Über den nervösen Charakter -  Alfred Adler

Über den nervösen Charakter (eBook)

Grundzüge einer vergleichenden Individualpsychologie und Psychotherapie

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
256 Seiten
Good Press (Verlag)
978-65--4780864-4 (ISBN)
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Über den nervösen Charakter' ist ein faszinierendes Buch für alle, die ein tieferes Verständnis der menschlichen Psyche und Persönlichkeitsentwicklung suchen. Die einfache Sprache und klare Argumentation von Adler machen das Buch sowohl für Fachleute als auch für Laien zugänglich. Dieses Buch ist ein must-read für alle, die an Psychologie und Psychotherapie interessiert sind und bietet wertvolle Einsichten in die Komplexität der menschlichen Natur.

I. Kapitel
Ursprung und Entwickelung des Gefühls der Minderwertigkeit und dessen Folgen


Die Feststellungen der „Organminderwertigkeitslehre“ (S. Studie l. c.) beschäftigten sich mit den Ursachen, mit dem Verhalten, mit dem Äusseren und der geänderten Arbeitsweise der minderwertigen Organe und führten mich zu den Anschauungen über Kompensation durch das Zentralnervensystem, an die sich Erörterungen über die Psychogenese anschlossen. Es hatte sich eine merkwürdige Beziehung zwischen Organminderwertigkeit und psychischer Überkompensation ergeben, so dass ich eine fundamentale Anschauung gewann: die Empfindungen der Organminderwertigkeit werden für das Individuum zu einem dauernden Antrieb in der Entwickelung seiner Psyche. Für die physiologische Betrachtung ergibt sich daraus eine Verstärkung der Nervenbahnen nach der Quantität und Qualität, wobei eine gleichzeitige ursprüngliche Minderwertigkeit dieser Bahnen ihre tektonischen und funktionellen Eigenheiten im Gesamtbilde zum Ausdruck bringen kann. Die psychische Seite dieser Kompensation und Überkompensation kann nur durch psychologische Betrachtungen und Analyse erschlossen werden.

Nach den ausführlichen Schilderungen der Organminderwertigkeit — als Ätiologie der Neurose — in meinen früheren Arbeiten, insbesondere in der „Studie“, im „Aggressionstrieb“, im „psychischen Hermaphroditismus“, in der „neurotischen Disposition“ und in der „psychischen Behandlung der Trigeminusneuralgie“1 kann ich mich bei der gegenwärtigen Schilderung auf jene Punkte beschränken, die eine weitere Aufschliessung der Beziehungen zwischen Organminderwertigkeit und psychischer Kompensation bedeuten und für die Frage des neurotischen Charakters von Belang sind. Zusammenfassend hebe ich hervor, dass die von mir beschriebene Organminderwertigkeit, „das Unfertige an dieser Art von Organen, ihre oft nachweisbaren Entwickelungsstillstände, den Mangel an Ausbildung in histologischer oder funktioneller Richtung, das funktionelle Versagen in der postfötalen Zeit, andererseits die Steigerung ihrer Wachstumstendenz bei Kompensations- und Korrelationszwang, die häufige Erzielung funktioneller Mehrleistung sowie den fötalen Charakter von Organen und Organsystemen“ in sich fasst. Es lässt sich in jedem Falle — aus der Kinderbeobachtung und aus der Anamnese Erwachsener — leicht erweisen, dass der Besitz deutlich minderwertiger Organe auf die Psyche reflektiert und geeignet ist, die eigene Einschätzung geringer ausfallen zu lassen, die psychologische Unsicherheit des Kindes zu steigern; aber gerade von dieser geringeren Wertung aus entspinnt sich der Kampf um die Selbstbehauptung, der ungleich heftigere Formen annimmt als wir erwarten. Wenn das kompensierte minderwertige Organ quantitativ und qualitativ an Aktionsbreite gewinnt und aus sich selbst sowie aus dem ganzen Organismus Schutzmittel gewinnt, so holt das disponierte Kind in seinem Minderwertigkeitsgefühl aus seinem psychischen Können die oft auffälligen Mittel zu seiner Wertsteigerung, unter denen man an hervorragender Stelle die neurotischen und psychotischen zu vermerken hat.

Ideen über angeborene Minderwertigkeit, über Disposition und konstitutionelle Schwäche finden sich schon in den Anfängen der wissenschaftlichen Medizin. Wenn wir an dieser Stelle von vielen namhaften Leistungen absehen, so geschieht es — trotzdem sie oft grundlegende Gesichtspunkte enthalten — nur aus dem Grunde, weil sie den Zusammenhang mit organischen und mit psychischen Erkrankungen wohl behaupten, keineswegs aber erklären. Hierher gehören alle Anschauungen über Pathologie, die sich auf eine allgemeine Auffassung einer Degeneration stützen. Stillers Lehre vom asthenischen Habitus geht viel weiter und versucht bereits ätiologische Beziehungen festzuhalten. Antons Kompensationslehre beschränkt sich allzusehr auf Korrelationssysteme innerhalb des Zentralnervensystems; doch haben er und sein geistreicher Schüler Otto Gross beachtenswerte Versuche unternommen, psychische Zustandsbilder anf dieser Basis dem Verständnis näher zu bringen. — Bouchards Bradytrophie, die von Ponfick, Escherich Czerny, Moro und Strümpell beschriebene und als Krankheitsbereitschaft gedeutete exsudative Diathese, Combys infantiler Arthritismus, Kreibichs angioneurotische Diathese, Heubners Lymphatismus, Paltaufs Status thymicolymphaticus, Escherichs Spasmophilie und Hess-Eppingers Vagotonie sind erfolgreiche Versuche der letzten Dezennien, Zustandsbilder mit angeborenen Minderwertigkeiten im Zusammenhang zu schildern. Allen ist der Hinweis auf Heredität und infantilistische Charaktere gemeinsam. Aber obgleich die schwankenden Grenzen bei den beschriebenen Dispositionen von den Vertretern dieser Lehren selbst hervorgehoben werden, ist der Eindruck nicht von der Hand zu weisen, dass hervorstechende Typen erfasst sind, die sich einer grossen Gruppe, der der Minusvarianten, im Laufe der Zeit einordnen werden. Von ungeheurer Wichtigkeit für die Erkenntnis angeborener Minderwertigkeit und Krankheitsbereitschaft waren die Forschungen über die Drüsen mit innerer Sekretion, bei denen sich morphologische oder funktionelle Abweichungen ergaben, so betreffs der Schilddrüse, der Nebenschilddrüsen, der Keimdrüsen, des chromaffinen Systems, der Hypophyse. Von dem Standpunkt dieser Organminderwertigkeiten aus betrachtet, ergaben sich die Überblicke auf das Gesamtbild leichter, und die Beziehungen zu Kompensation und Korrelation im Haushalt des ganzen Körpers traten deutlicher zutage.

Unter den übrigen Autoren, die kein primum movens, sondern ein Zusammen- und Aufeinanderwirken mehrfacher Organminderwertigkeiten zur Grundlage ihrer Anschauung genommen haben, ist vor allem Martius zu nennen. Ebenso erscheint in meiner Darlegung „über Minderwertigkeit von Organen (1907)“ die Koordination der gleichzeitigen Minderwertigkeiten in den Vordergrund gerückt. Die Tatsache ist nicht gering zu veranschlagen, „dass die gleichzeitig minderwertigen Organe wie in einem geheimen Bunde zu einander stehen.“ Auch Bartel hat seine Anschauungen über den Status thymico-lymphaticus, die eine erhebliche Bereicherung der Wissenschaft darstellen, bereits soweit ausgedehnt, dass ihre Grenzen die der Systeme anderer Autoren längst überkreuzen. Und Kyrle ist auf selbständigen Bahnen unter Anführung völlig neuer pathologischer Befunde zu dem gleichen Ergebnis gelangt wie ich, als ich auf Grund meiner Beobachtungen erklärte, dass die Koordination von Minderwertigkeiten des Sexualapparates und anderer Organe — oft nur wenig ausgeprägt, aber so häufig vorzufinden ist, „dass ich behaupten muss, es gibt keine Organminderwertigkeit ohne begleitende Minderwertigkeit des Sexualapparates.“

Späterer Erörterungen wegen muss ich noch die Anschauung Freuds erwähnen, der die Bedeutung einer „sexuellen Konstitution“ für die Neurose und Psychose hervorhebt und darunter eine nach Qualität und Quantität verschiedene Anordnung von sexuellen Partialtrieben versteht. Diese Auffassung entspricht bloss einem Postulat seiner sonstigen Anschauungen. Die Ausbildung perverser Triebe und ihre „missglückte Verdrängung“ ins Unbewusste soll das Bild der Neurose ergeben, und stellt selbst ein primum movens für die neurotische Psyche dar. Es wird sich aus unseren Ausführungen ergeben, dass die Perversion, sofern und soweit sie in der Neurose und Psychose zur Ausbildung gelangt, nicht von einer angeborenen Triebkraft, sondern durch einen fiktiven Endzweck konstituiert wird, wobei sich die Verdrängung als Nebenprodukt unter dem Druck des Persönlichkeitsgefühls ergibt. Was aber biologisch an einem ursprünglich abnormen sexuellen Verhalten in Betracht kommt, die grössere oder geringere Sensibilität, Erhöhung oder Verminderung der Reflexaktion, die funktionelle Wertigkeit sowie der kompensatorische psychische Überbau, führt direkt, wie ich in der „Studie“ gezeigt habe, auf angeborene Minderwertigkeit des Sexualorgans zurück.

Über die Art der Krankheitsbereitschaft bei Organminderwertigkeit herrscht Einigkeit. Der von mir eingenommene Standpunkt („Studie“ l. c.) hebt mehr wie der anderer Autoren die Sicherung eines Ausgleiches durch Kompensation hervor. „Mit der Loslösung vom mütterlichen Organismus beginnt für diese minderwertigen Organe und Organsysteme der Kampf mit der Aussenwelt, der notwendigerweise entbrennen muss und mit grösserer Heftigkeit einsetzt als bei normal entwickeltem Apparat. Diesen Kampf begleiten die höheren Krankheits- und Sterbeziffern. Doch verleiht der fötale Charakter zugleich die erhöhte Möglichkeit der Kompensation und Überkompensation, steigert die Anpassungsfähigkeit an gewöhnliche und ungewöhnliche Widerstände und sichert die Bildung von neuen und höheren Formen, von neuen und höheren Leistungen. So stellen die minderwertigen Organe das unerschöpfliche Versuchsmaterial dar, durch dessen fortwährende Bearbeitung, Verwerfung, Verbesserung der Organismus mit geänderten Lebensbedingungen in Einklang zu kommen sucht. Ihre (gelegentliche) Überwertigkeit ist tief begründet in dem Zwange eines ständigen Trainings, in der den minderwertigen Organen oftmals anhaftenden Variabilität und grösseren Wachstumtendenz und in der durch die innere Aufmerksamkeit und Konzentration erhöhten Ausbildung des zugehörigen nervösen und psychischen Komplexes.“

Die Schäden der konstitutionellen Minderwertigkeit äussern sich in den mannigfachsten Erkrankungen und Krankheitsbereitschaften. Bald treten körperliche oder geistige Schwächezustände hervor, bald Übererregbarkeit der nervösen Bahnen, bald Plumpheit, Ungeschicklichkeit oder Frühreife. Ein Heer von Kinderfehlern kooperiert mit der Krankheitsbereitschaft und...

Erscheint lt. Verlag 12.1.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Psychoanalyse / Tiefenpsychologie
ISBN-10 65--4780864-5 / 6547808645
ISBN-13 978-65--4780864-4 / 9786547808644
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