Geltungsgründe globaler Gerechtigkeit (eBook)
599 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45934-9 (ISBN)
Tamara Jugov, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der FU Berlin.
Tamara Jugov, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Philosophie der FU Berlin.
1Auf der Suche nach einer realistischen Utopie
1.1Einleitung
Was ist die angemessene Abstraktionshöhe einer Gerechtigkeitstheorie? Wo zwischen Utopismus und Realismus, zwischen idealer und nichtidealer Theorie sollte eine Gerechtigkeitstheorie verortet sein?29 Dies ist eine metatheoretische Frage, die natürlich nicht neu ist. Nun ist diese Frage in Bezug auf die angemessene Abstraktionshöhe von Gerechtigkeitstheorien in den letzten zwanzig Jahren in eine neue Runde gegangen. Diesmal wurde sie jedoch vor allem im angloamerikanischen, an Rawls’ Konzeption von Gerechtigkeit anschließenden philosophischen Diskurs wiederaufgenommen.
In dieser Debatte scheint sich ein großes Unbehagen gegenüber zu idealen beziehungsweise zu stark utopischen Theorien Bahn zu brechen. Wenn wir es mit Phänomenen wie globaler Armut, zerfallenden Staaten, internationalen Kriegen oder einer globalisierten, interdependenten und kollabierenden Finanzökonomie zu tun haben – welche Art von normativer Orientierung können Gerechtigkeitstheorien dann noch liefern? »Im besten Falle gar keine, im schlechtesten Fall die falsche« – so die verheerende Antwort, die Kritiker:innen mit Blick auf utopische Gerechtigkeitstheorien gegeben haben. Der zentrale Vorwurf, der insbesondere gegen von Kant inspirierte Gerechtigkeitskonzepte erhoben wird, betrifft deren vermeintlichen Utopismus. Die Formulierung »transzendentaler«30 und »fleckenloser«31 institutioneller Ideale – so kritisiert beispielsweise Amartya Sen an John Rawls’ kantischem Kontraktualismus – hilft uns nicht ausreichend dabei, unsere von Armut, Hunger und vermeidbaren Krankheiten gebeutelte Welt zu verändern.32 Kantische Gerechtigkeitstheorien verlieren sich nämlich, so der Vorwurf, in utopischen und transzendentalen Höhen, anstatt normative Orientierung für nichtideale, reale und drängende Problemlagen zu liefern.33 Auch sogenannte politische Realist:innen beklagen, dass kantische Gerechtigkeitskonzepte »das Politische« der politischen Philosophie verkennen würden, indem sie moralisch apriorischen Prinzipien Vorrang vor den agonistischen und konfliktuellen Eigenschaften der politischen Sphäre einräumten und die motivationalen und psychologischen Beschränkungen fehlbarer Menschen in keinem ausreichenden Maße berücksichtigten. Als Folge würden von Kant und Rawls inspirierte Gerechtigkeitskonzepte hoffnungslos idealisierend, moralisierend oder gar ideologisch.34 Gerechtigkeit werde zu einer Art »angewandten Moralphilosophie« degradiert.35
Während Sen und die sogenannten »politischen Realist:innen« Rawls’ Gerechtigkeitstheorie für einen vermeintlich zu starken Utopismus kritisiert haben, wurde Rawls’ Gerechtigkeitstheorie auch Zielscheibe von auf den ersten Blick vollkommen gegenläufigen Angriffen. So hat der sozialistische Philosoph G. A. Cohen in seinem letzten Buch Rescuing Justice and Equality Rawls’ Theorie für ihren übermäßigen Realismus gebrandmarkt. Cohen kritisiert, dass Rawls empirische Fakten – etwa psychologische und soziale Annahmen – im Konstruktionsprozess seiner Theorie zu weitgehend berücksichtigt habe und als Folge den normativ-kritischen Kern seiner Theorie kompromittieren würde.36
Wie lassen sich diese scheinbar widersprüchlichen Angriffe auf Rawls’ vertragstheoretisches Modell der Gerechtigkeit erklären? Und wie lässt sich eine so allgemeine und grundsätzliche Frage wie die nach dem angemessenen »Abstraktionsgrad« einer Gerechtigkeitstheorie überhaupt sinnvoll untersuchen? Mit Rawls’ Formulierung suchen wir hier nach einer »realistischen Utopie«37 oder – mit Rousseau gesprochen – nach einer Gerechtigkeitstheorie, die »Menschen, wie sie sind« und »Gesetze, wie sie sein könnten«38 zusammendenkt. Wie ich in diesem Kapitel vorschlagen werde, lässt sich die Debatte um die angemessene Abstraktionshöhe von Gerechtigkeitstheorien sinnvollerweise als eine Diskussion darüber verstehen, ob empirische Fakten bei der Konstruktion der Theorie berücksichtigt werden sollten – und wenn ja, an welcher Stelle. In Bezug auf diese Frage stellen praxisabhängige und praxisunabhängige Gerechtigkeitskonzepte zwei konkurrierende Paradigmen dar.
Die metatheoretische Herausforderung besteht also darin, ein Gerechtigkeitskonzept zu formulieren, das zwischen moralischen Überlegungen und empirischen Fakten auf einer überzeugenden Abstraktionshöhe vermittelt. Dabei vertrete ich im Folgenden die These, dass zeitgenössische Gerechtigkeitstheorien sich insbesondere in Bezug auf die Frage unterscheiden lassen, inwiefern sie empirischen Praktiken für die Begründung von Gerechtigkeitstheorien eine prinzipielle Rolle zuerkennen oder nicht. Stark vereinfacht lautet meine These wie folgt: Gerechtigkeitstheorien, die empirischen Praktiken keine Rolle bei der Begründung von Gerechtigkeit zuerkennen, sind praxisunabhängig und tendieren dazu, Gerechtigkeitsfragen an andere moralische Fragen zu assimilieren. Gerechtigkeitstheorien, die empirischen Praktiken hingegen eine Rolle bei der Begründung von Gerechtigkeit zuerkennen, sind praxisabhängig und tendieren eher dazu, Gerechtigkeit als ein »politisches« Konzept zu verstehen, das sich von anderen moralischen Fragen genuin unterscheidet.
Eine Vorbemerkung sei erlaubt: Indem ich Forderungen nach einem »Realismus« von Gerechtigkeitskonzepten aufgreife, beziehe ich mich erstens nicht auf die Theorieschule des Realismus innerhalb der Theorien internationaler Beziehungen.39 Zweitens übernehme ich explizit nicht die in Teilen dieser Debatte mitschwingende Annahme, dass sich die Möglichkeit der normativen und damit kritischen Theoriebildung im Hinblick auf Gerechtigkeitsfragen oder den internationalen Raum gänzlich erledigt habe. Eine solche Herangehensweise an Gerechtigkeitsfragen, die den Sinn und Zweck normativer Überlegungen zugunsten des Primats einer notwendig agonistischen Machtpolitik40 oder einfach der politischen Uneinigkeit vollständig aufgibt,41 halte ich nicht nur für defätistisch, sondern auch für inhaltlich wenig überzeugend. Denn wenn wir uns leidenschaftlich darüber streiten, worin Gerechtigkeit besteht und was sie von uns verlangt, dann erheben wir für unsere entsprechenden moralischen Intuitionen meist einen intersubjektiv begründbaren Geltungsanspruch. Anders als vollständig anormative Positionen gehe ich also davon aus, dass Gerechtigkeitsfragen normativ gefasst werden müssen.
Dieses Kapitel geht wie folgt vor: Da die Frage nach der überzeugenden Abstraktionshöhe einer Theorie ihrerseits nicht abstrakt und ohne Ansehung des Gegenstands beantwortet werden kann, werden in einem ersten Schritt zentrale Merkmale des Gerechtigkeitsbegriffs ausgewiesen, um die Konturen des untersuchten Konzepts abzustecken (1.2). In einem zweiten Schritt wird die Debatte um die Abstraktionshöhe von Gerechtigkeitstheorien nachgezeichnet, die als Diskussion um deren idealen beziehungsweise nichtidealen Charakter in eine neue Runde gegangen ist (1.3). Drittens schlage ich vor, die Frage nach dem überzeugenden Abstraktionsgrad als Differenz in Bezug auf den praxisabhängigen respektive praxisunabhängigen Charakter von Gerechtigkeitstheorien zu verstehen. Dafür müssen praxisabhängige und praxisunabhängige Ansätze definiert werden (1.4). Viertens werden einige Überlegungen in Bezug auf die Frage angestellt, welche Eigenschaften ein überzeugendes Konzept von Gerechtigkeit im Hinblick auf die Vermittlung von empirischen Fakten und normativen Werten in Richtung einer »realistischen Utopie« besitzen sollte (1.5). Diesbezüglich schlage ich zwei Kriterien vor: Erstens darf eine Gerechtigkeitstheorie nicht auf unzulässigen Idealisierungen beruhen, also nicht auf solchen idealisierten Prädikaten beruhen, die für den gegebenen Fall unzutreffend sind. Unzulässige Idealisierungen führen nämlich dazu, dass eine Theorie zu Status-quo-lastig (das heißt zu realistisch) und zu wenig kritisch wird und Fälle, wie sie in der empirischen Realität vorkommen, nicht erfassen kann (1.5.1). Zweitens darf eine...
Erscheint lt. Verlag | 17.7.2024 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Allgemeines / Lexika |
Schlagworte | Dominanz • Gerechtigkeit • Institutionen • Kant • Legitimität • Macht • pettit • Republikanismus |
ISBN-10 | 3-593-45934-5 / 3593459345 |
ISBN-13 | 978-3-593-45934-9 / 9783593459349 |
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