Die Geschichten in uns (eBook)
400 Seiten
Diogenes (Verlag)
978-3-257-61544-9 (ISBN)
Benedict Wells wurde 1984 in München geboren, zog nach dem Abitur nach Berlin und entschied sich gegen ein Studium, um zu schreiben. Seinen Lebensunterhalt bestritt er mit diversen Nebenjobs. Sein vierter Roman, ?Vom Ende der Einsamkeit?, stand mehr als anderthalb Jahre auf der Bestsellerliste, er wurde u.a. mit dem European Union Prize for Literature (EUPL) 2016 ausgezeichnet und ist bislang in 38 Sprachen erschienen. Sein letzter Roman, ?Hard Land?, wurde 2022 mit dem Deutschen Jugendliteraturpreis in der Kategorie Preis der Jugendjury ausgezeichnet. Nach Jahren in Barcelona lebt Benedict Wells in Zürich.
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Der Weg zum Schreiben
Es ist das erste Mal, dass ich als Autor an diese Orte zurückkehre. Etwa in das alte Kinderzimmer in München, Ende der Achtzigerjahre. Durch den milchigen Schleier der Erinnerung betrachte ich den Fünfjährigen, der im Stockbett unten schläft. Haare zerzaust, Mund offen, so vieles, was er nicht weiß. Die Welt noch ein winziger Ort, sie reicht vom Hof bis zum Kindergarten, dann franst sie bereits aus. Nächstes Jahr wird er nach der Trennung der Eltern in die Schweiz ziehen, aber nur für wenige Monate. Danach wird er wieder in diesem Bett liegen, zumindest in den Ferien.
Es ist früh am Morgen, das erste Licht der Dämmerung fällt durch das Fenster und bildet in der Mitte des Zimmers ein geheimnisvolles Quadrat. Noch ist es schwach, aber in wenigen Minuten wird es anfangen zu leuchten. Der Fünfjährige hat es geliebt, davon aufzuwachen, doch sonst weiß ich nicht viel über ihn. Er hat mir wenige präzise Erinnerungen hinterlassen, diese ist eine davon: Sanft vom Licht geweckt werden, ein paarmal blinzeln, dann in ein Gefühl von Zuversicht steigen wie in ein Paar warme Hausschuhe …
Aber ich bin hier, weil ich etwas Bestimmtes suche. Gehe an vielen Orten meiner Kindheit und Jugend schnell vorbei, noch immer ein Flüchtling vor der Vergangenheit. Ich möchte für dieses Buch vor allem das mitnehmen, was mir wichtig für mein Schreiben scheint.
Eine Weile blättere ich in den Kinderbüchern im Regal – ein Wiedersehen mit alten Märchen und der Elefantenstadt von König Babar und Celeste –, dann doch wieder ein verstohlener Blick auf den schlafenden Jungen. Er wirkt so winzig. An dem Chaos, das bald zu Hause ausbricht, wird er sich die Schuld geben und glauben, funktionieren zu müssen. Wird nicht auch noch Probleme machen wollen und auf Rückfragen stets mit »schon okay« antworten. Andere haben es schwerer, was sollen die erst sagen? Ein Kind, das im Grunde nicht stattfindet; ein Neverboy, der nur seine Fehler sieht und niemanden mit der eigenen Geschichte behelligen möchte. Der später Romanfiguren als Masken benutzen und seine Gefühle hinter ihren Gefühlen verstecken wird.
Und dennoch muss ich diesen Jungen nun gegen seinen Willen in dieses Buch schubsen, selbst wenn das bedeutet, dass er seine Eltern, seine Schwester und ein paar private Dinge mit hineinreißen wird. Ohne ihn und sein Aufwachsen kann ich nicht von meinem Schreiben erzählen. Es werden nur kurze Bleistiftskizzen, kein farbiges Bild, keine Autobiografie. Wenn ich ehrlich bin, habe ich noch immer keine Sprache für den Jungen, nur einen distanzierten Ton.
Fast, als wäre er jemand anderes.
Dann sehe ich das Stofftier, das unter seinem Arm klemmt, und greife danach. Fünfunddreißig Jahre später ist es noch immer in meinem Besitz: ein Schneetiger, verschrumpelt und angegraut. Ungläubig sehe ich, wie strahlend weiß er hier noch ist. Ich lege ihn zurück und muss lächeln, dann ziehe ich weiter.
Am nächsten Ort werde ich fündig; das nächtliche Bad eines Heims. Der Junge, er muss jetzt sechs oder sieben Jahre alt sein, blättert im grellen Schein der Deckenlampe durch ein Buch. Pu der Bär von A.A. Milne, die erste Geschichte, die er selbst liest. Eine Weile beobachte ich ihn in seinem Pyjama, dann steigt mir ein vergessener Geruch in die Nase: der Essigreiniger, mit dem die Toiletten des Internats geputzt wurden. Seltsam, wie vertraut er wieder ist.
Ich erinnere mich nun auch an die beklommene Stimmung bei manchen Abendessen. Draußen Dunkelheit, auf dem Tisch Graubrot, Butter, Aufstrich, dazu Tee und Milch in Kannen. Wir sitzen zu sechst am Tisch, ein Freund macht einen Witz über einen Erzieher, lautes Gelächter. Ich lache mit und wirke gelöst, doch woher dann dieses sanfte Ziehen im Magen, das die Szene stört?
Geschützt von der Zeit, die zwischen mir und dem Jungen liegt, gehe ich dem Gefühl nach. Sehe ihn lächeln, sehe aber auch die Angst, die darunter liegt. Das Heimweh und das Suchen im immer etwas zu flüchtigen Blick.
Die Bilder in seinem Kopf.
Es ist die Stimmung dieser Abende, die später wie ein Tintenfass neben mir steht, wenn ich Geschichten erzähle.
Nach der Trennung meiner Eltern war meine Mutter mit mir in ihre Schweizer Heimat gezogen. Als ich sechs Jahre alt war, erlebte ich mit, wie ihre manische Depression ausbrach. Normalerweise war unser Verhältnis innig, nun verbrannte sie im Wahn mein Spielzeug oder drohte mir Gewalt an, etwa, mir die Schulter auszukugeln. Sie setzte ihre Schlaftabletten ab und sprach ständig davon, dass sie sterben würde, was ich ihr ebenso oft auszureden versuchte. Ich war monatelang allein mit ihr, bis sie nach einem Zusammenbruch in die Psychiatrie eingeliefert wurde. Danach kam ich erst zu einem Onkel, dann zu meinem Vater, der damals in die Insolvenz abrutschte, sodass nie sicher war, ob wir die Miete bezahlen konnten oder aus der Wohnung fliegen würden. Da er rund um die Uhr arbeiten musste, landete ich schließlich in einem staatlich-katholischen Grundschulheim in Bayern. Es wurde mir ein Zuhause und bot vor allem Stabilität.
Ich war nun umgeben von Kindern, die alle ihre eigenen Gründe hatten, wieso sie nicht daheim wohnten. Manche waren Waisen oder vor einem Krieg geflohen, während die Verwandten zurückbleiben mussten, andere hatten gewalttätige Alkoholikerväter oder sonstige familiäre Probleme. Die Seile und Auffangnetze waren gerissen, dies war der Boden, doch ohne Eltern aufzuwachsen brachte uns einander nahe. Wir prügelten und versöhnten uns wie Geschwister und schipperten im selben wackligen Boot durch die Kindheit. Über unsere wahren Gefühle oder warum wir hier waren redeten wir nie, weil es uns gar nicht in den Sinn kam. Man sah, wie manche von uns mit Mitarbeitern vom Jugendamt Spielsachen kaufen durften, weil sie nichts hatten, man entdeckte nach den Ferien die blauen Flecken des Jungen neben sich und dachte sich seinen Teil, aber man sprach ihn nie darauf an. Das eher kärgliche Heim war für uns eine Zauberwelt, an deren Schwelle alles von zu Hause vergessen war. Egal, welche Dramen dort wieder passiert waren; auf die Frage, wie es war, sagten wir nur »gut« oder erzählten uns fantastische Lügenmärchen von der Villa mit Pool, in der wir alle angeblich lebten.
Während meine Mitschüler im Schlafsaal gegen neun Uhr einschliefen, blieb ich oft noch stundenlang allein wach. Ich hörte die Kirchturmuhr neben dem Heim schlagen – Viertel nach, halb, Viertel vor oder das gefürchtete lange Geläute um Mitternacht – und lauschte dem gleichmäßigen Atmen der anderen. Manchmal geisterte ich nachts durch die schwach beleuchteten Gänge. Solange unsere Erzieherin noch wach war, fühlte ich mich sicher. »Geh ins Bett«, sagte sie liebevoll, wenn sie mich auf ihrem Rundgang entdeckte.
Trost spendeten mir die Bücher, die ich in diesen Nachtstunden auf der Toilette las. Ich liebte Paul Maars Lippels Traum und William Goldmans Die Brautprinzessin (auch wenn ich den ironischen Schatz darin erst Jahre später heben konnte) und fühlte mich von Astrid Lindgren verstanden, speziell von ihren düstereren Werken wie Die Brüder Löwenherz und Mio, mein Mio, während ich mit ihren Heile-Welt-Geschichten aus Bullerbü wenig anfangen konnte.
Meine Mutter und mein Vater schienen damals kaum greifbar und weit weg. Sie hatten spät Kinder bekommen: meine Schwester mit Mitte dreißig und mich mit über vierzig. Ihre Beziehung war kurz nach meiner Geburt zerbrochen. Manche Trennungskinder sehnen sich danach, dass die Eltern wieder zusammenkommen, ich fragte mich eher, wie sie es nur so lange miteinander ausgehalten hatten. Außer früh erlittener Verletzungen und ihrer Faszination für China und Taiwan schienen sie wenig gemein zu haben.
Meine Mutter war abseits ihrer Krankheit eine unverwüstlich fröhliche, kluge und sehr eigenwillige Schweizerin. Sie hatte sich nach Verlässlichkeit gesehnt, mein Vater war das Gegenteil davon: ein charmanter, aber chaotischer Spielertyp, der sich von überallher Geld lieh, unangenehme Briefe ungeöffnet ließ und Probleme verdrängte oder mit Humor nahm. Nach dem Erfolg der gemeinsamen Übersetzung von Pu Yis Ich war Kaiser von China hatte er eine Sinologie-Professur ausgeschlagen, um stattdessen eine Firma zu gründen. Offiziell ein Dienstleistungsunternehmen für den asiatischen Markt, war sie in Wahrheit ein Vehikel für berufliche Träume aller Art. Noch in den Neunzigern, als die Firma vor der Pleite stand und die Gläubiger sich mehrten, erzählte mein Vater mir unbeschwert von immer neuen Plänen, mit denen wir bald doch noch reich würden; allerdings stellten sie sich stets als so fantastisch heraus wie meine eigenen Märchengeschichten von der Villa mit Pool.1 Im Grunde waren er und meine Mutter die ersten Romanfiguren in meinem Leben, und als ich später Schloss aus Glas von Jeannette Walls über ihre Eltern und ihr turbulentes Aufwachsen las, fühlte ich mich darin auf eine tiefe Weise verstanden.
Zugleich...
Erscheint lt. Verlag | 6.9.2024 |
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Verlagsort | Zürich |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Kunst / Musik / Theater ► Malerei / Plastik |
Geisteswissenschaften ► Sprach- / Literaturwissenschaft | |
Schlagworte | Anleitung • Autobiografisch • Bekenntnis • Bestsellerautor • Charaktere • Dialog • Einstieg • Erzählperspektive • Familiengeschichte • Karriere • Kindheit • Krise • Lebensbericht • Lektor • Lesung • Literatur • Literaturagent • Literaturbetrieb • Magie • Meisterwerk • Memoir • Perfektion • Roman • romanfiguren • Sachbuch • Schreibblockade • Schreiben • Schreibprozess • Schreibwerkstatt • Schriftsteller • Sprache • Sprachkunst • Stephen King • Stil • Tipps • Tool • überarbeiten • Verlag • Veröffentlichung • Vorbilder • Werkstatt • Werkstattbericht • Werkzeug |
ISBN-10 | 3-257-61544-2 / 3257615442 |
ISBN-13 | 978-3-257-61544-9 / 9783257615449 |
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