Die klassische Welt (eBook)
720 Seiten
Klett-Cotta (Verlag)
978-3-608-12349-4 (ISBN)
1
Die Epik Homers
So sprach er und erregte ihm die Lust nach der Klage um den Vater,
Und er fasste seine Hand und stieß sanft den Alten von sich.
Und die beiden dachten: der eine an Hektor, den männermordenden,
Und weinte häufig, zusammengekauert vor den Füßen des Achilleus,
Aber Achilleus weinte um seinen Vater, und ein andermal wieder
Um Patroklos …
Homer, Ilias 24,507 – 512 (Übers. W. Schadewaldt)
Als Hadrian durch Griechenland reiste, machte er im Jahr 125 Halt in Delphi, dem berühmtesten Orakel des Landes, und richtete an Apollon, den des Orakels, die schwierigste Frage: »Wo wurde Homer geboren und wer waren seine Eltern?« Die alten Griechen selbst pflegten zu sagen: »Beginnen wir bei Homer«, und gute Gründe sprechen dafür, auch eine Geschichte der klassischen Antike mit ihm beginnen zu lassen.
Homer gehört weder in die »Morgendämmerung« der von Griechen besiedelten Welt noch an den Anfang der griechischen Sprache. Für uns ist er ein Anfang, weil in den beiden großen Epen, der Ilias und der Odyssee, die ersten langen Texte in griechischer Sprache erhalten geblieben sind. Aus dem 8. Jahrhundert v. Chr., nach Ansicht der meisten Wissenschaftler die Lebenszeit Homers, liegt uns der erste Beweis für den Gebrauch des griechischen Alphabets vor, des praktischen Schriftsystems, in dem seine epischen Dichtungen überliefert wurden. Der bisher früheste Beleg stammt aus den 770er Jahren v. Chr., und mit kleinen Veränderungen wird dieses Alphabet noch heute benutzt, um neugriechisch zu schreiben. Auch vor Homer waren Griechenland und die Ägäis nicht arm an historischen Ereignissen, aber in den vorausgegangenen vier Jahrhunderten war nichts schriftlich festgehalten worden außer ansatzweise in Zypern. Die Archäologie ist unsere einzige Quelle für diese Epoche, ein »dunkles« Zeitalter – für uns, doch nicht »dunkel« für die Menschen, die damals lebten. Die Archäologen haben zwar unser Wissen über diese Zeit erheblich ausgeweitet, aber die auf dem Alphabet beruhende Schriftlichkeit eröffnet den Historikern ein neues Spektrum von Quellenmaterial.
Nun waren Homers epische Gesänge allerdings keine Geschichtsschreibung, und sie beziehen sich auch nicht auf seine eigene Zeit. Ihr Thema sind mythische Heroen und deren Taten im und nach dem Trojanischen Krieg, den Homer die Griechen in Asien führen lässt. Eine große Stadt Troja (Ilion) hatte es nachweislich gegeben und vielleicht auch einen Krieg dieser Art, aber Homers Heldenfiguren Hektor, Achill und Odysseus sind eine Erfindung des Dichters. Für den Historiker ist der Wert dieser großen Epen ein ganz anderer: Sie verraten die Kenntnis einer realen Welt, eines Sprungbretts für die Imagination der größeren epischen Welt der griechischen Sage, und sie dokumentieren Werte, die vorausgesetzt, aber auch ausdrücklich erklärt werden. Sie geben Anlass zum Nachdenken über die Wertvorstellungen der ersten griechischen Zuhörer, wo und wer immer sie gewesen sein mögen, führen aber auch weiter zum Wertbewusstsein und zur Sinnesart der späteren Völker in der sich entwickelnden Welt der Klassik. Denn die beiden Homerischen Epen, Ilias und Odyssee, blieben die anerkannt überragenden Meisterwerke, deren Bewunderung die Jahrhunderte überdauerte – beginnend zu Lebzeiten des Verfassers, setzte sie sich ununterbrochen fort bis in die Epoche Hadrians und die Endzeit der Antike. Die Geschichten der Ilias über den Trojanischen Krieg, den Zorn des Achilles, seine Liebe zu Patroklos – die nicht unzweideutig als sexuelle Beziehung dargestellt wird – und den Tod Hektors zählen noch immer zu den berühmtesten Mythen der Welt, und was uns die Odyssee von der Heimfahrt des Odysseus, von Penelope, den Zyklopen, der Zauberin Kirke und den Sirenen erzählt, gehört für viele von uns zu den bleibenden Erinnerungen aus jungen Jahren. Höhepunkt der Ilias ist der ergreifende Augenblick des geteilten Leides um den Verlust eines geliebten Menschen in der Begegnung des Achilles mit dem greisen Priamos, dessen Sohn er getötet hat. Die Odyssee wiederum bietet in der Figur des Odysseus, den es zurück in die Heimat verlangt, die erste bekannte Darstellung des Heimwehs. Auch dort begegnet der Leser gegen Ende des Epos der erschütternden Schwäche des Alters, wenn der heimkehrende Odysseus seinen Vater erblickt, wie er beharrlich an seinen Obstbäumen arbeitet und nicht glauben will, dass sein Sohn noch lebt.
Die Epen schildern eine Welt der Helden, die nicht so sind »wie sterbliche Menschen in unseren Tagen«. Anders als die Griechen zu Homers Lebzeiten tragen diese Helden fabulöse Rüstungen, bewegen sich in der Gesellschaft von Göttern in menschlicher Gestalt, benutzen Waffen aus Bronze – nicht aus Eisen wie die Zeitgenossen Homers – und begeben sich auf Streitwagen in die Schlacht, um dann zu Fuß zu kämpfen. In den von Homer beschriebenen Städten findet sich neben einem Palast ein Tempel, obwohl diese Bauwerke in der Welt des Dichters und seiner Zuhörer gar nicht nebeneinander vorkamen. Für Homer und sein Publikum war diese epische Welt im Wesentlichen sicher nicht die ihre, sondern eine Spur erhabener. Und dennoch scheinen ihre Sitten und Gebräuche, auch ihr sozialer Rahmen besonders in der Odyssee allzu kohärent, um nur der vagen Erfindung eines einzelnen Dichters zu entspringen. Dass dem Text Realität zugrunde liegt, hat sich bei einem Vergleich dieser epischen Welt mit jüngeren Gesellschaften ohne schriftliche Überlieferung bestätigt, ob nun im vorislamischen Arabien oder in der Stammesgesellschaft Nuristans in Nordostafghanistan. Es gibt eine Verwandtschaft der Lebensgewohnheiten, aber globale Vergleiche dieser Art sind schwer zu überprüfen, und überzeugendere Argumente für den Wirklichkeitsgehalt der Epen liefert ein Vergleich bestimmter Aspekte des Textes mit sozialen Strukturen der Griechen nach Homer. Stoff für solche Vergleiche ist reichlich vorhanden, vom Brauch, Geschenke zu geben, der noch in Herodots Geschichtsschreibung (um 430 v. Chr.) eine bedeutende Rolle spielt, bis zu Grundmustern von Gebet und Opferriten, die sich im Lauf der Geschichte des kultischen Brauchtums der Griechen unverändert erhielten, oder den Werten und Idealen, wie sie für die attische Tragödie des 5. Jahrhunderts formstiftend waren. Homer zu lesen heißt also nicht nur, sich mitreißen zu lassen von Pathos und Eloquenz, Ironie und adliger Haltung, sondern auch, in eine soziale und ethische Welt einzutauchen, die noch griechischen Persönlichkeiten von Rang, die auf ihn folgten, vertraut war – dem Dichter Sophokles wie auch Alexander dem Großen, einem begeisterten Verehrer Homers. Im klassischen Athen des späten 5. Jahrhunderts v. Chr. hielt der reiche und politisch konservative General Nikias seinen Sohn dazu an, die Homerischen Epen auswendig zu lernen. Ohne Zweifel war dieser in seiner sozialen Schicht nicht der Einzige, der sich solchen Übungen unterzog: Die den Heroen eigene noble Verachtung der Massen konnte ihre Wirkung auf diese jungen Männer nicht verfehlen.
Homer also blieb in der Welt der Antike über seinen Tod hinaus von Bedeutung. Kaiser Hadrian allerdings wird nachgesagt, er habe ihm einen obskuren gelehrten Poeten, Antimachos (um 400 v. Chr.), vorgezogen, der über Homers Leben geschrieben hatte. Der Auftakt des Buches mit Homer gibt uns Gelegenheit, Hadrians abwegige literarische Vorliebe zu korrigieren; seine Frage nach der Herkunft Homers können wir dagegen nicht beantworten.
Auch wenn der Gott in Delphi die Antwort kannte, seine Priester gaben sie ganz offenbar nicht preis. Städte in der gesamten griechischen Welt erhoben den Anspruch, Geburtsort des Dichters zu sein, doch über sein Leben ist uns nichts bekannt. Die Ilias und die Odyssee sind in einem artifiziellen, poetischen Dialekt verfasst, der ihrem komplexen Metrum, dem Hexameter, entgegenkommt. Ihre Wurzeln hat diese epische Sprache in den als Ostgriechisch (Ionisch) bekannten Dialekten. Ein Dichter aber hätte sie allerorts lernen können, sie war ein professionelles Hilfsmittel für Verfasser von Versen im Hexameter, keine Spielart gesprochener griechischer Umgangssprache. Aufschlussreicher ist die Tatsache, dass Anklänge an den täglichen Sprachgebrauch, wie sie sich in der Ilias finden, manchmal Verweise auf spezifische Orte oder Vergleiche in der ostgriechischen Welt Kleinasiens enthalten. Solche Vergleiche mussten den Zuhörern bekannt sein. Vielleicht haben der Dichter und sein ursprüngliches Publikum tatsächlich dort (in der heutigen Türkei) oder auf einer benachbarten Insel gelebt. Einige Forscher verbinden Homer mit der Insel Chios, weil ein Stück ihrer Küste in der Ilias zutreffend beschrieben ist, andere mit dem gegenüber von Chios auf dem Festland gelegenen Smyrna (heute Izmir).
Nicht weniger umstritten ist die Lebenszeit Homers. Jahrhunderte später, als die Griechen versuchten, sie zu bestimmen, legten sie Eckwerte fest, die nach unserer Zählung den Jahren um 1200 und 800 v. Chr. entsprächen – eine viel zu frühe Datierung, doch anders als ihre griechischen Vertreter wissen wir inzwischen, dass die Homerischen Epen auf noch weit ältere Orte und Paläste verweisen, deren Geschichte bis in die Zeit vor 1200 v....
Erscheint lt. Verlag | 28.10.2024 |
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Übersetzer | Ute Spengler |
Verlagsort | Stuttgart |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Sachbuch/Ratgeber ► Geschichte / Politik ► Vor- und Frühgeschichte / Antike |
Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► Vor- und Frühgeschichte | |
Schlagworte | Altertum • Antike • Antike Geschichte • Demokratie • Geschenk für Antike Fans • griechische Geschichte • griechische Klassik • Griechische Kunst • Homer bis Hadrian • Mythologie • Neues Taschenbuch 2024 • Oligarchie • Römische Geschichte • römische Klassik • Römische Kunst • Weltgeschichte |
ISBN-10 | 3-608-12349-0 / 3608123490 |
ISBN-13 | 978-3-608-12349-4 / 9783608123494 |
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