Flusskönige (eBook)
440 Seiten
Ullstein (Verlag)
978-3-8437-3268-0 (ISBN)
Cat Jarman ist Bio- und Feldarchäologin am Institut für Anthropologie und Archäologie der Universität Bristol. Sie forscht seit vielen Jahren zu den Wikingern, einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Rolle von Frauen und Kindern in der Wikingerkultur. Für ihre Bücher verwendet Jarman forensische Techniken wie Isotopenanalyse, Kohlenstoffdatierung und DNA-Analyse an menschlichen Überresten, um die Erfahrungen der Menschen des Mittelalters zu großen historischen Erzählungen zu verarbeiten.
Cat Jarman ist Bio- und Feldarchäologin am Institut für Anthropologie und Archäologie der Universität Bristol. Sie forscht seit vielen Jahren zu den Wikingern, einer ihrer Forschungsschwerpunkte ist die Rolle von Frauen und Kindern in der der Wikingerkultur. Für ihre Bücher verwendet Jarman forensische Techniken wie Isotopenanalyse, Kohlenstoffdatierung und DNA-Analyse an menschlichen Überresten, um die Erfahrungen der Menschen des Mittelalters zu großen historischen Erzählungen zu verarbeiten.
Prolog: Karneol
Im Sommer des Jahres 1982, dem Jahr meiner Geburt, gruben Archäologen in dem verschlafenen Dorf Repton in Derbyshire (Mittelengland) ein Winterlager der Wikinger aus und fanden unter den wirr durcheinanderliegenden Knochen von mehreren Hundert Menschen, die dort in einem Massengrab bestattet waren, eine kleine orangefarbene Perle.
In den nächsten 35 Jahren war die Existenz dieser Perle allerdings beinahe vergessen. Fachgerecht verwahrt, wartete sie darauf, im Depot eines Museums zu verschwinden oder gar in einer seiner hell erleuchteten Vitrinen ausgestellt zu werden: Dort könnte sie sich dann an einem regnerischen Sonntagnachmittag von neugierigen Kindern und genervten Eltern bestaunen lassen.
Doch das alles änderte sich 2017: Zu diesem Zeitpunkt war die Aufgabe, die Geschichten der Toten von Repton zu entwirren, zu einem bedeutenden Teil meines Lebens geworden. Über ein halbes Jahrzehnt hatte ich ihre Knochen forensisch untersucht, hatte bruchstückhafte Informationen aus Pathologieberichten und chemischen Analysen zusammengefügt und versucht, die Identität und die Herkunft dieser Toten herauszufinden. Im Zuge dieser Arbeit war ich auch auf die Perle gestoßen. Damals wusste ich es noch nicht, doch sie sollte meine Suche nach den Wikingern in eine ganz neue Richtung lenken und mein Verständnis der Wikingerzeit radikal verändern.
Genau genommen hatte meine Geschichte mit der Perle aber schon fünf Jahre zuvor und in einem anderen Lebensabschnitt begonnen, an einem knackigen Wintermorgen im Januar 2012, als ich in einem geliehenen Land Rover Defender, der für weitaus abenteuerlichere Reisen als für Fahrten auf einer Autobahn gebaut war, nach Oxford fuhr. Dort wollte ich zwei namhafte Männer treffen. Der erste war einer der renommiertesten Archäologie-Professoren des Vereinigten Königreichs, der für seine Verdienste um die britische Archäologie unter anderem mit dem Orden des Commander of the British Empire ausgezeichnet worden war und dessen Ausgrabungsliste sich wie ein Verzeichnis der bedeutendsten archäologischen Stätten liest. Der andere war der berühmteste Wikingerkrieger Englands.
Ich stand zu diesem Zeitpunkt kurz vor dem Ende meines Masterstudiums an der Universität Oslo, wo ich anhand von Skelettanalysen die Ernährungs- und Migrationsmuster der norwegischen Wikinger studiert hatte (mit dem Ergebnis, dass sie [a] häufig viel Fisch aßen und [b] sehr mobil waren, was beides nicht besonders überraschend war). Als ich einige Monate zuvor nach einem geeigneten Thema für meine Doktorarbeit gesucht hatte, hatte mich einer meiner früheren Professoren mit dem renommierten Archäologen Martin Biddle und dem Wikingerlager in Repton bekannt gemacht. Vielleicht, so schlug er vor, könnte ich meine neu erworbenen forensischen Fähigkeiten auf die ungelösten Fragen rund um die Toten von Repton anwenden, die Martin und seine mittlerweile verstorbene Frau, Birthe Kjølbye, in den 1970er- und 1980er-Jahren ausgegraben hatten. In seinem Oxforder Büro stand Martin für alles, was ich mir als Kind in Norwegen unter England vorgestellt hatte (auch wenn dies hier enttäuschenderweise kein holzgetäfeltes College à la Hogwarts war, sondern ein Betonblock der 1970er-Jahre), und so war meine Entscheidung klar: Ich würde versuchen, den Wikingern aus Repton ihre Geheimnisse zu entlocken, darunter jenem Krieger, dem die Ehre eines Einzelgrabes zuteilgeworden war, während die meisten anderen in einem Massengrab bestattet worden waren.
Fünf Jahre später, 2017, stand ich also kurz vor dem Abschluss meiner Dissertation – die Analyse der Repton-Toten war fast beendet. Doch der Ort ließ mich noch nicht los. Ein Kollege hatte die zwischen Hunderten von anderen Tüten, Schachteln und Umschlägen verstaute Karneolperle in einer Box und noch viel mehr am Abend vorher in mein Haus geschleppt, und an jenem Morgen arbeitete ich mich allmählich durch die Kisten, um mir einen Überblick über die zu leistende Arbeit zu verschaffen. Aus vier Jahrzehnten stammende Expertenberichte, Illustrationen und die Dokumentationen von mehr als 9000 Objekten, die Martin, Birthe und ihre Kollegen während der ersten Ausgrabungen gefunden hatten, waren mir übergeben worden, damit ich meinen Beitrag zur Publizierung der Archivalien leisten konnte.
Daneben gab es zahlreiche Artefakte, die erst noch vollständig analysiert, gezeichnet und fotografiert werden mussten, bevor sie ans Museum in Derby geschickt werden konnten. Die Ausgrabungsfunde von Repton deckten einen Zeitraum von mehr als 1300 Jahren ab und stellten eine echte Zeitreise dar: Sie begann bei den prähistorischen und römischen Anfängen der Stätte und dem von den Wikingern entweihten angelsächsischen Kloster und führte nach einem kurzen Stopp bei der normannischen Burg und dem Priorat der Augustiner bis zur heutigen Pfarrei, Kirche und bekannten Public School.
Die Gegenstände in den Kisten stammten aus jeder dieser Epochen: Römische Emaille-Broschen lagen neben den Scherben verzierter mittelalterlicher Glasfenster und eine beinerne Zahnbürste aus dem 19. Jahrhundert neben einem angelsächsischen Kamm. Ich fühlte mich wie ein Kind, das nach Geschäftsschluss in einem Spielzeugladen herumstöbern durfte.
Die fragliche Perle befand sich in einer durchsichtigen Plastiktüte, sorgfältig in Seidenpapier gewickelt. Sie war orangebraun, etwa einen Zentimeter lang und 1,5 Zentimeter breit, hatte sauber geschliffene facettierte Kanten und eine polierte, glänzende Oberfläche. Abgesehen von einigen Kratzern auf einer Seite und etwas Schmutz im Bohrloch war die Perle in einem perfekten Zustand. Nichts an ihrem Äußeren verriet etwas über ihr Alter: Man hätte sie ohne Weiteres für Modeschmuck aus dem 20. Jahrhundert halten können. Nur aufgrund ihres Aussehens konnte ich nicht sagen, wie alt sie war. Ich nahm das Pappschild aus der Tüte, auf dem etliche Zahlen, Wörter und Buchstaben standen, die sich von Kennern entschlüsseln lassen. Bei einer archäologischen Ausgrabung wird jedes einzelne Objekt akribisch beschrieben und seine Umgebung generalstabsmäßig dokumentiert, damit die präzisen Fundumstände noch Jahrzehnte oder sogar Jahrhunderte später rekonstruiert werden können.
Die Übersetzung dieser Codes in geläufiges Englisch informierte mich darüber, dass die Perle im Spätsommer des Jahres 1982 im selben Grabungsschnitt wie das Massengrab gefunden worden war, auf dessen Analyse ich gerade mehrere Jahre meines Lebens verwandt hatte. Die eingekreiste Zahl 703 bezog sich auf die spezifische Umgebung oder Schicht, in der die Perle zutage gefördert worden war; die Farbe der Erde – sie war als sehr dunkel beschrieben – verwies auf einen hohen organischen Anteil oder, anders gesagt, auf ein Gebiet mit vielen menschlichen Aktivitäten.
In den acht Bänden der Ausgrabungsfunde schaute ich nach, ob man die Perle bei den Viktorianern, Wikingern oder Römern entdeckt hatte. Ein und dieselbe Schicht hatte vielfältige Funde freigegeben, darunter eine angelsächsische Fensterglasscherbe, ein fein geschnitztes gitterförmiges Knochenstück, das wahrscheinlich von einem angelsächsischen Bucheinband stammte, metallurgische Abfälle und undefinierbare Eisenstücke, aber nichts, das aus der Zeit vor dem neunten Jahrhundert datierte. Mit anderen Worten: Die Perle war in den Trümmern, die ein Terrorangriff der Wikinger hinterlassen hatte, gefunden worden, zusammen mit den sterblichen Überresten von 264 Menschen, unter denen sich, wie ich glaubte, einige Kriegstote des Großen Heeres der Wikinger befanden. Warum hatte ich noch nie von ihr gehört?
Bei näherem Hinsehen konnte ich schwach das Wort »Karneol« erkennen, das mit Kugelschreiber oben auf die Tüte geschrieben war. Meine Kenntnisse über diese Gesteinsart waren ein wenig dürftig, doch schon das Wort allein schien exotisch und verlockend. Wie meine Online-Suche ergab, handelt es sich bei einem Karneol um einen Halbedelstein, eine Varietät des Chalzedons, eines Minerals aus der Familie der Silikate. Im späten neunten und frühen zehnten Jahrhundert war er bei den Wikingern in Mode, stammte aber ursprünglich wohl aus Indien und den Gebieten des heutigen Iran und Irak. Perlen wie diese – so las ich weiter – bezeugen Verbindungen mit dem islamischen Kalifat und den Handelsrouten, die zur Seidenstraße gehörten, den antiken Handelsnetzen, die sich wie Spinnweben über große Teile Asiens und Mitteleuropas erstreckten.
Dies war eine Welt, die ich kaum kannte, aber eine, die mich zutiefst faszinierte. Während die Expansion der Wikinger nach Osteuropa und entlang der Handelsrouten von und nach Skandinavien gut bekannt ist, gilt ihre Ausbreitung nach England in der Regel als eine gesonderte Migration. In Geschichtsbüchern zeigen Karten diese gegensätzliche Ausbreitung mit fetten Pfeilen an: von Schweden aus nach Osten, von Dänemark und Norwegen aus nach Westen. Repton war keine Ausnahme – die Interpretation der von mir analysierten Knochen schien nahtlos in das traditionelle Wikinger-Narrativ hineinzupassen, nämlich dass die Nordmänner und Dänen, die im späten achten Jahrhundert nach Westen1 aufbrachen, im Jahr 793 die ahnungslosen Mönche in Lindisfarne brutal überfielen und auf diese Weise die Wikingerzeit...
Erscheint lt. Verlag | 31.10.2024 |
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Übersetzer | Ursula Blank-Sangmeister |
Verlagsort | Berlin |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Mittelalter |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Mittelalter | |
Schlagworte | Archäologie • Handel • Karneol • Kiewer Rus • Klöster • Krieger • Mittelalter • Nordmänner • Normannen • Perle • Piraterie • Raub • Runen • Schiffe • Seefahrer • Skandinavien • Sklaven • Südengland |
ISBN-10 | 3-8437-3268-X / 384373268X |
ISBN-13 | 978-3-8437-3268-0 / 9783843732680 |
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