Selbst sein (eBook)
100 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4668-4 (ISBN)
Emil Angehrn. Studium der Philosophie, Soziologie und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Löwen und Heidelberg. Promotion in Philosophie 1976 in Heidelberg. Hochschulassistent an der Freien Universität Berlin, 1983 Habilitation an der FU Berlin. Professor für Philosophie 1989-1991 an der Universität Frankfurt am Main, 1991-2013 an der Universität Basel. Schwerpunkte in Forschung und Lehre: Antike Philosophie und 19./20. Jahrhundert; Metaphysik, Geschichtsphilosophie, Hermeneutik, Politik.
Emil Angehrn ist emeritierter Professor für Philosophie an der Universität Basel. Seine Schwerpunkte in Forschung und Lehre liegen in der Antiken Philosophie, dem 19./20. Jahrhundert, der Metaphysik, Geschichtsphilosophie, Hermeneutik und Politik. Zuletzt erschien: Die Zeit des Anderen (Blaue Reihe 2021).
1. Einleitung: Wahrhaftigkeit als Ideal?
(a) Vor mehr als vier Jahrzehnten verkündete ein markanter Buchtitel das »Ende der Aufrichtigkeit«.1 Der Titel der Abhandlung von Lionel Trilling stand für eine literaturgeschichtliche Diagnose, die sich zugleich im sozial- und kulturhistorischen Kontext situierte. Sein provozierender Charakter ergab sich aus dem frontalen Gegensatz sowohl zu einem traditionellen Moralverständnis wie zum existenzphilosophischen Ethos des Eigentlichen. Dass Menschen aufrichtig – ehrlich, wahrheitsliebend – sein sollen, dass sie ursprünglich sie selbst, authentisch sein wollen, war die scheinbar unumstößliche Wahrheit, gegen die sich die Parole vom Ende der Aufrichtigkeit in Front stellte. Sie hinterfragte ein weithin geltendes Vorurteil, das den Ideen der Wahrhaftigkeit, der Integrität und Eigentlichkeit eine eminente Stellung, in gewissem Sinn einen Sonderrang jenseits der partikularen Werte und Tugenden einräumte. Um ein gutes Leben zu führen, so die herrschende Vorstellung, gilt es nicht nur gerecht zu handeln und moralischen Regeln zu folgen, sondern in alledem mit sich eins, in sich authentisch, man selbst zu sein und aus sich heraus selbstbestimmt zu handeln. Angezeigt ist in solchen Umschreibungen ein Ideal, das für den Einzelnen offenkundig keine bloße Norm oder ein äußeres Sollen darstellt, sondern im Tiefsten mit seinem eigenen Wollen, seinem innersten Bedürfnis verbunden ist. Wahrhaftig ist, wer in Übereinstimmung mit sich, mit den anderen und der Welt lebt und sich als der zeigt und verwirklicht, der er selbst in Wahrheit ist.
Und doch ist Wahrhaftigkeit kein unkontroverses, in sich feststehendes Ideal. Dass zu einem gewissen Zeitpunkt von ihrem Ende die Rede sein konnte, ist nicht nur Reflex eines temporären Verfalls oder einer kulturellen Krise. Es ist auch Symptom einer fundamentalen Zwiespältigkeit, die im Ideal selbst, im Kern des Wahrhaftigseins auszumachen ist. Der in mannigfacher Weise artikulierte Vorbehalt gegen die Verabsolutierung der Aufrichtigkeit hat seine Spitze nicht nur in deren Relativierung als Leitidee oder im Hinweis auf ihre Labilität und stets unvollkommene Realisierung. Vielmehr weist er auf einen intrinsischen Zwiespalt, auf eine ambivalente Wertung, gegebenenfalls eine dezidierte Gegenwertung im Umgang mit dem Phänomen des Wahrhaftigen. Der Vorbehalt reicht vom Zweifel, ob es überhaupt möglich sei, konsequent zwischen aufrichtig und unaufrichtig zu unterscheiden, ja ob es uns gelingen könne, restlos aufrichtig zu sein – so ein von Nietzsche artikuliertes Bedenken –, über die These, dass eine bestimmte Weise des Unaufrichtig- und Uneigentlichseins zu unserer normalen, alltäglichen Lebensform gehört – so ein Grundgedanke von Heidegger und Sartre –, bis hin zur kritischen Verwerfung eines falschen Ideals in der postmodernen Aushöhlung ethischer Leitvorstellungen der Aufklärung oder in Adornos Polemik gegen den existenzphilosophischen ›Jargon‹ der Eigentlichkeit.2 Indessen ändern die vielfachen Vorbehalte nichts am hohen Ansehen des Wahrhaftigen. So einsichtig die Zweifel sein mögen, so grundlegend sind die Überzeugungen vom Wert persönlicher Integrität und Offenheit. Zwischen beidem herrscht ein Widerstreit, der nicht einfach nach der einen oder anderen Seite aufzulösen ist. Er ist und bleibt irritierend nicht nur für die begriffliche Reflexion, sondern ebenso als existentielle Herausforderung. Können wir, sollen wir, wollen wir schlechthin wahrhaftig sein? Ist Eigentlichkeit, Aufrichtigkeit ein uneingeschränktes Gebot, ein innerster Kern des Selbstseins, ein letzter Beweggrund unseres Wollens? Diesem Zwiespalt ist nachzugehen, seine Wurzel ist aufzuhellen, wenn wir uns über den Begriff, die ethische Geltung und den existentiellen Stellenwert der Wahrhaftigkeit verständigen wollen.
(b) Ergänzend zur ethisch-lebensweltlichen Zwiespältigkeit lassen sich zwei strukturelle Doppelseitigkeiten vermerken, die das Phänomen der Wahrhaftigkeit kennzeichnen. Wahrhaftigkeit steht zum einen sowohl für ein bestimmtes Verhalten zu anderen wie für ein bestimmtes Verhältnis zu sich selbst, und sie realisiert sich zum anderen als theoretische, kognitiv-expressive ebenso wie als praktische Haltung und Lebensform.
Nach naheliegendem Verständnis gilt Wahrhaftigkeit – Wahrheitsliebe, Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit – in erster Linie als eine bestimmte Weise, sich zu anderen Menschen und zur Welt zu verhalten. Anderen nichts vorzumachen, niemanden zu täuschen, an wahrer Erkenntnis und offener Kommunikation interessiert zu sein macht den Grundzug eines aufrichtigen Verhaltens aus. Wer jemanden als ehrlichen Menschen bezeichnet, meint zuallererst die Art und Weise, wie er sich gegenüber anderen äußert, ihnen nichts vorenthält und in seinem Tun und Sprechen keine Täuschung provoziert. Lügen ist das direkte Gegenteil zu solchem Verhalten, doch auch die indirekten Modi des Verbergens und Verschweigens sind Weisen, sich unehrlich zu verhalten, unwahrhaftig zu sein. Auf der anderen Seite sind Dispositionen und Akte des Wahrhaftig- und Unwahrhaftigseins ebenso im Verhältnis zu uns selbst von Belang. Selbsttäuschung ist ein eigentümliches Phänomen, das sich einer konsistenten begrifflichen Beschreibung zu entziehen scheint und das doch im Alltag weit verbreitet, je nachdem im Leben von Menschen tief verwurzelt ist.3 Dass ich mich selbst belügen, mir selbst etwas vormachen kann, scheint paradox, ja unmöglich – da ich als Subjekt der Täuschung etwas kennen muss, das mir als Opfer der Täuschung verborgen ist – und ist gleichzeitig wie ein abgründiges Rätsel, das mir in bestimmten Situationen unhintergehbar anhaftet. Doch nicht nur in der Negativversion, auch in der affirmativen Form ist der Umgang mit Wahrhaftigkeit eine essentielle Gestalt des Selbstseins und Sich-zu-sich-Verhaltens. Ich bin mehr oder weniger ehrlich, authentisch, eigentlich mir selbst gegenüber, im Umgang mit meinen Wünschen und vielleicht verdrängten Einsichten, im eigensten Erleben und in der Führung meines Lebens. In welchem Verhältnis das Wahrhaftigsein im Selbstbezug und die Aufrichtigkeit gegenüber anderen zueinander stehen, wieweit vielleicht jede Form der Ehrlichkeit zuletzt in der Offenheit gegenüber sich selbst, im inneren Authentischsein gründet, gehört zu den Fragen, die der Aufhellung bedürfen. Wenn im kulturellen Diskurs und in der historischen Analyse der Umgang mit Verhüllungen, Intrigen, Aufrichtigkeitseffekten vorrangig im Feld der zwischenmenschlichen Beziehungen und der sozialen Welt zum Thema wird, so führt die existenzphilosophische Reflexion zum Fokus der reflexiven, selbstbezüglichen Wahrhaftigkeit zurück. Sie erscheint gewissermaßen als das tiefere, existentiell virulentere Problemfeld, das zuletzt auch für die Durchdringung der sozialen Dimension des Wahrhaftigen grundlegend ist.
Die andere Doppelung ist die des theoretischen und des praktischen Verhaltens. Aufrichtig, wahrhaftig sein heißt jemandem die Wahrheit sagen, aber auch ihm gegenüber loyal und offen handeln. Auch im Selbstbezug kommt beides ins Spiel. Auf der einen Seite geht es um die Selbsttransparenz im Erkennen und Sichäußern, um das Bemühen um Selbsterkenntnis und das Sichabarbeiten an den dunklen Zonen und verdeckten Bereichen des Selbst, an der verborgenen Herkunft und den verdrängten Wünschen und Phantasien. Und es geht andererseits darum, in seinem Tun und Erleben mit sich eins zu sein, zu sich selbst zu stehen und sich als die Person zu verwirklichen, die zu sein man sich vorgenommen hat und als die man sich erfährt. Weder die reine Selbsterkenntnis noch die volle Selbstverwirklichung stehen dem Subjekt umstandslos zur Verfügung. Der kognitive wie praktische Selbstvollzug ist mit der Endlichkeit des subjektiven Fürsichseins konfrontiert, mit internen wie externen Hindernissen des Fürsichwerdens und der Begrenztheit des eigenen Könnens und Wollens. Ich kann ebenso wenig einfach beschließen, authentisch und ›eigentlich‹ ich selbst zu sein, wie einen ungetrübten Blick auf mein Innerstes zu werfen und Einsicht in das Ganze meines Seins zu erlangen. Wahrhaftigkeit ist, wie es die antike Tugendlehre für die praktischen Verhaltensdispositionen – Tapferkeit, Großzügigkeit – unterstreicht, eine Sache des Erwerbs und der Einübung. Wer sich daran gewöhnt hat, vielleicht sich bewusst dazu motiviert und erzogen hat, ehrlich und offen zu sein, wird dies in der konkreten Situation, möglicherweise unter Druck oder in einer Krise bewähren können. Dies gilt für das Aufrichtig- und Authentischsein sich selbst wie anderen gegenüber. Wie sich dabei die theoretische und praktische Seite zueinander verhalten, bleibt vertiefend zu analysieren. Einerseits scheint die kognitive Selbsterfassung Voraussetzung des wahren Ausdrucks und des konsistenten Handelns. Anderseits scheint das emotionale und voluntative Mit-sich-Einssein, die existentielle Authentiziät, das entscheidende Moment, auf das es im Wahrhaftigsein ankommt und das auch die Grundlage für eine konsequente Verständigung über sich und eine an Wahrheit orientierte Kommunikation mit anderen bildet.
(c) Schon in der ersten Annäherung zeigt sich Wahrhaftigkeit als ein komplexes, mehrschichtiges, teils schillerndes Phänomen. Zumal nach drei Hinsichten hat eine Phänomenbeschreibung Differenzierungen vorzunehmen und ihrem Verhältnis nachzugehen. Das eine ist die Doppelung von Selbst- und Fremdverhältnis, die Verflechtung zwischen der Ehrlichkeit als zwischenmenschlicher Grundhaltung und als Bestimmung des Umgangs mit sich selbst, zwischen dem Wahrheitsinteresse als Grundlage des Erkennens und Mitteilens und der Offenheit sich selbst gegenüber. Das andere ist die Zweischichtigkeit von Erkennen...
Erscheint lt. Verlag | 17.6.2024 |
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Reihe/Serie | Blaue Reihe |
Verlagsort | Hamburg |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Philosophie der Neuzeit |
Schlagworte | Existenzphilosophie • Phänomenologie • Wahrheit |
ISBN-10 | 3-7873-4668-6 / 3787346686 |
ISBN-13 | 978-3-7873-4668-4 / 9783787346684 |
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