Antisemitismus und Rassismus -

Antisemitismus und Rassismus (eBook)

Konjunkturen und Kontroversen seit 1945

Christina Morina (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
160 Seiten
Vandenhoeck und Ruprecht (Verlag)
978-3-647-99318-8 (ISBN)
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Die zeithistorische Auseinandersetzung mit Antisemitismus und Rassismus hat auch in Deutschland eine bis in die Nachkriegszeit zurückreichende, lange sehr randständige, dann zunehmend gewichtigere Tradition, die stets eng verwoben war mit den Konjunkturen von Diskriminierung, Gewalt und den darauffolgenden gesellschaftlichen Antworten. Insgesamt wurden beide Phänomene zu lange von der historischen Forschung vernachlässigt, und die Gründe dafür liegen wohl nur teilweise in der jahrzehntelangen Fokussierung auf den nationalsozialistischen Rassismus der Zeit bis 1945. In jüngster Zeit ist diese Leerstelle akut deutlich geworden, scheint doch seit dem Mord an George Floyd und der global ansteigenden Rassismuskritik der gesellschaftliche Auseinandersetzungsbedarf das vorhandene zeithistorische Wissen bei weitem zu übersteigen. Der Band dokumentiert und erweitert die II. Bielefelder Debatte zur Zeitgeschichte, die 2022 in die Vielstimmigkeit und auch Unübersichtlichkeit dieser Gemengelage einige analytische Schneisen zu schlagen versuchte. Beiträge von Stefanie Schüler-Springorum, Barbara Manthe und Anna Strommenger sichten den zeithistorischen Wissensstand in Bezug auf Antisemitismus und Rassismus und fragen danach, inwiefern beides miteinander zusammenhängt. Teresa Koloma Beck und Max Czollek analysieren und kommentieren im Gespräch die aktuellen wissenschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Diskurse über Antisemitismus und Rassismus. Das Gespräch ist eine im besten Sinne 'riskante Begegnung' (Koloma Beck), die subjektive, intellektuelle und strukturelle Aspekte des Themas und nicht zuletzt die Rolle 'der Wissenschaft' in diesen Auseinandersetzungen zusammen- und weiterdenkt. Frank Wolff ordnet die Erkenntnisse und Thesen in einem Schlusskommentar in einen weiteren wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Reflexionshorizont ein.

Antisemitismus und Rassismus. Konjunkturen und Kontroversen seit 1945 – Eine historiografische Bestandsaufnahme

Stefanie Schüler-Springorum

Vor einigen Jahren kam mit Lore ein Film in die deutschen Kinos, den man als Auftakt zu jeder Veranstaltung zum Thema Antisemitismus und Rassismus nach 1945 hätte zeigen können: Er spielt am Kriegsende und beschreibt den Weg von Lore, der ältesten Tochter einer SS-Familie, durch das zerstörte Deutschland vom Schwarzwald bis nach Föhr. Während die Eltern fliehen, soll sich das junge, stramm BDM-geschulte Mädchen mit ihren kleinen Geschwistern zur Großmutter nach Nordfriesland durchschlagen. Der Film erzählt in beeindruckenden Bildern von diesem Marsch durch ein zerstörtes Land und von zerstörten Menschen: von DPs und Zwangsarbeiterinnen auf dem Weg nach Hause, Ausgebombten, Vertriebenen, Juden, Russen, Nazis, KZ-Überlebenden; es geht um Gewalt und Vergewaltigung, Trauma und Tod. Am Ende, in Wyk auf Föhr angekommen, hat sich die schweigsame Lore deutlich verändert, was sich abschließend darin zeigt, dass sie am Tisch ihrer Großmutter das gehaltvolle Essen quer über den im blauweißen Friesenmuster gedeckten Tisch kotzt. Ich benutze diesen umgangssprachlichen Begriff absichtlich hier, denn das ist es, was Lore tut: Sie kotzt sich aus, und zwar genau in dem Moment, in dem die Großmutter beteuert, die Deutschen im Allgemeinen und Lores Eltern im Besonderen treffe natürlich keine Schuld an all dem, was Deutschland jetzt widerfahre.

Mittlerweile – und dies schon seit mehreren Jahrzehnten – ist diese zähe Nachkriegsbehauptung tausendfach widerlegt, dekonstruiert und auch immer wieder moralisch verurteilt worden. Für die Zeitgeschichtsforschung der Bundesrepublik standen bis vor kurzem die Jahre zwischen 1933 und 1945 im Fokus des Interesses, zunächst über mehrere Jahrzehnte vor allem ihre Vorgeschichte, bis dann langsam und mit fortschreitender Distanz ihre Nachgeschichte in den Blick rückte. Das Interesse der Forschenden richtete sich dabei jedoch vor allem auf Lore und ihre Familie, bestehend aus ihren Eltern, Geschwistern und Großmutter, und eher weniger auf die Menschen, die ihr auf ihrem Weg begegnet sind. Es handelte sich – und dies ja auch aus guten Gründen – primär um eine deutsch-deutsche Auseinandersetzung, bei der andere Perspektiven nur sehr langsam und sehr spät in den Blick kamen. Bevor wir uns dieser Entwicklung im Einzelnen zuwenden, möchte ich hier nur kurz auf gewissermaßen systemimmanente Gründe für diesen spezifisch deutschen zeithistorischen Blick verweisen; Gründe, die vielleicht teils trivial klingen mögen, aber doch äußerst wirkmächtig sind.

Geschichte ist zunächst einmal ein langsames Fach, was zum einen mit der mühevollen und aufwendigen Materialerhebung, zum anderen mit der narrativen Form zu tun hat: Gutes und quellengesättigtes Schreiben braucht seine Zeit. Hinzu kommen die Sperrfristen in Archiven, die für viele Themen einen Gap von mindestens dreißig Jahren bewirken. Insofern ist es nicht ganz so erstaunlich, dass es in den ersten Nachkriegsjahrzehnten vor allem die Soziologie war, die sich zum Beispiel mit Antisemitismus beschäftigte – die Frage ist nur, warum dies grosso modo so geblieben ist. Hier mochte zudem die Gründung des stärker historisch arbeitenden Zentrums für Antisemitismusforschung im Jahre 1982 eine Rolle gespielt haben, denn fortan konnte man das Thema praktischerweise aus der Zeitgeschichte hinaus dorthin delegieren (ein vergleichbarer Effekt ist auch mit Blick auf die Etablierung von Lehrstühlen zur Geschlechtergeschichte zu beobachten).1

Ähnliches kann man für die Frage nach der Vernachlässigung des Rassismus in der deutschen Geschichtswissenschaft konstatieren. Diese große Leerstelle lässt sich zudem neben dem offensichtlichen Fehlen eines interdisziplinären Zentrums für Rassismusforschung nicht nur, aber auch mit dem Problem der Perspektive erklären: Ein Blick in Historische Seminare, Lehrveranstaltungen, Konferenzen und Berufungskommissionen macht schnell deutlich, dass die deutsche Geschichtsforschung bis heute ein ziemlich autochthones Unterfangen ist – im Gegensatz etwa zu den Sozialwissenschaften, wo in den letzten zwanzig Jahren eine theoretisch informierte Rassismusforschung gerade von Akademikerinnen der zweiten oder dritten Einwanderergeneration eingefordert und vorangetrieben worden ist.2

Diese Entwicklung steht der Geschichtswissenschaft noch bevor, so ist zu hoffen, denn es sind die Stimmen von vielen der damals 1945 auf den deutschen Straßen vagierenden Männern und Frauen, die wir bislang ebenso wenig zu hören bekommen haben wie die derjenigen Männer und Frauen, die in den folgenden Jahrzehnten aus ganz unterschiedlichen Gründen in dieses Land kamen, seine zerstörte Wirtschaft mitaufbauten und damit auch einen Sozialstaat, der bis heute als Fundament seiner »funktionierenden Demokratie« gilt. Ihre eigenen Erfahrungen dabei lernten sie schnell in Beziehung zu setzen zu dem, was in unseren europäischen Nachbarländern an (Kriegs-)Wissen über »die Deutschen« durchaus vorhanden war – um es einmal sehr neutral auszudrücken. Es mag eine Binsenweisheit sein, aber es lohnt sich dennoch, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass es die eigene subject position, die sich aus bestimmten biografischen wie kollektiven Erfahrungen und tradiertem Wissen zusammensetzende »eigene Perspektive« ist, die in unsere Arbeit als Historikerinnen einfließt, unsere Interessen, Fragestellungen und Quellenauswahl prägt und damit auch die Geschichte, die wir von diesem Land schreiben. Erst wenn wir dies selbstkritisch reflektieren, sind wir in der Lage, Leerstellen – im Gegensatz zu »Forschungslücken« – zu benennen und den damit verbundenen potentiellen Perspektivwechsel als Bereicherung zu begreifen.

Ich habe diesen Text bewusst mit der (Kurz-)Beschreibung eines Films begonnen, an dessen Anfang die zentrale Botschaft des Jahres 1945 aus Sicht der deutschen Bevölkerung steht: Der Krieg ist vorbei und mit ihm der Traum vom »Tausendjährigen Reich«, von der Weltherrschaft oder doch zumindest vom (ost-) europäischen Kolonial- und Siedlungsreich. Und nicht nur das: Das Land ist besetzt und wird nun zum Teil von Menschen beherrscht, die bis vor wenigen Wochen noch als »Untermenschen« galten. Und schlimmer noch: Millionen von befreiten Sklavenarbeitern und Kriegsgefangenen, oftmals derselben Kategorie, bewegten sich unkontrolliert durchs Land. Damit wurde der Alptraum der deutschen »Herrenrasse« wahr, der nicht zufällig und schon gar nicht unbegründet zu einer Welle von Suiziden, vor allem unter Parteimitgliedern und vor allem im Osten Deutschlands, führte.3 Der deutsche Superioritätswahn hatte eine empfindliche Niederlage erlitten, deren Folgen man überall sehen beziehungsweise eben nicht übersehen konnte – in den zerstörten Städten nicht, aber auch nicht auf dem Land.

Es lohnt sich in diesem Kontext, Hannah Arendts berühmten Bericht »über die Nachwirkungen des Naziregimes« zu lesen, den sie nach ihrem ersten Besuch im Nachkriegsdeutschland 1949/1950 verfasst hat. Sie zeigte sich stark beeindruckt von der Gefühllosigkeit, mit der die Deutschen durch ihre zerbombten Städte stolperten, und der Larmoyanz, mit der sie ihr eigenes Schicksal beklagten und jegliche Verantwortung für etwaige andere Opfer weit von sich wiesen.4 Sicher blickte auch sie aus einer spezifischen Perspektive, verbunden mit einem scharfen Verstand und ebenso scharfer Feder. Aber das Bild der nur sich selbst bemitleidenden Nachkriegsdeutschen findet sich in so vielen Quellen, historischen wie literarischen, dass man ihm schon eine gewisse Glaubhaftigkeit unterstellen darf. Es ist in diesem Kontext wichtig, sich noch einmal vor Augen zu führen, dass der Völkermord an den europäischen Juden, aber auch der Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion, die Massaker an der Zivilbevölkerung in Serbien und Griechenland oder die Ausbeutung der zwölf Millionen Zwangsarbeiter keine Themen in der direkten Nachkriegszeit waren, jedenfalls nicht für die Angehörigen des Tätervolks. Dabei spielten auch die Nürnberger Prozesse eine nicht zu unterschätzende Rolle, die zum einen die Spitze der politisch Verantwortlichen bestraften (beziehungsweise diejenigen, derer sie habhaft werden konnten) und zum anderen den Terminus crimes against humanity einführten, der lange Zeit gern mit »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« übersetzt wurde, so als habe man es lediglich an ein bisschen Menschlichkeit mangeln lassen und nicht Teilen der Menschheit eben diese abgesprochen.

Zugleich ist es genau dieser historische Moment einer, wenn man so will, krachenden Niederlage von Armee und Welt- beziehungsweise Selbstbild, in dem Antisemitismus und Rassismus in der Nachkriegszeit eine neue, zusätzliche Funktion erhielten, was ihre weiter beobachtbare Virulenz erklärt – ganz abgesehen davon, dass man rassistisches und antisemitisches Wissen und Fühlen ohnehin nicht von einem Tag auf den anderen verlernen oder als falsch erkennen kann. Noch nie war Deutschland, um noch einmal Hannah Arendt zu zitieren,5 so antisemitisch wie nach dem Nationalsozialismus, nach dem Krieg, in der...

Erscheint lt. Verlag 15.7.2024
Reihe/Serie Vergangene Gegenwart
Co-Autor Stefanie Schüler-Springorum, Teresa Koloma Beck, Max Czollek, Barbara Manthe, Anna Strommenger, Amir Theilhaber, Christina Morina, Frank Wolff
Mitarbeit Herausgeber (Serie): Christina Morina
Verlagsort Göttingen
Sprache deutsch
Themenwelt Geschichte Allgemeine Geschichte Zeitgeschichte
Schlagworte Antisemitismus • Dekolonialisierung • Deutsche Zeitgeschichte • Diskriminierung • Diskursgeschichte • Rassismus
ISBN-10 3-647-99318-2 / 3647993182
ISBN-13 978-3-647-99318-8 / 9783647993188
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