Essstörungen verstehen und überwinden (eBook)
240 Seiten
Riva Verlag
978-3-7453-2512-6 (ISBN)
Gabriella Rocchi hat seit 2001 eine eigene Praxis als selbständige Ernährungsberaterin in ihrer Wahlheimat Münster. Seit 2014 lehrt Rocchi an der FH für Oecotrophologie in Münster, als freie Dozentin wird sie für Vorträge und Seminare zu Ernährungs- und Gesundheitsthemen gebucht. Weiterhin berät sie pädagogisches Personal in der Jugendhilfe zum Thema Essstörung. Rocchi verfügt über zwanzig Jahre Berufserfahrung im Umgang mit Betroffenen und Angehörigen von Essstörungen.
Gabriella Rocchi hat seit 2001 eine eigene Praxis als selbständige Ernährungsberaterin in ihrer Wahlheimat Münster. Seit 2014 lehrt Rocchi an der FH für Oecotrophologie in Münster, als freie Dozentin wird sie für Vorträge und Seminare zu Ernährungs- und Gesundheitsthemen gebucht. Weiterhin berät sie pädagogisches Personal in der Jugendhilfe zum Thema Essstörung. Rocchi verfügt über zwanzig Jahre Berufserfahrung im Umgang mit Betroffenen und Angehörigen von Essstörungen.
Kapitel 1:
Wissenswertes über das Buch
Manchmal kommen Menschen in meine Praxis, die noch nie mit einer Therapie in Berührung gekommen sind und über Jahre unentdeckt und heimlich mit einer Essstörung leben. Dann gibt es andere, die sehr therapieerfahren sind, schon mehrere Klinikaufenthalte hinter sich haben oder sich bereits in einer psychotherapeutischen Behandlung befinden. Hilfe zu holen erfordert Mut und ist der erste Schritt in die richtige Richtung. Sobald die Klient*innen über meine Türschwelle treten, beginnt die Arbeit. Zu Anfang möchte ich alles über meine Klient*innen wissen. Das lässt mich begreifen und verstehen – und die Themen, die wir erarbeiten müssen, werden offensichtlich. Gegenseitiges Vertrauen ist die Basis unserer Arbeit. Jedes Mal ist das eine große Herausforderung, denn was meine Klient*innen in der Regel nicht haben, ist Vertrauen in sich selbst, in die Welt, in ihre Gefühle und in ihren Körper. Körpersignale wie Hunger, Appetit, Verlangen und Lust machen den Klient*innen Angst, die deswegen ihre Körpergefühle stark kontrollieren. Normal zu essen und darüber nicht krankhaft zu »verfetten« liegt außerhalb ihrer Vorstellungskraft.
Schon der Vorschlag, eine kleine Veränderung im gewohnten Speiseplan vorzunehmen, löst unfassbare Panik aus. Die Signale des Körpers und seine Bedürfnisse stehen nicht zur Debatte. Wie viel Kraft muss es jedes Mal kosten, genau das mit mir in Augenschein zu nehmen? Sich zu trauen, Schritt für Schritt dem Körper das zu geben, was er braucht. Ihn nicht mehr zu traktieren und zu ignorieren und so die Krankheit ziehen zu lassen.
Am Anfang einer Essstörung steht häufig das Gefühl von Kontrolle und die Haltung: »Ich kann was schaffen!« Die meisten beschreiben, dass dies oft mit einem Hochgefühl einhergeht. Tauchen sie jedoch stärker in die Essstörung ein, fühlen sich die Personen allein, durcheinander und unsicher. Sie verlieren mehr und mehr die Orientierung, im Leben und auf dem Teller. Das Leid ist groß, denn nichts ist mehr auf seinem Platz. Sie hungern, sie essen und erbrechen sich, sie stopfen sich voll. Was ist passiert? Wie konnte das Leben derartig aus den Fugen geraten?
Damit wir sie besser verstehen und leichter Antworten finden, erzähle ich im Laufe des Buches die Lebensgeschichten essgestörter Frauen. Keine der Geschichten gleicht der anderen und doch haben sie auch einiges gemeinsam. Manche Frauen sind traumatisiert, andere dagegen kommen aus sogenannten normalen Familien. Wiederum andere sind mit einem erkrankten Elternteil – durch Alkoholsucht oder psychische beziehungsweise körperliche Krankheiten – groß geworden oder haben die Trennung der Eltern miterlebt. Manche können den Grund gar nicht so recht benennen, da sie mit großer Fürsorge aufgewachsen sind, während andere wiederum in unterkühlten Familien leben. Manche Mädchen und Frauen haben Ausgrenzung und Kränkung erfahren. In der Pandemie trieb die soziale Isolation einige in die Essstörung. Vor allem von der ungebremsten Nutzung sozialer Medien wie Youtube, Instagram und Tiktok geht für Mädchen und junge Frauen eine große Gefahr aus. Krank machender Schlankheitswahn und stereotypische Schönheitsideale im Netz wirken wie Brandbeschleuniger auf Essstörungen. Sie sehen, die Liste der Gründe, warum Menschen eine Essstörung entwickeln, ist lang.
Was aber alle Mädchen und Frauen eint, ist das Gefühl, nicht »richtig« zu sein, nicht in das System zu passen. Sie beginnen, ihren Gefühlen zu misstrauen und das, was in ihrem Inneren passiert, zu verleugnen. Ihre ganze Not und Orientierungslosigkeit drücken sich in der Essstörung aus.
Sie fragen sich sicherlich, ob auch Jungen und Männer über die Geschichten zu Wort kommen. Nein, denn mir fehlt schlichtweg die Erfahrung mit Männern oder Jungen als Klienten. Allerdings können auch sie alle Formen einer Essstörung entwickeln und leiden häufig unter Begleiterkrankungen wie Depressionen, Angststörungen und Süchten. Essstörungen gelten allerdings immer noch als eine typisch weibliche Erkrankung, daher werden sie oft gar nicht oder sehr spät bei Männern erkannt. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung gibt an, dass von tausend Jungen und Männern im Laufe ihres Lebens zwei an Magersucht, sechs an Bulimie und zehn an der Binge-Eating-Störung erkranken. Im Vergleich erkranken siebenmal so viele Mädchen und Frauen an der Magersucht, über dreimal so viele an der Bulimie und über doppelt so viele an der Binge-Eating-Störung.
Eine Form der Essstörung bei Männern, die nach meiner Einschätzung zunimmt, ist der sogenannte Adonis-Komplex. Auch hier spielen im Netz propagierte Schönheitsideale eine große Rolle. Muskulöse, definierte Männerkörper mit minimalem Fettanteil sind dabei das Ziel. Diesen Zustand können Männer und Jungen eigentlich nur durch ein übertriebenes oder süchtig machendes Training sowie durch entsprechende Diätpläne erreichen. Es besteht die Gefahr, dass Ernährung und Sport den Alltag bestimmen und Fitness zum Zwang wird. Trotz sichtbarem Muskelzuwachs und Trainingserfolg bleiben diese Männer unzufrieden mit ihrem Körper. Aus ihrer Sicht erreichen sie ihr Ideal nie. Mitunter trainieren sie auch unter Schmerzen, mit Brüchen oder gerissenen Sehnen weiter. Der Missbrauch von Anabolika und anderen Substanzen ist dann keine Seltenheit.
Die Merkmale dieser Essstörung erinnern stark an die Magersucht. Sollten Sie ein männlicher Leser sein, dürfen auch Sie sich angesprochen fühlen. Einige Lösungsansätze, die Sie in diesem Buch finden, könnten auch Ihnen weiterhelfen. Allerdings ist es unabdingbar, dass Sie sich im nächsten Schritt psychotherapeutische Hilfe holen oder sich an eine Beratungsstelle wenden. Dann ist der Weg bereitet, das Problem anzupacken.
Allerdings ist es heutzutage schwer, zeitnah einen Platz für eine Psychotherapie zu bekommen. Die Wartezeiten bewegen sich zwischen einem halben und einem Jahr. Aber es ist wichtig, so schnell wie möglich zu starten, damit sich die Essstörung nicht noch mehr verfestigt.
Ein gutes ambulantes Netz (Psycho- und Ernährungstherapie) stellt für essgestörte Menschen einen doppelten Boden dar, der ihnen Sicherheit gibt und den Sprung in die »gesunde« Welt möglich macht. Leider beginne ich immer häufiger meine Arbeit mit den Betroffenen sowie ihren Angehörigen, ohne dass es eine begleitende Psychotherapie gibt. Ich bin das Bindeglied. Allerdings unterscheidet sich die ernährungstherapeutische Arbeit klar von der Psychotherapie. Ich beschäftige mich mit der Erlebniswelt rund um das Essen, schaue mir das Ernährungsverhalten und den Umgang damit an. Emotionales Essen, Hungern und Erbrechen stehen im Fokus, eben alle Themen rund um den Teller. Meine Arbeit hat das Ziel, Verhalten zu reflektieren, zu erweitern und neue, bessere Muster einzuüben. Weiterhin zu verstehen und zu erkennen, warum in manchen Momenten die Essstörung so stark und das Verlangen so übermächtig wird, sehr viel essen zu wollen, zu erbrechen oder sich dem Hunger hinzugeben.
Ich arbeite gerne essbiografisch. Die Methode lässt den*die Klient*in und mich besser verstehen, woher das gegen sich selbst gerichtete Verhalten kommt. So können sich auf lange Sicht Selbsthass und Strenge in fürsorgliches Verhalten verwandeln.
Sie finden in diesem Buch Lösungsansätze für Ihre Probleme, die auf den ersten Blick so einfach erscheinen. Meistens habe ich schon eine geraume Zeit mit meinen Klient*innen das Problem besprochen und von allen Seiten beleuchtet. Dann gibt es in einer Sitzung den ausschlaggebenden Moment: Er zeigt uns den Ursprung für das problematische Verhalten so deutlich, dass dies den Wendepunkt im Verhalten einläutet. Der Knoten ist sozusagen geplatzt. Häufig berichte ich genau von diesen Schlüsselmomenten, doch die wegbereitende Arbeit davor bleibt unerwähnt.
Selbstverständlich tragen vorangegangene Klinikaufenthalte und Therapien dazu bei. Es ist wie ein Deckel auf einem Glas. Jeder dreht an dem Schraubverschluss, bis der Deckel der Gesundheit schließlich fest sitzt.
Alles braucht seine Zeit. Wir müssen verstehen, welche Funktion die Essstörung hat und in welchen Situationen zerstörerisches Verhalten auftritt. Dann kommt die Kür, langsam alte, destruktive Handlungsmuster loszulassen und neue, gesunde Lösungswege einzuüben. Rückfälle und Rückschritte sind normal. Sie helfen uns, die Perspektive zu wechseln und neue Aspekte zu erkennen. Im ersten Moment fühlen sie sich schrecklich an und lösen das Gefühl aus, nichts gelernt zu haben. Tatsächlich sind sie aber sehr hilfreiche Erfahrungen auf dem Weg der Genesung. Die neuen Lösungswege gilt es zu üben, zu üben und noch mal zu üben, bis sie sich innerlich so stark verankert haben, dass das alte Verhalten keinen Platz mehr findet. Ich setze beharrlich über einen durchaus längeren Zeitraum Prozesse in Gang, die Verhaltensveränderungen möglich machen, auch das Loslassen der Essstörung. Um das zu erreichen, arbeite ich mit Methoden und Techniken aus der Gestalttherapie, der Verhaltenstherapie und der Systemischen Beratung. Natürlich sind sie auf ernährungstherapeutische Themen angewandt. Meine Aufgabe liegt darin, das Ernährungs- und Essverhalten zu stabilisieren, sodass sich bei den Betroffenen nicht länger alles ums Essen dreht. Dadurch wird Kapazität für die Themen der Psychotherapie frei.
Womöglich werden Sie das Modell des Inneren Kindes vermissen. Darauf gehe ich hier nicht ein, denn das fällt in das Gebiet der Psychotherapie.
Natürlich interpretieren meine Klient*innen aktuelle Situationen häufig über ihr Inneres Kind, das im Schatten lebt. Beim Schattenkind dominieren aus der Vergangenheit heraus häufig Gefühle...
Erscheint lt. Verlag | 15.9.2024 |
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Verlagsort | München |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Psychologie |
Schlagworte | Anorexia • Anzeichen • Auslöser • Behandlung • Beratung • Erbrechen • Ernährungsplan • Fasten • Gewicht • Jungen • Kalorienzählen • Klinik • Mädchen • Prävention • ProAna • Selbsthilfegruppe • Selbstverletzung • Stressessen • Test • Trauma • Unterstützung |
ISBN-10 | 3-7453-2512-5 / 3745325125 |
ISBN-13 | 978-3-7453-2512-6 / 9783745325126 |
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