Fabulieren (eBook)
277 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45957-8 (ISBN)
Marc Rölli ist seit 2015 Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) / Academy of Fine Arts Leipzig. Zuvor war er als Professor in Zürich und Istanbul tätig. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören: »Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus« (2003, 2012, 2016) und »Kritik der anthropologischen Vernunft« (2011).
Marc Rölli ist seit 2015 Professor für Philosophie an der Hochschule für Grafik und Buchkunst (HGB) / Academy of Fine Arts Leipzig. Zuvor war er als Professor in Zürich und Istanbul tätig. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören: »Gilles Deleuze. Philosophie des transzendentalen Empirismus« (2003, 2012, 2016) und »Kritik der anthropologischen Vernunft« (2011).
Einleitung
In der zeitgenössischen Kunst ist derzeit viel und gern vom ›Fabulieren‹ die Rede. Das könnte merkwürdig erscheinen – und ist es auch. Es steht auf der Agenda und wird akademisch, in kunstaffinen Diskursfeldern, ausgezeichnet. Dabei ist unklar und umstritten, wie randständig diese künstlerische Präsenz und dieser Diskurs eigentlich sind. Vielleicht ist das sogar, und ziemlich direkt, eine politische Frage. Nicht alle gleichermaßen sind geheißen zu fabulieren. Es kommt darauf an, welche verschwiegenen, zwar durchaus wirklichen aber nicht real verbreiteten Geschichten erzählt werden (sollen); Geschichten, die wie string figures weitergereicht werden. Den ›Verdammten dieser Erde‹ (Frantz Fanon) wäre das Wort vorbehalten – und sofern es ihnen verwehrt wird und verwehrt wurde, müsste doch von ihrem Schicksal, von Ausbeutung und Gewalt, Unterdrückung und Gefangenschaft die Rede sein.
Die Spannung ist bemerkenswert, die zwischen dem alltagssprachlich eingeübten Fabulieren, das in etwa sinnloses Daherschwafeln meint, und dem fachsprachlich entwickelten Terminus besteht, der insbesondere im Kunstfeld erhöhte Prominenz genießt. Ihre behutsame Auflösung ist ein schwieriges Unterfangen – und sie ist und bleibt ein Symptom. Fabulieren leitet sich wortgeschichtlich von lat. fabulari (oder direkt aus lat. fabula) ab. Seine Bedeutung reicht von schwatzen, plaudern, Märchen oder Unsinn erzählen über (wild) zusammenphantasieren bis zu faseln, spinnen oder verwirrtes Zeug reden. Der zeitgenössische Nimbus scheint historisch betrachtet abwegig zu sein, sofern die Rede vom Fabulieren eher auf etwas Beklagenswertes oder Schimpfliches verweist. Es ist aber auch bezeichnend, dass die Abfälligkeit, die dem Fabulieren begegnet, mit dem vulgären Geschwätz und Gerede, dem Närrischen und Tollen, mit gering geschätzten Kunstformen bloßer Unterhaltung und zuletzt mit pathologischen Störungen zusammengebracht wird.
Wie die fabula eine erdichtete Erzählung meint, die vielleicht wenig Glaubwürdigkeit genießt, so wird das Fabulieren traditionell mit Textsorten verbunden, die keinen höheren literarischen Rang behaupten. Dieser Befund hängt mit seiner (nicht zuletzt akademischen) Neubewertung zusammen, sofern die Geringschätzung des Fabulierens selbst fragwürdig geworden ist. Sie erfolgte aus regelästhetischen Gründen und bezog sich auf Satiren, Possen, Schelmen- oder Abenteuerromane und alle möglichen ›Geschmacklosigkeiten‹: zum Lachen reizende Gemälde grotesker Körper wären doch einem »Buch ganz ähnlich, in dem man Gebilde, so nichtig wie Träume von Kranken, erdichtet«.1 Krankheit, Irrsinn, Fiktion und Raserei: nach Horaz findet sich all das versammelt in der kopflos-manischen Dichtung, im »Zorn der Diana« oder auch im »Freimut« (libertas) der alten Komödie, der »zum Übel und zum Vergehen« wurde, als er sich allzu ungebunden dem »niedrigen […] ungebildeten Bauern« zuwandte.2
Diese und andere Kritiken regelloser Phantasien definieren vernünftig geordnete Räume der wahren oder freien Künste, indem sie dem Genius seine notwendige Bildung zukommen lassen. Ein hervorstechendes Merkmal der erwähnten zeitgenössischen Attraktion des Fabulierens dürfte in einer Neugewichtung des Fiktionalen liegen. Sie findet sich plakativ in der Stellung feministischer Science-Fiction: bei Marleen Barr oder auch bei Donna Haraway und ihrem Konzept spekulativer Fabulation. Beide machen deutlich, dass im Fabulieren kollektiv angelegter Weltentwürfe stark veränderte Existenzbedingungen antizipiert werden, die ein anderes Leben ermöglichten. Diese Antizipation greift auf kollektiv zirkulierende Erzählungen zurück, hält kritisch Abstand zu dominanten, etwa patriarchal geprägten Repräsentationsordnungen und bedient sich eines radikal imaginären Konjunktivs. Ihre Projektionsfläche bietet zeitgenössischer Kunst eine virtuelle Bühne für eine Weise des Erzählens, die nicht von stabilen und problemlos anerkannten Dingen handelt. Sie ist vielmehr Teil einer Bewegung, die eine unabsehbare Wendung vollzieht – oder doch vollziehen will oder soll. So kann es darum gehen, etwas Neues hervorzubringen, indem von dem gesprochen wird, was in der Regel verschwiegen wird – oder von einer Zukunft derer, denen keine Zukunft zugestanden wird. Offenbar findet hinter der Losung ›Fabulieren!‹ vieles Platz – und nicht alles tritt bescheiden auf; wie das narzisstische Pathos in der Fabel vom aufgeblasenen Frosch verdeutlicht. Wieder einmal zeigt sich die implizite politische Dimension des Ästhetischen: nicht nur in einer Aufteilung des Sinnlichen, sondern immer auch in einer Aufteilung des Imaginären. Mit ihr kann sich die (machtförmige) Reklamation eines beschädigten Lebens verbinden und der Anspruch auf eine (moralische Anerkennung einfordernde) Veränderung der Verhältnisse.3
In der mit dem Fabulieren aufkommenden Brisanz des Fiktionalen steckt eine enorme Kraft. Sie ist uns nicht unbekannt oder unvertraut; aber es ist auch kein Zufall, dass sie sich (quasi neuartig) als ›fabulieren‹ artikuliert. Haraway schreibt »staying with the trouble« – und meint damit: dass es uns nichts nützt, wenn wir den ›trouble‹ ignorieren, indem wir uns eine sichere Zuflucht einzubilden bemühen oder in der Suche nach Gewissheiten festhängen. Um die Tragweite des Problems zu verdeutlichen, motiviert sie uns dazu, aus dem düsteren Schatten der olympischen Bastion herauszutreten und ›ältere‹ Mythologien im Chthuluzän aufzusuchen: Spinnen, Gorgonen, Schlangen, Pilze, Korallen und außerirdische Tentakelwesen.4 Diesen ›Schritt zurück‹ finden wir in anderer Weise in den Literaturwissenschaften, wenn Robert Scholes die postmoderne Metafiktion als »fabulation« bezeichnet und davon spricht, »that the positivistic basis for traditional realism had been eroded, and that reality, if it could be caught at all, would require a whole set of fictional skills.«5 Zu diesem Zweck, könnten wir sagen, wird auf ein marginalisiertes Fabulieren referiert, das sich als »assoziatives Erzählen […] von Prinzipien der chronologischen Ordnung, Kausalität und Kohärenz absetzt«.6 Von Marleen Barr wird dieser Aspekt noch verstärkt, wenn sie – im Rekurs auf feministische SF-Literatur – den von Scholes als ›postmodern‹ bezeichneten kanonischen Rahmen deutlich erweitert oder verändert.7 Tatsächlich wäre es möglich, die Überlegungen von Scholes und Barr auch auf kunstgeschichtliche Fragestellungen zu beziehen, wie sie mit dem Problem der Illusion und dem Ende der gegenständlichen Kunst – oder dem Beginn der abstrakten – verbunden wurden.8
Ein weiterer Schwerpunkt des aktuell aufsehenerregenden Fabulierens liegt im Bereich der Geschichtsschreibung. Wieder geht es darum, einem epistemischen Regime Paroli zu bieten – und dieses Mal ist es eines, das sich in erster Linie als koloniales beschreiben lässt. Es ist mit einer Aufteilung des Imaginären verbunden, der Saidiya Hartman mit dem von ihr so genannten »kritischen Fabulieren« begegnet.9 Ihr geht es darum, Geschichten im Konjunktiv zu erzählen, die zwar im historischen Archiv fundiert angelegt sind, sich aber in einem fiktionale Mittel einsetzenden Verfahren über die wissenschaftlich gesicherten Erkenntnisse hinaus bewegt. Das bedeutet allerdings nicht, dass ihr Begriff des Fabulierens gleichsam metahistorisch konzipiert ist und die Geschichtsschreibung insgesamt als eine poetische Angelegenheit betrachtet. Von Hayden White wissen wir, dass die historische »Transformation der Chronik in eine Fabel« bestimmten archetypischen Erzählformen unterliegt, die eine Charakterisierung nach literarischen Gattungen erlauben.10 Sie entspricht einem präfigurativen sprachlichen Protokoll, das sich »durch den in ihm vorherrschenden [rhetorischen] Tropus« bestimmen lässt.11 White kann sich auf Roman Jakobson berufen, der die Erforschung der poetischen Dimension der Sprache in der Literatur überhaupt – und insbesondere all ihrer Tropen, nicht nur der Metapher – für eine weitgehend vernachlässigte, aber linguistisch vollauf gerechtfertigte Aufgabe hält.12
Im Unterschied zu White geht es Hartman bei der Betonung der fiktionalen Seite des Fabulierens nicht um die Möglichkeit der Geschichte, sondern um ihre Unmöglichkeit. Sie insistiert mit Michel Foucault auf einer Epistemologie des Archivs, das die Möglichkeiten ...
Erscheint lt. Verlag | 17.7.2024 |
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Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Allgemeines / Lexika |
Schlagworte | anthropologischer Exzeptionalismus • dekoloniale kritik • Fiktives in der Philosophie • Kant • Kapitalismus • Kosmopolitismus • Kosmopolitismus und Rassismus • philosophische Ästhetik • Poststrukturalismus • Transzendentales bei Kant • Virtuelles in der Philosophie |
ISBN-10 | 3-593-45957-4 / 3593459574 |
ISBN-13 | 978-3-593-45957-8 / 9783593459578 |
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