Deleuze und Foucault (eBook)
401 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45869-4 (ISBN)
Jonas Oßwald, Dr. phil., ist Philosoph und arbeitet zu französischer Gegenwartsphilosophie, Machttheorie, (Auto)theorie der Klasse sowie zur Geschichte des Materialismus.
Jonas Oßwald, Dr. phil., ist Philosoph und arbeitet zu französischer Gegenwartsphilosophie, Machttheorie, (Auto)theorie der Klasse sowie zur Geschichte des Materialismus.
1.Ein Theater ohne Bühne
Mein Freund, wir sind keine Freunde. Es gibt sie ja gar nicht, die Freunde, wie wir wissen, und wie es um die Freundinnen steht, kann ich Dir nicht beantworten. Vermutlich gibt es sie erst recht nicht, die Freundin, die Figur der Freundin, und wenn es sie gibt, so vermute ich, wird sie nicht sichtbar sein. Vielleicht verdeckt die Unmöglichkeit des Freundes die Möglichkeit der Freundin. Vielleicht wird Freund, Freundin oder Freund:in in Zukunft möglich sein, vielleicht müssen wir sie in Zukunft, für die Zukunft erfinden. Und vielleicht wäre das einer, ein möglicher, Grund an diese Welt zu glauben. Doch wenn der Glaube an eine mögliche Zukunft des Freundes das Wissen um seine gegenwärtige Unmöglichkeit ersetzt, dann nur, wenn es ein Freund in dieser Welt ist. Wir sind keine Freunde, so viel ist sicher. Aber wir können auch nicht darauf warten, dass irgendwann Freunde vom Himmel fallen, denn »[e]s gibt keinen Himmel für die Begriffe«.16 Wenn es die Möglichkeit des Freundes, der Freundin oder der Freund:in gibt, dann in dieser Welt, »so wie sie ist«.17
Das meint zumindest zweierlei: Wenn es in dieser Welt, so wie sie ist, keine Freund:innen gibt, dann müssen wir uns in dieser Welt, so wie sie ist, mit den Mitteln dieser Welt, wenn man so will, die Idee der Freundschaft erfinden, um an sie glauben zu können. Das wäre die Linie der Schöpfungen, der Erfindungen der Philosophie, die einerseits eher einer Modulation oder Transformation des status quo als einer creatio ex nihilo entspricht, insofern ihr nur das Bestehende und die Mittel dieser Welt zur Verfügung stehen. Andererseits ist die Erfindung eines Glaubens unweigerlich auch gegen das gerichtet, was gegenwärtig geglaubt wird, wodurch dieser Erfindung eine grundsätzliche und noch nicht weiter bestimmte, nennen wir es vorerst vorsichtig, Widerständigkeit, innewohnt. Wenn der zu erfindende Glaube an diese Welt, so wie sie ist, also das Modell des Wissens ersetzt, dann wird damit nicht einer Irrationalität, Emotionalität oder gar Religiosität das Wort geredet. Im Gegenteil: Das Problem des Glaubens, in diesem konkreten Sinn, betrifft die Existenzweisen, die Handlungsmöglichkeiten und die Zukunft, an die man, wie Hume sagt, letztlich nur glauben kann. In diesem Sinne ist der Glaube vollkommen rational. In jedem Fall aber betrifft das Problem der Existenzweisen nicht die Grenzen dessen, was wir erkennen oder wissen können, es betrifft keine theoretische, sondern praktische Subjektivität, könnte man sagen, wenngleich wir ein Wissen, ein Wissen um diese Welt, so wie sie ist, brauchen, um den status quo zu modulieren. Das wäre die Linie der Analyse und Kritik, der Geschichte im weiteren Sinne. Diese Welt, so wie sie ist, meint auch: so wie sie für uns unerträglich ist, das wahrnehmbar Unerträgliche und das noch nicht wahrnehmbar Unerträgliche. Es meint auch: zu wissen, woher dieses Unerträgliche kommt, wie es sich zutrug, dass es keine Freund:innen gibt, welches die Mechanismen sind, die den Glauben an die Freundschaft verunmöglichten, welcher gegenwärtige Glaube seinen potenziellen Platz einnimmt und welche Strategien auf diesen status quo abzielen. Auch wenn es den Anschein hat: die Linie der historischen Analyse und Kritik ist ebenso wenig eine rein negative Arbeit, wie die Linie der philosophischen Schöpfung oder Erfindung eine rein positive ist. Abgesehen von den konzeptuellen Instrumenten, die zur historischen Analyse und Kritik überhaupt erst kreiert werden müssen, besteht eine grundsätzliche und noch nicht weiter bestimmte, nennen wir es in diesem Fall insbesondere vorsichtig, Erfindung, in der Tatsache, dass ein Problem nicht einfach daliegt, sondern überhaupt erst zu einem Problem gemacht werden muss.
Hume: Erste Figur des transzendentalen Empirismus
Deleuze’ Portraitkunst versucht das Ganze einer Philosophie zu erfassen. Das andere Ganze, dessen Entwurf möglich wird, wenn die habitualisierten Paraphrasen der Philosophiegeschichte deformiert und auf einen neuen Punkt hin orientiert werden, wenngleich die Geste der Verneigung vor der Tradition damit jedenfalls formal bestehen bleibt. Die Orientierungen der Portraits, zumindest jener der 50er und 60er Jahre, zielen dabei weder auf eine externe systematische Konvergenz, etwa der transzendentale Empirismus, wie er in Differenz und Wiederholung und Logik des Sinns ausgebreitet wird, noch auf eine interne Entwicklungsgeschichte einer Philosophie ab (Wittgenstein I und Wittgenstein II). Ein philosophisches Portrait im Sinne Deleuze’ versammelt alle – wichtigen – Aspekte, Begriffe, Personen auf einer, der jeweiligen Philosophie eigenen, supralinearen Ebene. Ein Portrait ist ein flaches, diskretes Tableau. Gleichwohl ist die Anordnung der Elemente, ihre Orientierung nicht beliebig. Das philosophische Portrait orientiert sich an einer Logik des Wichtigen oder Interessanten, könnte man sagen, die gleichzeitig sowohl eine polemische, korrektive als auch kreative Funktion erfüllt, insofern sie ein Missverständnis aufweist, etwas Vergessenes wiederfindet und einen neuen Begriff erschafft.18
Wenn es mir nun zunächst darum geht die Herkunft der Protagonisten eines Dialoges zu charakterisieren, der etwa Mitte der 60er Jahre einsetzt, das heißt den initialen Impuls zweier Denkbewegungen nachzuzeichnen, die sich im Verlauf von etwa zwei Jahrzehnten wiederholt überkreuzen, dann ist dies im Falle Deleuze’ für den Moment, nichts weiter als eine Bestandsaufnahme diskreter, das heißt sich noch nicht aufeinander beziehender und gewissermaßen »vordialogischer« Figuren, die für eben diesen Dialog, wenn er denn dann einsetzt, wichtig sind. Ich nehme hier gewissermaßen die Rolle eines Skizzenzeichners ein, der mit notwendig schnellen Strichen versucht die Diskretheit der philosophischen Portraits, Portrait-Frame für Portrait-Frame, in eine Bewegung zu übertragen, die das eigentümliche, scheinbar paradoxe Geschöpf des transzendentalen Empirismus konstituiert. Ein Daumenkino.
Wenn der transzendentale Empirismus ein »Theatrum philosophicum« ist, wie Foucault sagt, dann besteht Deleuze’ wichtigste Schöpfung darin, diesem Theater eine Bühne gegeben zu haben, das es vor Differenz und Wiederholung und Logik des Sinns nicht hatte. Wie erschafft man ein philosophisches Theater? Man wird mit den Figuren beginnen, vermutlich zunächst mit einer Figur. Man wird die Figuren entsprechend ihrer Beweggründe, ihrer Motive, ihres Temperaments, ihrer Unzeitgemäßheit (im Verhältnis historisches Milieu der Figur – Zukunft), ihrer Aktualität (im Verhältnis gegenwärtiges Milieu – historische Figur) usw. entwerfen. All das, zumindest all das, bezeichnet, im Sinne des Portraitkunst, das Problem. Vielleicht wird man irgendwann bemerken, dass die Bühne fehlt, auf der die Figuren überhaupt auftreten, das heißt Figuren sein können (jede Figur braucht eine Bühne, andernfalls wären sie nur Blaupausen für psycho-soziale Typen). Also baut man sich eine Bühne. Für Foucault wird Deleuze mit diesem Schritt, gewissermaßen als Bühnenbildner und Regisseur, damit selbst zu einer Figur, die ein philosophisches Jahrhundert verkörpern kann – und selbstverständlich kann man eine solche Einschätzung, zeitgenössisch, nur als Witz auffassen.19
Insofern Deleuze zunächst, das heißt etwa 15 Jahre lang, Portraits zeichnet, sind die Denkfiguren, die ich nachzeichnen will, gebunden an philosophische Figuren, die als solche nicht dasselbe bezeichnen wie die historischen Figuren, die ihnen ihre Eigennamen überlassen. Hume als historische Figur hat wenig, fast nichts mit Kants Hume oder Deleuze’ Hume zu tun, wohl aber gemeinsam: den Namen, der Texte signiert. Es erscheint mir wichtig dies zu sagen, um die Ambivalenz zwischen Figur (als philosophische Figur: »Hume«) und Figur (als Denkfigur, die noch kein Begriff ist, sondern die Ressource für einen Begriff: »Gewohnheit« in den Enquiries und »Gewohnheit« in der ersten Zeitsynthese von Differenz und Wiederholung) zu markieren und gleichzeitig zu belassen, das heißt mit einem ambivalenten Figurbegriff zu operieren. In einem Portrait überlagern sich Denkfigur und philosophische Figur, die ihren gemeinsamen Namen von der historischen Figur übernehmen (»Hume sagt, die ...
Erscheint lt. Verlag | 18.9.2024 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Allgemeines / Lexika |
Schlagworte | Begehren • Deleuze • Dispositiv • empirisch-transzendentale Dublette • Foucault • Gefüge • Herrschaft • Lust • Macht • transzendentaler Empirismus |
ISBN-10 | 3-593-45869-1 / 3593458691 |
ISBN-13 | 978-3-593-45869-4 / 9783593458694 |
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