Schweigen machen (eBook)
387 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45827-4 (ISBN)
Karolin Wetjen, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Philipp Müller, PD Dr. phil., leitet das Archiv im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets in Bochum. Richard Hölzl, PD Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Provenienzforscher am Museum Fünf Kontinente in München. Bettina Brockmeyer, Prof. Dr., lehrt Neuere Geschichte (19. und 20. Jahrhundert) an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
Karolin Wetjen, Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Philipp Müller, PD Dr. phil., leitet das Archiv im Haus der Geschichte des Ruhrgebiets in Bochum. Richard Hölzl, PD Dr. phil., ist wissenschaftlicher Mitarbeiter und Provenienzforscher am Museum Fünf Kontinente in München. Bettina Brockmeyer, Prof. Dr., lehrt Neuere Geschichte (19. und 20. Jahrhundert) an der Justus-Liebig-Universität Gießen.
»In perfect stillness«? Die Schweigeminute als akustisch-emotionale Artikulation
Karsten Lichau
Am 7. November 1919 erschien in zahlreichen britischen Zeitungen ein Aufruf König Georges V., in dem er seine Untertanen zum geeinten Schweigen im Gedenken an die Soldaten aufrief, die im Ersten Weltkrieg ihr Leben gelassen hatten:
»The King invites all his people to join him in a special celebration of the anniversary of the cessation of war, as set forth in the following message: To all my People. Tuesday next, November 11, is the first anniversary of the Armistice which stayed the world-wide carnage of the four preceding years and marked the victory of Right and Freedom. I believe that my people in every part of the Empire fervently wish to perpetuate the memory of the Great Deliverance, and of those who have laid down their lives to achieve it. To afford an opportunity for the universal expression of this feeling it is my desire and hope that at the hour when the Armistice came into force, the eleventh hour of the eleventh day of the eleventh month, there may be for the brief space of two minutes, a complete suspension of all our normal activities. During that time […] all work, all sound, and all locomotion should cease, so that, in perfect stillness, the thoughts of every one may be concentrated on reverent remembrance of the Glorious Dead. […] At a given signal, which can easily be arranged to suit the circumstances of each locality, I believe that we shall all gladly interrupt our business and pleasure, whatever it may be, and unite in this simple service of Silence and Remembrance.«70
Im Aufruf Georges V. zum stillen Gedenken an die Weltkriegstoten verbinden sich zweierlei Praktiken des Schweigens: Zum einen fordert er die Untertanen zum kollektiven Ausdruck und zum individuellen Erleben von Gefühlen auf (»fervently wish«, »universal expression of […] feeling«, »concentrated on reverent remembrance«, »shall all gladly«). Zum anderen stehen akustische Praktiken im Mittelpunkt, die sich auf ›sounds‹ bzw. auf deren Unterdrückung richten (»all sound […] should cease«, »interrupt our business and pleasure«, »complete suspension of all […] activities«, »perfect stillness«). Mit dieser Verbindung von »feeling« und »sound« sowie mit den Herausforderungen und Problemen, vor die eine solche Verknüpfung akustischer und emotionaler Praktiken die Untertanen stellte, setzt sich der folgende Beitrag theoretisch und empirisch auseinander.
Georges invitation sollte sich als erfolgreich und wirkmächtig erweisen. Auch wenn sie verschiedene Vorläufer und Vorformen besaß,71 gilt die two minutes’ silence vom 11. November 1919, die den Höhepunkt der an diesem Tag erstmals abgehaltenen Zeremonien zum britischen armistice day bildete und durch zwei private Initiativen entscheidend angestoßen worden war,72 als Geburtsstunde der Schweigeminute. Sie wurde zum Modell, das sich in den Folgejahren auch andere Länder zum Vorbild nahmen: Frankreich und Belgien (1922), Deutschland (1924) oder Polen (1925).
Als moderne Form des Gedenkens ist die Schweigeminute im Lauf des zwanzigsten Jahrhunderts zum Bestandteil der Memorialkultur zahlreicher europäischer und nicht-europäischer Nationen geworden. Nach dem Zweiten Weltkrieg breitete sie sich einerseits in zahlreiche weitere, zum Teil sehr unterschiedliche nationale politische Kulturen aus: So kommen in Israel zweimal im Jahr Verkehr und öffentliches Leben für zwei Minuten zum Stillstand, am Yom Ha-Shoah im Gedenken an die Shoah und am Yom Ha-Zikaron für die in Kampfhandlungen getöteten israelischen Soldaten und Opfer terroristischer Anschläge. Obwohl dabei keine Stille herrscht, sondern überaus lautes Sirenengeheul zu hören ist, lautet die offizielle Bezeichnung ›Schweigeminute‹.73 In der Sowjetunion und nachfolgend in Russland wird seit 1965 jährlich am 9. Mai während der per Radio verbreiteten Minuta molčanija an die im ›Großen Vaterländischen Krieg‹ getöteten Soldaten erinnert. Schweigeminuten werden nach 1945 andererseits vermehrt in einem kleineren, regionalen, lokalen oder institutionellen Rahmen abgehalten; anlässlich von Ereignissen, die aufgrund ihrer starken Medialisierung globales Interesse wecken, überschreiten sie aber auch den nationalen Rahmen, etwa anlässlich der Beerdigung von Prinzessin Diana oder der Terroranschläge seit 9/11. Die Worte des britischen Königs stießen also auf eine langanhaltende Resonanz.
In einem jedoch irrte George V.: Seine Behauptung, die entsprechenden Maßnahmen und Praktiken, die das stille Gedenken erforderte, seien leicht zu bewerkstelligen (»easily arranged«), sollte sich als unzutreffend erweisen. Obwohl die Schweigeminute in England auf große Beteiligung stieß, sich schnell als nationale Tradition etablierte und bis heute erhalten hat, entpuppten sich die erforderlichen Schweigepraktiken dort ebenso wie in anderen Ländern als überaus komplex und störanfällig. Dies galt insbesondere für die Verbindung von akustischen und emotionalen Praktiken, deren individuelle und kollektive Koordination im Zentrum der Schweigeminute stand und sie zu einer potentiell ebenso wirkmächtigen wie fragilen politischen Inszenierung machte.
Dass Klänge, Töne und andere akustische Phänomene – und nicht zuletzt das Schweigen – eine enge Verbindung zu Gefühlen besitzen, scheint zunächst einmal nicht sonderlich bemerkenswert. Aus historischer Sicht gilt es jedoch die tiefverwurzelte und weitverbreitete Annahme zu hinterfragen, dass sounds und Emotionen immer und unausweichlich miteinander einhergehen. Zwar wurde – und wird – die emotionale Wirkung insbesondere musikalischer, aber auch anderer mehr oder weniger ästhetisch gestalteter Klänge immer wieder beschrieben und bezeugt. Die Affinität von Akustik und Affekt ist jedoch keine universale und ahistorische Naturkonstante, die stillschweigend vorausgesetzt werden kann; sie ist eine Erwartungshaltung, die in einer Vielzahl von Formen historisch etabliert und eingeübt werden musste.74 Es gilt daher zu erklären, wie und wo sich eine gemeinsame Wahrnehmung von feelings und sounds historisch einstellte – und wo sie ausblieb.
Gegen die Annahme, dass alles, was über das Ohr wahrgenommen wird, mit einer besonderen affektiven Wirkungsmacht ausgestattet ist, haben jüngere Forschungen aus dem Gebiet der sound history Einwand erhoben. Am einflussreichsten war dabei Jonathan Sternes Kritik am Essentialismus und Universalismus der »audio-visual litany«, die das Reich des Sichtbaren und das Reich des Hörbaren durch eine lange Reihe von binären Gegensatzpaaren einander gegenüberstellt, wie etwa: »hearing immerses its subject, vision offers a perspective; […] hearing is concerned with interiors, vision is concerned with surfaces; […] hearing tends toward subjectivity, vision tends toward objectivity; […] hearing is about affect, vision is about intellect«.75
Die folgende Auseinandersetzung mit der Geschichte der Schweigeminute zeigt, dass die emotionale Wirkmächtigkeit von sounds (zu denen auch das Schweigen gehört) keineswegs selbstverständlich ist, sondern durch die Verknüpfung unterschiedlichster Praxisformen erst zustande kommt – oder scheitert. Dazu werden im Folgenden zunächst praxistheoretische Überlegungen aus den Forschungsfeldern der sound history und der Gefühlsgeschichte kritisch miteinander verbunden, die die vermeintliche Selbstverständlichkeit von Handlungszusammenhängen in Frage zu stellen und ihre historische Gewordenheit auf komplexe, Wandel und Kontinuität ermöglichende Kontexte und Strukturen zurückzuführen erlauben. Anschließend soll der daraus entwickelte Begriff der akustisch-emotionalen Artikulation dann in zwei Fallstudien weiter entfaltet und sein Potential für die historische Untersuchung von Schweigepraktiken verdeutlicht werden.
»Mit allen zusammen hielt ich den Atem an«. Schweigen als Klanghandeln
Auch wenn das zunächst einmal paradox klingen mag: Praktiken des Schweigens und ihre Geschichte sind ein wichtiger, wenngleich vernachlässigter Teil dessen, was sich auch in der deutschen Geschichtswissenschaft als sound history etabliert hat. Dieses in jüngster Zeit äußerst...
Erscheint lt. Verlag | 17.7.2024 |
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Co-Autor | Mette Bartels, Bettina Brockmeyer, Sarah Frenking, Julia Hauser, Richard Hölzl, Theo Jung, Nives Kinunda, Carolin Kosuch, Karsten Lichau, Philipp Müller, Niklas Pelizäus-Gengenbach, Andreas Günter Weis, Karolin Wetjen |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Teilgebiete der Geschichte ► Kulturgeschichte |
Schlagworte | Geschichte • Geschichte der Neuzeit • Geschichtstheorie • Geschichtswissenschaft • Geschlecht • Geschlechtergeschichte • Kolonialismus • Kulturgeschichte • Methode • Praktiken und Bedeutungen von Schweigen • Praxeologie • Schweigen • Schweigepraktiken • stumm sein • Wissen • Wissensgeschichte |
ISBN-10 | 3-593-45827-6 / 3593458276 |
ISBN-13 | 978-3-593-45827-4 / 9783593458274 |
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Größe: 5,4 MB
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