Der Kontinent ohne Eigenschaften -  Peter Sloterdijk

Der Kontinent ohne Eigenschaften (eBook)

Lesezeichen im Buch Europa | Peter Sloterdijks vielbeachtete Vorlesungen am Collège de France
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
296 Seiten
Suhrkamp (Verlag)
978-3-518-78043-5 (ISBN)
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Über Europa sind viele Bonmots und Untergangsdiagnosen im Umlauf. Man wisse nicht, unter welcher Nummer man Europa erreichen könne, seine Bewohner seien dekadent, der Halbkontinent, der einst den »Rest der Welt« kolonisierte, sei nun seinerseits in den Rest geraten etc.

Doch wie im Fall Mark Twains erweisen sich Nachrichten vom Ableben der »Alten Welt« regelmäßig als stark übertrieben. Gleichwohl sind sich die Europäer ihrer Eigenschaften nicht mehr sicher: »Sie wissen nicht, woher sie kommen, erst recht nicht, wohin die Reise geht.« Um Orientierung zu stiften, blättert Peter Sloterdijk im Buch Europa einige Lesezeichen auf, etwa das des Kulturphilosophen Eugen Rosenstock-Huessy, der die »Autobiografie des westlichen Menschen« als Sequenz politischer Revolutionen erzählte. Sloterdijk öffnet auch das »Buch der Geständnisse«, aus dem sich ein bezeichnender Geist der Selbstkritik erklärt. Und er zitiert aus dem »Buch der Ausdehnungen«, das Europas Missionen im Zeitalter der nautischen Globalisierung illustriert.

Was ist Europa also? Jedes Gemeinwesen, das sich in der Tradition Roms sieht? Ein sich selbst verstärkender Lernzusammenhang? Das wahre Europa, so Sloterdijk, findet sich überall dort, wo die schöpferischen Leidenschaften denen des Ressentiments den Rang abgelaufen haben.



<p>Peter Sloterdijk wurde am 26. Juni 1947 als Sohn einer Deutschen und eines Niederländers geboren. Von 1968 bis 1974 studierte er in München und an der Universität Hamburg Philosophie, Geschichte und Germanistik. 1971 erstellte Sloterdijk seine Magisterarbeit mit dem Titel <em>Strukturalismus als poetische Hermeneutik</em>. In den Jahren 1972/73 folgten ein Essay über Michel Foucaults strukturale Theorie der Geschichte sowie eine Studie mit dem Titel <em>Die Ökonomie der Sprachspiele. Zur Kritik der linguistischen Gegenstandskonstitution</em>. Im Jahre 1976 wurde Peter Sloterdijk von Professor Klaus Briegleb zum Thema<em> Literatur und Organisation von Lebenserfahrung. Gattungstheorie und Gattungsgeschichte der Autobiographie der Weimarer Republik 1918-1933</em> promoviert. Zwischen 1978 und 1980 hielt sich Sloterdijk im Ashram von Bhagwan Shree Rajneesh (später Osho) im indischen Pune auf. Seit den 1980er Jahren arbeitet Sloterdijk als freier Schriftsteller. Das 1983 im Suhrkamp Verlag publizierte Buch <em>Kritik der zynischen Vernunft</em> zählt zu den meistverkauften philosophischen Büchern des 20. Jahrhunderts. 1987 legte er seinen ersten Roman <em>Der Zauberbaum</em> vor. Sloterdijk ist emeritierter Professor für Philosophie und Ästhetik der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe und war in Nachfolge von Heinrich Klotz von 2001 bis 2015 deren Rektor.</p>

Zweite Eröffnungsrede
Lateineuropa
Der Kontinent, das imperium und seine Übertragungen


Eine Erdgegend wie Europa einen »Kontinent« zu nennen scheint fürs erste eine sprachliche Konvention ohne Risiko zu sein. Sie profitiert von dem seit dem 18. Jahrhundert eingeschliffenen Irrtum von Kartenzeichnern und Geographen, zusammenhängende Landmassen als Kontinente zu bezeichnen, als ob die ausgedehnten Festlandböden Behälter wären, die das, was in ihnen liegt und auf ihnen errichtet wird, zu »Inhalten« machten. Seit der durch die Fahrten von Kolumbus und Magellan eröffneten planetarischen Moderne sollten wir wissen, warum das Verhältnis von Inhalt und Behälter sich umgekehrt darstellt. Die effektiven Behälter, die den Namen continens, »das Zusammenhaltende«, verdienen, sind die globalen Meere, die man nach dem griechischen Weltfluß okeanos benannte, indessen die großen Landmassen, richtig verstanden, nicht Kontinente, Behälter, container sind, sondern Inhalte, contents, vom Meer umspülte Zusammenhänge aus Böden und Populationen.

Suchen wir für den Inhalt »Europa« nach geeigneten Bezeichnungen, so stoßen wir auf ein ausweichendes Phänomen, dem man vergebens eine »Identität« anzuheften versucht. Was ist denn Europa? Hat dieses Gebilde ein Wesen, einen Kern, eine Substanz? Die verneinenden Antworten auf die oft gestellten Fragen sind zu zahlreich, um sie im einzelnen zu rekapitulieren. Ist Europa, abgesehen davon, daß es den als eigenen Kontinent mißverstandenen westlichen Anhang der asiatischen Landmasse bildet – aus der Sicht Valérys deren agiles »Vorgebirge«, in Derridas Augen das »andere Kap«, nach der Auffassung des Slawophilen Danilewski nicht mehr als ein konfuses Aggregat aus Halbinseln –, dennoch irgend etwas Reales, woran man seine Bestimmung festmachen könnte? Wir möchten uns hier – nach mehr als einhundert Jahren kontroverser Reden über die »Natur«, das »Wesen«, die »Substanz«, die »Grenzen«, die »Mission«, die »Bürde«, die »Passion« oder das »Erbe« Europas zu einem strikt pragmatischen Zugang bekehren. Statt essentialistische Phantome zu jagen, begnügen wir uns mit der Frage: Was tut Europa, wenn es am meisten bei sich selbst ist? Dies kommt der Frage gleich, ob es etwas gibt, woran man Europäer erkennt, sobald sie sich als typische Agenten ihres kulturellen Pols verhalten?

Kurzum, wir bekennen uns zu der Notwendigkeit, daß, wenn man von Europa reden will, ein Übergang vom essentialistischen oder substantialistischen zum dramaturgischen oder szenographischen Denken zu vollziehen ist. Was man Intelligenz oder »die Fähigkeit, zu verstehen«, nennt, bezieht sich von alters her nicht nur auf Zeichen, Wörter und Sätze, wie es unter modernen Sprachphilosophen common sense wurde, es bezieht sich seit jeher auch auf Gesamtlagen aus bedeutungsgeladenen Situationen, die man unter Theaterleuten »Szenen« nennt. Intelligenz zeigt sich nicht zuletzt in der Fähigkeit, in Szenen zu lesen oder Lagen zu erfassen. Europa dramaturgisch und szenisch zu denken – das impliziert die Aufgabe, einen privilegierten Ort innerhalb dieses Weltteils zu bezeichnen, in dem das Drehbuch und die Regieanweisung für das später Folgende aufgesetzt wurden.

Wenn wir im Folgenden vom »Buch Europa« sprechen und ankündigen, in ihm sollten einige Lesezeichen eingelegt werden – und dies, wie man sehen wird, bevorzugt an wenig gelesenen Stellen –, sollten wir uns über die Metapher des Buchs verständigt haben. Bücher und Kulturen haben das Merkmal gemeinsam, daß in ihnen das »Umblättern« und die Fortsetzung von Lebensweisen in folgenden Generationen formale Äquivalente bilden. Zwischen Kulturen und Büchern bilden die Modi des Lesens beziehungsweise die Formen des Re-Inszenierens eine dritte Größe. Sie sorgen dafür, daß es zu Wiederaufführungen früherer, zu »Stücken« geronnener Elemente einer Kultur kommen kann. Re-Inszenierungen bilden die aktive Mitte zwischen dem Umblättern und der Fortpflanzung. Der nächsten Seite entspricht die nächste Generation.

Vergegenwärtigen wir uns für einen Augenblick die Bedeutsamkeit der Geste des Umblätterns für das historische Bewußtsein im allgemeinen, ja für den Sinn von Kohärenz und Reihenfolge überhaupt. In seiner 1975 publizierten Erzählung »Das Sandbuch« (»El libro de arena«) hat der argentinische Dichter Jorge Luis Borges den Albtraum jedes Historikers geschildert, mehr noch den eines jeden Menschen, der sich der Ordnung der Dinge unter dem Gesetz des Nacheinander vergewissern möchte.

Eines Tages klingelt es an der Tür des Erzählers, ein Fremder nordländischen Aussehens stellt sich vor mit dem Anliegen, Bibeln zu verkaufen – er habe aber noch ein anderes heiliges Buch in seinem Besitz, das für einen Liebhaber vermutlich von Interesse sei. Der Bibelhändler fügt hinzu, er habe das Buch in Indien bei einem Unberührbaren, der nicht lesen konnte, im Tausch gegen einige Rupien und eine Bibel erworben. Tatsächlich findet sich auf dem Buchrücken die Inschrift Holy Writ und der Name des Verlagsorts: Bombay. Der Vorbesitzer habe behauptet, das Buch heiße das »Sandbuch«, weil weder dieses Buch noch der Sand Anfang und Ende hätten.

Der Erzähler berichtet nun, er sei bei seinen Versuchen, die erste oder die letzte Seite des Werks aufzuschlagen, mehrmals gescheitert: Es blieben zwischen dem blätternden Finger und dem Buchdeckel stets ein paar Seiten, die aus dem Buch hervorzuquellen schienen. Als der Erzähler es irgendwo in der Mitte aufschlägt, erscheint auf der linken Seite die Paginierung 40 ‌514, rechts gegenüber steht die Zahl 999. Blättert er um, zeigt sich auf der folgenden Seite eine achtstellige Zahl. Es erweist sich als unmöglich, eine einmal geöffnete Seite wiederzufinden.

Dem Ausruf des Erzählers: »Das ist nicht möglich«, erwidert der Verkäufer mit leiser Stimme:

– Das ist nicht möglich und dennoch ist es so. Die Zahl der Seiten dieses Buchs sind exakt unendlich. Keine ist die erste, keine die letzte. Ich weiß nicht, warum sie auf so willkürliche Art numeriert sind. Vielleicht um auszudrücken, daß die Elemente einer unendlichen Reihe auf absolut beliebige Weise beziffert werden können.

Dann fügte er, als ob er nachdächte, hinzu: – Wenn der Raum unendlich ist, sind wir an einer beliebigen Stelle im Raum. Wenn die Zeit unendlich ist, dann sind wir an einer beliebigen Stelle in der Zeit.[24] 

Wie kaum eine andere Geschichte weist das böse Märchen vom Sandbuch auf das humane Interesse an der Endlichkeit hin. Nur in endlichen Verhältnissen läßt sich sinnvoll von Reihenfolgen, Konsequenzen und Proportionen sprechen; sie bilden die Grundfiguren dessen, was gegeben sein muß, damit die wohltätige Fiktion von der Erzählbarkeit einzelner Lebensgeschichten und umgreifender Kollektivgeschichten in Kraft bleibt. Das Sandbuch bedeutet die Unmöglichkeit, eine Geschichte zu erzählen; es impliziert die Vergeblichkeit jedes Versuchs, mit Hilfe des Lesezeichens eine bestimmte Seite wiederzufinden.

Man sollte hier wohl daran erinnern, daß in der antiken Gattung der bioi die europäische Utopie des »Seins zum Buche« aufgetaucht war. Sie spiegelte sich in der von Plinius dem Jüngeren geprägten, von den Humanisten des 16. Jahrhunderts gern zitierten Devise des Lebens im Licht der Bemerkenswürdigkeit: aut scribenda agere aut legenda scribere. »Man handle so, daß es sich lohnt, es aufzuschreiben, und man schreibe so, daß es sich lohnt, es zu lesen!«

Wird Europa als »Buch« vorgestellt, ist eo ipso ein geskriptetes Produkt gemeint. Als gültiges Skript zeichnet es den Vorgängen, von denen es handelt, mehr oder weniger feste Plätze in einer nicht umkehrbaren Zeitreihe vor. Manche Skripte jedoch – auch das hier besprochene – weisen die Merkwürdigkeit auf, daß, wer sie liest, es unversehens riskiert, in eine Neuauflage einbezogen zu werden, und dies nicht bloß zufällig. Sie werden verfaßt, um dem Leser mit einem resoluten tua res agitur! – es geht um dich selbst! – die Illusion der unbeteiligten Lektüre zu rauben.[25] 

Was die Härte von Machtgebilden im politischen Raum mit der Sphäre des Buches verbindet, ist das, was man die symbolische Funktion nennt. Als soft-power-Gebilde gehören Bücher der Dimension der Zeichen an. Der Primus unter den Zeichen ...

Erscheint lt. Verlag 18.11.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Sachbuch/Ratgeber Geschichte / Politik Politik / Gesellschaft
Geisteswissenschaften
Schlagworte AfD • Der Untergang des Abendlandes • Emmanuel Macron • EU Europäische Union • Eugen Rosenstock-Huessy • Europa • Europäische Union • Europapreis für politische Kultur 2021 • Georg Wilhelm Friedrich Hegel • Geschichtsphilosophie • Helmuth-Plessner-Preis 2017 • Ludwig-Börne-Preis 2013 • Olaf Scholz • Oswald Spengler • Rechtspopulismus • Rom • Römisches Reich • Souveränisten • Sphären • Tranlsatio Imperii • Untergang • Ursula von der Leyen • USA • Weltordnung
ISBN-10 3-518-78043-3 / 3518780433
ISBN-13 978-3-518-78043-5 / 9783518780435
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