Tendenz zu fliehen oder anzugreifen; Freude nicht von der gespürten Weite und der Tendenz, sich zu erheben oder zu springen. Der Leib ist buchstäblich der »Resonanzkörper« der Gefühle.[7] 

11Doch dem Resonanz- und Ausdrucksgeschehen der intentionalen Gefühle liegt noch eine tiefer im Leib verankerte Schicht zugrunde, die ich als »Gefühl des Lebendigseins« oder auch als Vitalität bezeichne.[8]  Es handelt sich um ein basales leibliches Befinden, das uns im Hintergrund ständig begleitet, mit den Polen von Wohlbefinden und Missbefinden, Entspannung oder Anspannung, Frische oder Müdigkeit, des Elans oder der Erschöpfung. Im Lebensgefühl spiegelt sich der momentane Zustand des gesamten Organismus, nämlich im Hinblick auf...

Erscheint lt. Verlag 18.11.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie
Schlagworte aktuelles Buch • Bücher Neuererscheinung • Emotionen • Empathie • Intersubjektivität • Leib • Neuererscheinung • neues Buch • Psychologie • STW 2454 • STW2454 • suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2454
ISBN-10 3-518-78102-2 / 3518781022
ISBN-13 978-3-518-78102-9 / 9783518781029
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