Was vom Glauben bleibt (eBook)
288 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12366-1 (ISBN)
Bernd Stegemann, geboren 1967, studierte Philosophie und Germanistik an der FU Berlin und der Universität Hamburg sowie Schauspieltheater-Regie an der Hamburger Theaterakademie. Seit 1999 arbeitet er als Dramaturg/Chefdramaturg an verschiedenen Theatern, zuletzt am Berliner Ensemble. Seit 2005 ist er Professor für Dramaturgie und Kultursoziologie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«.
Bernd Stegemann, geboren 1967, studierte Philosophie und Germanistik an der FU Berlin und der Universität Hamburg sowie Schauspieltheater-Regie an der Hamburger Theaterakademie. Seit 1999 arbeitet er als Dramaturg/Chefdramaturg an verschiedenen Theatern, zuletzt am Berliner Ensemble. Seit 2005 ist er Professor für Dramaturgie und Kultursoziologie an der Hochschule für Schauspielkunst »Ernst Busch«.
Glauben ohne Religion
Glauben heißt immer: jemandem etwas glauben.
Josef Pieper[11]
Glauben unterscheidet sich vom Wissen und von der Meinung. Das Wissen hat valide Gründe, warum es etwas für wahr hält. Die Meinung ist sich einer Sache sicher, auch wenn sie dieses nicht hinreichend begründen kann. Der Glaube hingegen weiß nicht und ist doch gewisser als die Meinung. Sowohl Meinung wie Glaube können sich ihrer Schwäche bewusst bleiben oder sich zur fanatischen Gewissheit verhärten. Doch allein der Glaube gründet darauf, eine Beziehung zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten zu stiften. Josef Pieper findet für diese Kraft, die sich über die Immanenz hinaus in die Transzendenz wagt, eine anschaulich weltliche Übersetzung. So wie der religiöse Glaube sich über das, was Menschen wissen können, in den Bereich des Göttlichen hinaus erstreckt, so stiftet der Glaube auf Erden ein Band zwischen der inneren Unendlichkeit der einen Seele mit einer anderen Seele.
Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber hat auf diese Besonderheit des Glaubens verwiesen, als er die zwei Arten des Glaubens unterschieden hat.[12] Der griechisch-christliche Glaube meint ausschließlich das Fürwahrhalten von Sätzen, während der jüdische Glaube das Vertrauensverhältnis zu Gott beansprucht. Josef Pieper widerspricht hier, indem er auch für den christlichen Glauben das Verhältnis zwischen Gott und Mensch zur Grundlage des Glaubens macht.
Glauben ist immer ein Fürwahrhalten von etwas, das jemand mir mitgeteilt hat. Ich kann nicht einer Blume glauben oder dem Sternenhimmel. Ich kann über beide sehr vieles wissen, und bei der Produktion des Wissens über sie sind sie meine wichtigsten Helfer. Will ich ihnen hingegen glauben, schreibe ich der Natur oder dem Kosmos Eigenschaften zu, die sie zu Akteuren mit einem eigenen Willen machen. Ich kann also nur jemandem glauben, mit dem ich in einem Verhältnis zwischen Ich und Du stehe.
Es gibt aber noch einen weiteren Unterschied zwischen dem Wissen und dem Glauben. Niemand muss glauben, und es gibt keine zwingenden Beweise, die den Glauben notwendig machen. Zu glauben ist immer eine freie Entscheidung. Wer hingegen in den Kategorien der Vernunft denkt, der muss ihren logischen Schlüssen folgen. Es ist keine Glaubensfrage und es ist auch keine Frage der freien Entscheidung, ob zwei mal zwei vier ergibt. In Glaubensfragen gibt es diesen Zwang der Logik nicht. Wer glaubt, könnte nicht glauben oder an etwas anderes glauben. So zumindest denkt es der Ungläubige. Die Freiheit des Glaubens ist aber nur solange existent, wie noch nicht geglaubt wird.
Es gibt aber nicht nur zwei Arten zu glauben, wie Martin Buber meint, sondern im Glauben sind zwei verschiedene Dimensionen verborgen. Zum einen ist mit dem Glauben eine menschliche Fähigkeit gemeint, und zum anderen wird im Glauben etwas vorgestellt, an das geglaubt wird. Im Englischen gibt es für diese unterschiedliche Bedeutung zwei verschiedene Worte: faith bedeutet glauben im Sinne von Vertrauen, und believe bedeutet glauben im Sinne eines religiösen Glaubens an Gott. Ein Für-wahr-Halten im Vertrauen und das Für-wahr-Gehaltene im Glauben sind verschieden und müssen im religiösen Glauben zusammenfinden.
Im deutschen »glauben« ist dieser Unterschied bereits in der Sprache aufgehoben. An jemanden zu glauben, vertrauensvoll gläubig zu leben oder an Gott zu glauben und dann im Glauben zu leben, diese verschiedenen Existenzweisen sind sprachlich nur mit Mühe zu differenzieren. Der Vorzug dieses Ein-Wort-Glaubens besteht darin, dass sogar in den säkularen Glaubensanstrengungen, wie sie sich im Vertrauen finden, noch die religiöse Dimension des Glaubens im Sinne eines Bekenntnisses mitschwingt.
Schaut man hingegen dorthin, woran im believe geglaubt wird, so werden die Unterschiede, die im Ein-Wort-Glauben aufgehoben scheinen, gewaltig. An einen Gott zu glauben, ist ein kategorisch anderes Für-wahr-Gehaltenes als an sich selbst oder den wissenschaftlichen Fortschritt zu glauben. Und noch schwieriger wird es, wenn man bedenkt, dass das Für-wahr-Gehaltene-Göttliche des believe nicht zu allen Zeiten das gleiche meint. Der Umbau des heidnischen Glaubens in der Antike zum christlichen Glauben war gewaltig. Der vor-christliche Gläubige empfand sich als Teil des Kosmos, der von zahlreichen Gottheiten beseelt war. Seele und Götterhimmel standen miteinander in Resonanz. Der Monotheismus zerbrach dieses Einheitsgefühl und ersetzte es im christlichen Glauben durch einen Gott, der seinen Sohn für die menschliche Schuld geopfert hat. Aus dem erstrebten Gleichklang von Seele und Kosmos wurde ein komplexes Verhältnis zwischen dem einen Gott und jedem einzelnen Menschen.
Das Geheimnis des believe besteht darin, dass das Vertrauen-Können sich auf eine transzendente Dimension hin erstreckt. Schaut man mit ungläubigen Augen auf das believe, so wird das darin geglaubte Göttliche zu einem Produkt, das das menschliche Vertrauen (faith) selbst hergestellt hat. Schaut man hingegen mit gläubigen Augen darauf, so strahlt das Göttliche so stark auf den Gläubigen zurück, dass sich die Frage, ob es Gott geben kann, nicht stellt. Nach dreihundert Jahren, in denen ein Leben ohne transzendenten Glauben geübt werden sollte, erscheint aber auch diese Rückwirkung des Göttlichen nicht mehr anders denn als eine menschliche Projektion. Der Glaube wird zu einer raffinierten Art der Selbstüberlistung. Man glaubt an etwas, von dem man vergessen will, dass man es selbst herbeiphantasiert hat.
Die Folgen der Säkularisation sind allgegenwärtig. Eine Kraft, die im Monotheismus gebündelt und in der zugehörigen Konfession geformt worden war, ist zu einer diffusen Energie geworden, die in allen Lebensbereichen vorhanden und unsichtbar zugleich ist. Diese säkularisierte Existenzweise des Glaubens ist das Kennzeichen aufgeklärter Gesellschaften. Sie betrifft nicht nur die Glaubensinhalte, sondern ebenso sehr die Glaubensfähigkeit.
¶
Im philosophischen Denken finden sich zwei Argumentationen, die typisch für die säkulare Haltung zum Glauben sind. Auf der einen Seite wird die Unverfügbarkeit des Geglaubten zur Prüfung des Wissens gemacht, und auf der anderen Seite soll die Grenze der Vernunft zur Begründung des Glaubens werden.
Die Formel für die Prüfungen der Unverfügbarkeit lautet: Credo quia absurdum. Ich glaube, weil es absurd ist. Der Kreuzestod und die Wiederauferstehung widersetzen sich dem menschlichen Denken. So wird die Anerkennung von Tod und Wiederauferstehung zu einer Prüfung des Hochmuts. Nur wer seine Rationalität in diesem Punkt zu überwinden versteht, der findet zum Glauben. Ein solcher Glaube verwischt aber den Unterschied zwischen der Demut und der Demütigung. Wenn der Glaube nur durch eine Demütigung des rationalen Denkens erfahren werden kann, so zielt seine Tendenz zwar in die göttliche Richtung, doch ist sein Mittel folgenreich für das Leben des Gläubigen. Denn was soll aus dieser grundlegenden Demütigung folgen? Eine Genügsamkeit allem Gegenüber, was den Verstand zu übersteigen scheint? Und wie soll die Grenze zwischen dem Verstehbaren und dem Nichtverstehbaren gezogen werden?
Die zweite säkulare Auflösung des Glaubensparadoxes ist ähnlich folgenreich. Hier wird die Grenze des Verstehens zum Indiz des Glaubens. Auch diese Bewegung geht Schritte in die Richtung des christlichen Glaubens, doch weicht ihr Weg ebenfalls in einem zentralen Punkt davon ab. Die Erinnerung an die Grenzen der Vernunft gehört zum Wesen der Aufklärung wie des Glaubens. Doch je nachdem, von welcher Seite diese Grenze bestimmt wird, nimmt sie einen anderen Verlauf und hat eine andere Bedeutung. Der Glaube zieht die Grenze aufgrund seiner Erfahrung des Göttlichen. Sie ist lebendige Achtung vor der Schöpfung. Der Gläubige steht auf der Seite der Grenze, die seinem Geist verständlich ist, doch tastet seine Seele auf die andere, unverfügbare Seite und erhofft sich von dort eine Berührung.
Die Rationalität steht ebenfalls auf der Seite der Vernunft, schaut aber in die entgegengesetzte Richtung. Sie zieht die Grenze entlang ihres Wissens und steht dann mit dem Rücken zur Grenze der Transzendenz. Von dort aus richtet sich ihre ganze Aufmerksamkeit auf das, was sie wissen kann. Hinter ihrem Rücken, dort wo das Nichtverstandene beginnt, soll Gott wohnen. Seine vermutete Anwesenheit ist keine Frage, die ins Offene zielt, sondern die beruhigende Versicherung, dass auch hinter dem Rücken der Rationalität noch alles in Ordnung ist. Der Glaube wird zu einer Funktion der Rationalität, die ihre Widerspruchsfreiheit nur dadurch sicherstellen kann, dass sie die Transzendenz in einen von Vernunft umhegten Bereich verwandelt. Das Göttliche wird zu einer psychischen Funktion, die dem weltlichen Ordnungsbedürfnis dient. Wird Gott als Prothese für die Defekte des menschlichen Geistes gedacht, ist es wiederum naheliegend, Gott als Projektion für die unerlösten Wünsche und unlösbaren Fragen (Kant und Feuerbach), als Manipulationsmittel der Macht (Marx), als Symptom einer Neurose (Freud) oder als sterbliche Idee (Nietzsche) zu erklären.
In beiden Fällen – der Absurdität und der rationalen Unverfügbarkeit – schafft das säkulare Denken ein Bild des Glaubens, das seinem Nichtglauben entspricht. Im Fall der Absurdität wird der Glaube als eine selbstbewusste Leistung in der Unterwerfung vorgestellt, und im Fall der Transzendenz, die als vernünftige Erklärung für das Unerklärliche dient, wird der Glaube zu einem vorläufigen Sachwalter der Rationalität, der so lange geduldet wird, bis die...
Erscheint lt. Verlag | 7.9.2024 |
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Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
Schlagworte | Askese • Aufklärung • Bibel • Christentum • Die Öffentlichkeit und ihre Feinde • Dogma • Fortschritt • Freiheit • Glaube • Glaubenskriege • Glaubenskrisen • Glaubensverlust • Gnosis • Immanenz • Individualismus • Islamismus • Judentum • Kapitalismus • Kenosis • Kirchenaustritt • Kulturpessimismus • Liberalismus • Metanoia • Mythos • Neue Sachbücher 2024 • Neues Sachbuch 2024 • Orientierungslosigkeit • Politische Theologie • Protestantismus • Rationalität • Religion • Religionskritik • religiöse Debatten • Ritus • Säkularisierung • Subjektivität • Transzendenz • Weltflucht |
ISBN-10 | 3-608-12366-0 / 3608123660 |
ISBN-13 | 978-3-608-12366-1 / 9783608123661 |
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