Die Aufklärung vor Europa retten (eBook)

Kritische Theorien der Dekolonisierung
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
395 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45853-3 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Die Aufklärung vor Europa retten -  Nikita Dhawan
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Die politische Philosophin Nikita Dhawan unternimmt den Versuch, postkoloniale, queer-feministische Theorien und Theorien der Aufklärung - in der Tradition von Kant über Adorno und Spivak - zusammenzudenken. Aus diesen scheinbar unvereinbaren philosophischen und politischen Strömungen birgt sie das emanzipatorische Potenzial und skizziert kritische Theorien der Dekolonisierung. Diese können helfen, postimperiale Zukünfte unserer Gesellschaft angesichts multipler Krisen vorstellbar zu machen. Postkoloniale Studien, die sich mit dem Erbe des weltweiten Kolonialismus und Imperialismus auseinandersetzen, erfahren derzeit insbesondere von rechter aber auch liberaler Seite Kritik: Ihnen wird vorgeworfen, gegen die Aufklärung, nihilistisch, eurozentrisch und schließlich antisemitisch zu sein. Nikita Dhawan argumentiert dagegen, dass diese Vorwürfe bestenfalls auf Missverständnissen des Projektes der Dekolonisierung beruhen. Sie versucht, den »versäumten Begegnungen« zwischen Postkolonialen und Holocaust Studies nachzuspüren und darüber hinaus die »Identitätsverwechslung« zwischen postkolonialen und dekolonialen Ansätzen zu bereinigen. Zusammenfassend beleuchtet Dhawan die widersprüchlichen Konsequenzen der Aufklärung, ohne einen gegenaufklärerischen Standpunkt einzunehmen. »Die Aufklärung vor Europa retten« bedeutet für sie, die Unabdingbarkeit der Aufklärung in der Umsetzung kritischer Projekte zu behaupten, zugleich aber ihr »giftiges Erbe« mitzudenken.

ist Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Dresden. Ihre Schwerpunkte sind globale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Demokratie und Dekolonialisierung. 2017 erhielt sie den Käthe-Leichter-Preis für herausragende Leistungen in der Frauen und Geschlechterforschung sowie für die Unterstützung der Frauenbewegung und Verwirklichung der Gleichstellung der Geschlechter. Im Jahr 2023 erhielt sie die Gerda-Henkel-Gastprofessur an der Stanford University und das Thomas Mann Fellowship in Los Angeles.

ist Professorin für Politische Theorie und Ideengeschichte an der TU Dresden. Ihre Schwerpunkte sind globale Gerechtigkeit, Menschenrechte, Demokratie und Dekolonialisierung. 2017 erhielt sie den Käthe-Leichter-Preis für herausragende Leistungen in der Frauen und Geschlechterforschung sowie für die Unterstützung der Frauenbewegung und Verwirklichung der Gleichstellung der Geschlechter. Im Jahr 2023 erhielt sie die Gerda-Henkel-Gastprofessur an der Stanford University und das Thomas Mann Fellowship in Los Angeles.

Einleitung: Postkoloniale Dilemmata – Die Aufklärung aufgeben oder retten?


Von den Deutschen lernen?


Deutschland gilt häufig als Vorbild dafür, wie ein Land seine gewaltförmige Vergangenheit aufarbeiten kann. Prominent ist etwa Susan Neimans Argument, dass kein anderes Land sich so schonungslos mit seinen historischen Verbrechen auseinandergesetzt habe wie Deutschland (2019). Die Vereinigten Staaten und Großbritannien sollten daher, so Neiman, bei der Aufarbeitung ihrer eigenen rassistischen Geschichte der Sklaverei und des Kolonialismus von Deutschland lernen. In ihrem Bemühen, die Verbrechen des Holocaust zu sühnen, hätten sich die Deutschen auf den langen und steinigen Weg der Vergangenheitsaufarbeitung begeben. Die Früchte dieser Arbeit zeigten sich etwa in Bildungsinitiativen, Gesetzen und nicht zuletzt in der Erinnerungs- und Außenpolitik. Während Neiman Deutschlands Verhältnis zu seiner Nazi-Vergangenheit unter die Lupe nimmt, bleibt die deutsche Kolonialgeschichte aber ein Zankapfel.

Im April 2020, inmitten der Covid-19-Pandemie, kam es in Deutschland zu einer heftigen Kontroverse um das Verhältnis von Postkolonialen Studien und Holocaust-Forschung. Bereits 2012 war Judith Butler anlässlich der Verleihung des Adorno-Preises aufgrund ihrer Unterstützung der BDS-Bewegung (Boycott, Divestment and Sanctions) angegriffen worden. Nun traf der Vorwurf des Antisemitismus den Philosophen Achille Mbembe, der aus der ehemaligen deutschen Kolonie Kamerun stammt. Stein des Anstoßes war insbesondere sein Vergleich von Israel mit dem Apartheidstaat in Südafrika und seine Kritik an der Besetzung Palästinas, die er als eine Form von »Siedlerkolonialismus« bezeichnete. Beides laufe darauf hinaus, Israels Existenzrecht in Frage zu stellen, so Kritiker:innen. Im Anschluss an die Mbembe-Kontroverse verabschiedete der Deutsche Bundestag eine nicht-bindende Resolution, die die Förderung von BDS-nahen Gruppen mit Bundesgeldern untersagte, da die Bewegung in ihren Argumentationsmethoden und -mustern als antisemitisch eingestuft wurde.1

Der Vorwurf des postkolonialen Antisemitismus2 tauchte dann mit Vehemenz im Kontext der Documenta 15 wieder auf. Die alle fünf Jahre abgehaltene Ausstellung gilt als eines der wichtigsten Ereignisse in der Kunstwelt. Die Documenta 15, die von Juni bis September 2022 stattfand, wurde von ruangrupa, einem indonesischen Künstler:innenkollektiv, kuratiert. Monate vor der Eröffnung wurde ruangrupa des Antisemitimus bezichtigt – das Kollektiv unterstütze die BDS-Bewegung und führe einen »stillen Boykott« jüdisch-israelischer Künstler:innen durch. Ruangrupa wies diese Vorwürfe entschieden zurück und warf seinerseits der deutschen Öffentlichkeit und Medienlandschaft Rassismus vor.

Vier Tage nach der Eröffnung wurde das großformatige Banner »People’s Justice« (»Gerechtigkeit des Volkes«) des indonesischen Kollektivs Taring Padi aus dem Jahr 2002 aufgrund seiner nicht zu entschuldigenden antisemitischen Bildsprache zunächst verhüllt und später entfernt. Die Documenta 15 wurde daraufhin zum »Waterloo des Postkolonialismus«3 erklärt, was nicht nur den Postkolonialen Studien, sondern auch der gesamten »Dritten Welt«4 weitreichende Antisemitismusvorwürfe eintrug. So kommentierte der renommierte Kunstkritiker Bazon Brock: »Alle diese Staaten des ›globalen Südens‹ sind nicht nur religiös fundamentalistisch ausgerichtet, sondern verglichen mit der Sozialstaatlichkeit Westeuropas lassen sie asoziale Haltungen geradezu als selbstverständlich gelten.«5 Ironischerweise taucht in Brocks pauschaler Verunglimpfung der postkolonialen Welt ausgerechnet Nazivokabular auf: In den Konzentrationslagern wurden sogenannte »Asoziale« mit dem »schwarzen Winkel« gekennzeichnet. Dazu gehörten an den Rand der Gesellschaft gedrängte soziale Gruppen wie Roma und Sinti, Menschen mit Behinderung, Wohnungslose, Nomaden, Prostituierte, Diebe, Alkoholiker:innen, Bettler:innen, Mörder:innen, Pazifist:innen und Lesben.

Neben der antisemitischen Abbildung ist auf dem Banner auch eine rassistische Darstellung eines Schwarzen GI zu sehen, der mit Penis in der Hand ejakuliert. Bemerkenswerterweise gab es dazu kaum Berichte in den deutschen Medien, geschweige denn eine breitere Diskussion in der Öffentlichkeit. Vor Eröffnung der Kunstschau wurden im Ausstellungsraum, der Arbeiten des palästinensischen Künstler:innenkollektivs The Question of Funding zeigen sollte, kryptische Todesdrohungen an die Wand geschmiert,6 woraufhin die Gruppe sämtliche Veranstaltungen absagte und Kassel verließ.7 Eyal Weizman griff in der Berliner Zeitung Hannah Arendts Metapher des Bumerangs auf, um zu erklären, wie die europäische Bildsprache des Antisemitismus durch den Kolonialismus in den »globalen Süden« exportiert worden sei und dann auf der Documenta als ein Kunstwerk wiederkehrte, das nach den Beteuerungen der Kurator:innen anti-imperialistische Kunst sein sollte.8 Die verwickelte Komplizenschaft von Kolonialismus, Nazismus, Militarismus und Kapitalismus zeigt, dass eine saubere Trennung von Antisemitismus und Rassismus, Imperialismus und Totalitarismus unmöglich ist und damit auch eine eindeutige Zuschreibung von Täter- und Opferrolle.

Man sollte dabei nicht der Versuchung erliegen, die Kontroverse als eine provinzielle deutsche Debatte abzutun, denn die Auswirkungen auf die postkoloniale Forschung sind weitreichend. Seit dem 7. Oktober 2023 sind die Vorwürfe gegen die postkolonialen Studien weltweit lauter geworden. Wie immer wieder angemerkt wurde, dient die pauschale Verunglimpfung des »globalen Südens« als antisemitisch unter anderem dazu, vom rechten Antisemitismus abzulenken, der eine ernste globale Bedrohung darstellt.9 Darüber hinaus laufen die Versuche, Antisemitismus, Rassismus und andere Diskriminierungsformen voneinander zu entkoppeln, einem intersektionalen Ansatz zuwider.10 Dabei wird im Sinne des »Teile und herrsche« eine Minderheit gegen die andere ausgespielt. So wird ein toxisches Klima der gegenseitigen Feindseligkeit erzeugt, was Solidarität und Zusammenarbeit erschwert. Da der Deutsche Bundestag und Teile der deutschen Zivilgesellschaft die BDS-Bewegung und ihre Unterstützer:innen als antisemitisch einstufen, wurde auch solchen Veranstaltungen die Förderung entzogen, zu denen jüdische und jüdisch-israelische Wissenschaftler:innen eingeladen waren, die BDS unterstützen oder Israel kritisch gegenüberstehen (Weizman 2022).11

Unter den zahllosen jüdischen Personen, die wegen ihrer Unterstützung einer Waffenruhe im Krieg zwischen Israel und der Hamas im Jahr 2023 ins Kreuzfeuer der öffentlichen Kritik gerieten, ist insbesondere das Beispiel von Masha Gessen lehrreich für die Herausforderungen kritischer Interventionen. Gessen sollte den renommierten Hannah-Arendt-Preis für politisches Denken erhalten, doch ihr Vergleich des Gazastreifens mit Ghettos aus der Zeit des Zweiten Weltkriegs sorgte in Deutschland für Unmut. Wie aufschlussreich dargelegt wurde, hätte auch Hannah Arendt den Hannah-Arendt-Preis nicht erhalten. Auch sie wäre in Deutschland heute wegen ihrer politischen Haltung zu Israel und ihrer Ansichten über den Zionismus wahrscheinlich gecancelt worden.12 Ironischerweise scheinen viele der Ansicht zu sein, man müsse den Brandstiftern die Aufgabe zuteil werden lassen, das Feuer zu löschen – das zumindest ist der Eindruck, der entsteht, wenn man etwa bedenkt, dass der Gründer der Documenta, Werner Haftmann, ein Nazi-Kriegsverbrecher war.13

Angesichts der beschämenden Geschichte des eliminatorischen Antisemitismus in Deutschland kann man das Engagement und die Wachsamkeit des deutschen Staates und der deutschen Zivilgesellschaft im Kampf gegen den Antisemitismus nur loben. Aber die Strategie, die »Boykotteure zu boykottieren« (Cooper/Herman 2019), indem man der postkolonialen Welt pauschal Antisemitismus unterstellt, läuft Gefahr, das postkoloniale kritische Denken zu zensieren. Im Mai 2021 löste Dirk Moses mit seiner scharfen Kritik am »deutschen Katechismus« einen neuen Historikerstreit...

Erscheint lt. Verlag 9.10.2024
Übersetzer Alwin Franke
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Antisemitismus • Aufklärung • Axel Honneth • Decolonial Studies • Dekolonialismus • Documenta 15 • Eurozentrismus • Frankfurter Schule • Holocaust studies • Immanuel Kant • Imperialismus • Jürgen Habermas • Kritische Theorie • Moderne • Nihilismus • postcolonial studies • Postkoloniale Theorie • Postkolonialismus
ISBN-10 3-593-45853-5 / 3593458535
ISBN-13 978-3-593-45853-3 / 9783593458533
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