Unter Heiden (eBook)

Warum ich trotzdem Christ bleibe - Was kann das 21. Jahrhundert eigentlich von gläubigen Menschen lernen?
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2024 | 1. Auflage
288 Seiten
btb (Verlag)
978-3-641-31630-3 (ISBN)

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Unter Heiden -  Tobias Haberl
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»Erst ungläubig und dann staunend verfolgt man dieses moderne Glaubensbekenntnis. Tobias Haberl erzählt so pur von seinen Zweifeln und Wegen zu Gott, dass man danach ganz anders in den Himmel schaut.« Florian Illies
Ich bin katholisch. In meiner Kindheit war das eine Selbstverständlichkeit. Heute muss ich mich dafür rechtfertigen, ja manchmal komme ich mir vor wie ein Tier, das im Zoo angegafft wird: Wie kann man im 21. Jahrhundert an Gott glauben? Und wie kann man immer noch in der Kirche sein - nach allem, was ans Licht gekommen ist? Es ist tatsächlich so, dass ich in meinem Viertel (gentrifiziert), meiner Branche (Medien) und meinem Job (linksliberale Zeitung) von Menschen umringt bin, die, wenn es um den Glauben geht, oft nur noch an Missbrauch und Vertuschung denken.

Leider haben viele von ihnen keine Ahnung davon, was das bedeutet: Christ sein. Sie kritisieren etwas, das sie nie kennen gelernt haben, und vergessen, worauf es ankommt: den Halt, den Trost, die Hoffnung. Glaube ist mehr als Schlagwörter (Zölibat, Missbrauch, Frauenpriestertum), mehr als eine Kirche, mit der ich auch hadere, auch mehr als eine Auszeit vom stressigen Alltag. Gläubige Menschen suchen keine Befriedigung, sondern Erlösung, nicht zuletzt von einer Welt, die aus den Fugen geraten scheint, zerrissen zwischen Zukunftsängsten und (gespenstischen) technologischen Visionen.

Ständig wird gefordert, dass sich die Kirche verändern muss, um im 21. Jahrhundert anzukommen. Ich drehe die Frage um: Was kann das 21. Jahrhundert eigentlich von gläubigen Menschen lernen? Welche vermeintlich aus der Zeit gefallenen Rituale können die spätmoderne Gesellschaft von ihrer Atemlosigkeit erlösen? Denn eines ist offensichtlich: Der Mensch, der sich von Gott verabschiedet hat, findet nicht, was er sucht. Die große Freiheit stellt sich nicht ein. Stattdessen: neue Zwänge, neue Ängste, Ablenkung statt Trost, weil Google jede Frage beantworten kann, nur nicht die, wozu wir leben und was uns Halt gibt. Im Moment sind viele verunsichert, suchen Orientierung, etwas, woran sie sich festhalten können, aber: da ist nichts.

Ich bin ein mittelmäßiger Christ, ganz sicher sind viele, die nicht an Gott glauben, bessere Menschen als ich. Aber ich versuche jeden Tag mit großer Ernsthaftigkeit, Gott zu gefallen - es gelingt halt nicht immer. Und deshalb erzählt dieses Buch davon, wie der Glaube mein Leben nicht nur verschönert, sondern vertieft, wie ich ein 'zeitgemäßes Leben' mit einem vermeintlich 'unzeitgemäßen Glauben' verbinde, weil Freiheit eine grandiose Sache ist, man aber schon eine Idee haben sollte, was man mit ihr anstellen will. Ich glaube, dass der moderne Mensch darunter leidet, dass er seinen Glauben verloren hat, ohne dass er es merkt. Ich glaube, dass sein Glück in falschen Dingen und an falschen Orten sucht. Ich glaube, dass er Sehnsucht nach etwas hat, das er sich nicht erklären kann. Was das sein könnte, steht in diesem Buch.

Tobias Haberl, geboren 1975 im Bayerischen Wald, hat in Würzburg und Großbritannien Latein, Germanistik und Anglistik studiert. In den Jahren 2001 und 2002 war er freier Journalist in Berlin, besuchte dann die Henri-Nannen-Schule Hamburg und ist seit 2005 Redakteur im Magazin der »Süddeutschen Zeitung«. 2016 erhielt er den Theodor-Wolff-Preis. Zuletzt legte er die Streitschrift »Die große Entzauberung - Vom trügerischen Glück des heutigen Menschen« vor (2019). Von Tobias Haberl erschienen außerdem »Wie ich mal rot wurde« (2011) und, als Herausgeber zusammen mit Alexandros Stefanidis, »Wir, Ritter der Ehrenrunde« (2016). Der Autor lebt in München.

Warum dieses Buch?


Jetzt glaube ich fast fünfzig Jahre lang an Gott, aber so was ist mir noch nicht passiert: Als ich am Montag, dem 3. April 2023, wenige Tage vor Ostern, mein Notebook aufklappte, lagen hundert neue Mails in meinem Postfach. Spam, dachte ich, was sonst? Zweifelhafte Angebote von Versicherungen, Schönheitskliniken, Erotikfirmen. Aber dann schaute ich genauer hin und erkannte, es waren überhaupt keine Werbemails, sondern Reaktionen auf meinen Text »Unter Heiden«, der am Freitag zuvor im Süddeutsche Zeitung Magazin erschienen war. Ein persönlicher Essay darüber, dass ich mich als gläubiger Christ zunehmend unverstanden fühle, wie eine seltene Affenart, die man lieber von der anderen Seite eines Gitters aus bestaunt.

Dass ich von Menschen, die sich noch nie mit meinem Glauben auseinandergesetzt und im Grunde keine Ahnung haben, was sie da eigentlich ablehnen, nicht ernst genommen oder sogar kritisiert werde, weil ich immer noch in der Kirche bin, in die Messe gehe und zu Gott bete, manchmal sogar auf Knien. Und dass ich schon verstehen kann, wenn man nach den vielen Missbrauchsfällen, die in den letzten Jahren ans Licht gekommen sind (und eher widerwillig aufgearbeitet wurden), der Kirche den Rücken kehrt, dass ich aber auch glaube, dass uns etwas göttlicher Beistand guttun könnte, weil Google jede Frage beantworten kann, nur nicht die, wozu wir leben und was uns Halt gibt.

Ich hatte ein modernes Glaubensbekenntnis veröffentlicht und anders als die meisten, die sich heute öffentlich zum Thema Religion äußern, ihre strahlende Seite in den Mittelpunkt gestellt: die Schönheit, den Trost, die Hoffnung. Nicht um die Sünden der Kirche zu verharmlosen, sondern weil die sowieso jeden Tag in der Zeitung stehen, was unter anderem dazu geführt hat, dass sich viele nicht mehr vorstellen können, dass es außer Missbrauch und Vertuschung noch etwas anderes in ihr geben könnte. Ich wollte darauf aufmerksam machen, was trotzdem für die Kirche, aber vor allem: für ein Leben mit Gott sprechen könnte. Oder wie die FAZ einmal hinsichtlich des Missbrauchsskandals kommentierte: »Es geht um die Wiederherstellung eines Zusammenhangs zwischen Gott und dem Guten, den die Kirchen auch selbst verdunkelt haben.«[1]

Dazu kommt, dass ich das Reden über, aber auch die Kritik an meinem Glauben nicht denen überlassen will, die beim Wort »Kirche« reflexhaft an übergriffige Priester denken. Menschen, die Toleranz für alles Mögliche einfordern, aber meinen Glauben nicht gelten lassen wollen, weil sie ihn unzeitgemäß finden, wo seine Kraft doch gerade in der Differenz zum Zeitgeist liegt, weil er überfordern muss, um nicht banal zu werden. Ob sie ahnen, dass auch ich mit der Kirche hadere, nur differenzierter, weil ich weiß, dass sie nicht von den Männern in den scharlachroten Soutanen, sondern von jedem einzelnen Getauften repräsentiert wird, also auch von mir?

Es ist so eine Sache mit Leserbriefen. Oft melden sich Nörgler oder Besserwisser zu Wort. Trotzdem lese und beantworte ich grundsätzlich alle, weil ich finde, dass jeder, der sich die Mühe gemacht hat zu schreiben, eine Antwort verdient. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es nicht immer eine Freude ist, weil man oft beleidigt oder missverstanden wird. Gerade weil die Süddeutsche Zeitung traditionell kirchenkritisch eingestellt ist, hatte ich mit einem Shitstorm gerechnet, aber ich hatte mich getäuscht: Fast alle Reaktionen waren wohlwollend, manche sogar euphorisch. Viele bedankten sich, der Text sei »mutig« und »tröstlich«. Endlich spreche jemand aus, was sich keiner mehr zu sagen traue, dass in unserer technologisch optimierten, aber seelisch verkümmerten Gesellschaft eine Lücke klaffe, die nicht mit Algorithmen, sondern nur spirituell zu füllen sei.

Manche Mails waren nur ein paar Zeilen lang. »Lieber Herr Haberl, vielen Dank für Ihren Text, der mir aus der Seele gesprochen hat.« Oder: »Herr Haberl, ihr Artikel war ein Lichtstrahl für mich.« Andere enthielten seitenlange Glaubensbekenntnisse, Lebensbeichten, Verlustgeschichten. Geschätzt waren achtzig Prozent der Zuschriften positiv und zwanzig Prozent negativ, aber auch die enthielten keine Häme, sondern persönliche Erfahrungen und differenzierte Argumente. Fast alle stellten Fragen, die wenigsten gaben Antworten, schon gar keine endgültigen. Natürlich waren auch ein paar gemeine dabei: Einer verhöhnte mich als »Einfaltspinsel«, ein anderer fand es nur gerecht, wenn Katholiken heute die Ablehnung erführen, welche die Kirche jahrhundertelang gegenüber Anders- und Nichtgläubigen an den Tag gelegt habe. Aber immerhin, richtig hässlich wurde es nie.

Ich habe mich damals gefragt, warum ich von den üblichen Hassmails verschont geblieben bin, die man heute eigentlich immer bekommt, sobald man sich öffentlich zu einem kontroversen Thema zu Wort meldet: Hatte man meinen Mut honoriert, mich in einem säkularen Umfeld zum Glauben zu bekennen? Oder taugt das Thema Religion – anders als Gendersprache – nicht mehr zum Kulturkampf? Ist es zu abseitig, um sich darüber aufzuregen, weil es sich in ein paar Jahren sowieso erledigt haben wird?

Ich entschied mich für die erste Variante: Für mich widerlegten diese Briefe das Gerede von den verfeindeten Lagern, zwischen denen kein Dialog mehr möglich sei. Ich hatte eine andere Erfahrung gemacht: Offenbar darf, wer einen Standpunkt aufrichtig vertritt, sehr wohl auf Respekt hoffen, vielleicht nicht im Internet, aber im persönlichen Miteinander. Jedenfalls hatten mir nicht nur Katholiken, sondern auch Protestanten, Muslime, Atheisten und einige Enttäuschte geschrieben, die aus der Kirche ausgetreten waren oder mit dem Gedanken spielten, es zu tun.

Eine Religionslehrerin berichtete von ihren Schülern, denen Religion so egal sei, dass sie über den Missbrauchsskandal nicht einmal diskutieren wollten. Priester baten um Erlaubnis, Teile meines Textes für ihre Osterpredigt verwenden zu dürfen. Eine muslimische Kollegin bedankte sich für eine wohlwollende Passage über den Islam, in der ich beschrieben hatte, dass Muslime und Christen selbstverständlich denselben Gott anbeteten, dass »Allah« lediglich das arabische Wort für Gott sei, was zugegebenermaßen stark vereinfacht, aber im Prinzip richtig ist. Am meisten bewegt hat mich die Mail eines krebskranken Schauspielers, der mir anvertraute, wie er, gleich nachdem er die niederschmetternde Diagnose bekommen habe, in die Klinikkapelle geeilt sei und bitterlich geweint habe. »Ich habe Angst, ich habe richtig schlimm Angst«, habe er vor sich hin gemurmelt, als auf einmal der ganze Raum von einer Schwingung erfüllt gewesen sei, die nicht nur ruhig und klar zu spüren gewesen sei, sondern auch einen »tröstlichen, mitfühlenden Satz« enthalten habe: »Ich weiß.« Zwar habe er auch Rückhalt von seiner Familie und seinen Freunden bekommen. »Es wird alles gut« hätten sie gesagt, aber gehalten gefühlt habe er sich vor allem von diesem »Ich weiß«, das nichts in Aussicht stellt und nichts verspricht.

Am Dienstag bekam ich weitere Mails, am Mittwoch und Donnerstag auch. Nicht mehr hundert, aber vierzig, fünfzig pro Tag, und immer, wenn ich dachte, das war’s, kamen neue, am Ende waren es über fünfhundert. Es dauerte ein paar Tage, bis ich alle abgearbeitet hatte, aber ich wollte den Menschen zeigen, dass ich ihre Reaktionen nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern tatsächlich gelesen hatte. Weil das nur bis zu einem gewissen Grad möglich war, beantwortete ich die positiven knapper und die negativen ausführlicher, schließlich wird es erst interessant, wenn zwei Haltungen aufeinanderprallen, weil dann beides möglich ist: eine Annäherung, aber auch das Eingeständnis, dass sich zwischen einem gläubigen und einem nicht gläubigen Menschen ein Graben auftut, den man nicht schönreden muss, den man auch einfach anerkennen kann. Denn natürlich kann man befreundet sein oder sogar das ganze Leben miteinander verbringen, aber in diesem einen Punkt gibt es keinen Kompromiss, ein gläubiger Mensch hat ein grundsätzlich anderes Ziel als ein ungläubiger: Er möchte nicht befriedigt, er möchte erlöst werden.

Warum aber hat mein Essay so heftige Reaktionen ausgelöst? Ich habe nur eine Erklärung: Ich muss ein Lebensgefühl beschrieben haben, mit dem sich viele Leserinnen und Leser identifizieren konnten. Das Gefühl, dass uns die restlos aufgeklärte Welt etwas vorenthält, das wir gut brauchen könnten, gerade jetzt, wo nach Jahrzehnten der Unbeschwertheit wieder die großen Fragen nach Freiheit und Zukunft gestellt werden und angesichts gespenstischer Fortschritte auf dem Feld der Technologie nach dem Sinn der menschlichen Existenz überhaupt. Das Gefühl, dass etwas fehlt, etwas Grundlegendes, etwas Entscheidendes, das nichts mit Politik oder Wirtschaftswachstum zu tun hat, das sich nicht verordnen oder verkaufen lässt.

Corona, Kriege, Klima, Inflation, soziale Spannungen – die Welt scheint aus den Fugen. Unsere Debatten sind hitziger geworden, unsere Ängste greifbarer. Viele sind gereizt, empört, erschöpft – oder alles auf einmal. Vor allem junge Menschen verlieren den Glauben an eine positive Zukunft. Etwas gerät ins Rutschen, den Satz liest man oft, aber er stimmt nicht: Alles rutscht seit langer Zeit. Wir sind umzingelt von Krisen, überall Endzeitstimmung, nirgendwo ein Grund, der trägt. Die Menschen suchen Orientierung, etwas, woran sie sich festhalten können, aber da ist nichts, alles wandelt sich immer rascher. Und eigentlich bräuchten wir eine Pause oder jemanden, der uns in den Arm nimmt, aber alles, was wir kriegen, ist schnelleres Internet.

Ich hatte schon länger mit dem...

Erscheint lt. Verlag 2.10.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
Schlagworte 2024 • Buddhismus • Christ • demokratie braucht religion • Deutscher Reporterpreis • eBooks • Glaube • Navid Kermani • Neuerscheinung • Philosophie • SZ Magazin • Trost
ISBN-10 3-641-31630-8 / 3641316308
ISBN-13 978-3-641-31630-3 / 9783641316303
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