Klinische Psychologie und Psychotherapie (eBook)
920 Seiten
Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
978-3-8444-3148-3 (ISBN)
|13|1 Was ist Klinische Psychologie und Psychotherapie?
Tobias Teismann, Patrizia Thoma, André Wannemüller, Kirsten von Sydow & Svenja Taubner
1.1 Klinische Psychologie
Die Klinische Psychologie ist ein Teilgebiet der Psychologie, das sich in Forschung und Praxis mit Determinanten psychischer Störungen und psychischer Gesundheit beschäftigt (siehe Kasten).
Definition: Klinische Psychologie
Klinische Psychologie ist definiert als „diejenige Teildisziplin der Psychologie, die sich mit psychischen Störungen und den psychischen Aspekten somatischer Störungen/Krankheiten befasst. Dazu gehören u. a. die Themen Ätiologie/Bedingungsanalyse, Klassifikation, Diagnostik, Epidemiologie und Intervention (Prävention, Psychotherapie, Rehabilitation, Gesundheitsversorgung, Evaluation)“ (Baumann & Perrez, 1998, S. 32).
Der Fokus der Klinischen Psychologie ist das Konstrukt „psychische Störung“. Die Klinische Neuropsychologie befasst sich dabei spezifisch mit psychischen Störungen, die als Folge einer erworbenen Erkrankung oder Verletzung des Gehirns auftreten. Anders als man vielleicht denken würde, ist es nicht trivial zu definieren, was eine psychische Störung – in Abgrenzung zu psychischem Normalbefinden – ausmacht. Herangezogen werden hierzu verschiedene Kriterien (Devianz, Leiden, Funktionsbeeinträchtigung), die aber nicht alle immer gegeben sind oder gegeben sein müssen, um von einer psychischen Störung zu sprechen:
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Devianz. Devianz (= Abweichung) kann definiert werden als: (a) Abweichung von einer statistischen Norm, d. h. die „Seltenheit“ des Verhaltens oder Erlebens wird als Indikator für Störung/Erkrankung genommen. Dieses Kriterium stößt vielfach an Grenzen: So wird beispielsweise ein außergewöhnlich hoher IQ von den wenigsten als gestört betrachtet und Karies bleibt pathologisch, obwohl die Erkrankung sehr häufig ist. (b) Abweichung von einer sozialen Norm, d. h. von gesellschaftlichen Erwartungen, wie sich eine gesunde Person zu fühlen und zu verhalten hat. Dieses Kriterium ist auf erhebliche Weise kulturellen und zeitgeistlichen Schwankungen unterworfen, wie beispielsweise die Tatsache, dass Homosexualität bis ins Jahr 1973 als psychische Störung galt, deutlich macht. (c) Abweichung von einer subjektiven Norm, d. h. von dem Zustand, in dem eine Person sich zu einem früheren Zeitpunkt befand und der ihren Zielsetzungen, ihren Möglichkeiten und ihren Lebensumständen entsprach. Dieses Kriterium steht in engem Zusammenhang mit dem Erleben von Leidensdruck, verliert aber bereits bei der Betrachtung von Alterungsprozessen an definitorischer Schärfe.
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Leiden. Inwieweit Betroffene (und ihre Bezugspersonen) sich durch Symptome, Denk-, Verhaltens- und Reaktionsweisen belastet fühlen, wird hier als Indikator für Störung/Erkrankung genommen. Das Ausmaß persönlichen Leidens entscheidet darüber, ob beispielsweise Ängste vor Spinnen, Schlangen oder Höhen als spezifische Phobie und damit als psychische Störung verstanden werden oder im Variationsbereich normaler Ängste verortet werden. Gleichzeitig gehen Zustände wie Hypomanie bzw. Manie oder eine organisch bedingte Apathie vielfach nicht mit Leidensdruck bei den Betroffenen (wohl aber häufig bei den Angehörigen) einher und werden gleichwohl als pathologisch verstanden. Auf der anderen Seite sind Liebeskummer und Trauer mit erheblichem Leid verbunden, ohne im Regelfall als pathologisch zu gelten.
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Funktionsbeeinträchtigung. Inwieweit Betroffene durch Symptome, Denk-, Verhaltens- und Reaktionsweisen in ihrer sozialen, schulischen, beruflichen und freizeitbezogenen Lebensführung beeinträchtigt sind, wird hier als Indikator für eine Störung/Erkrankung verstanden. Dieses Kriterium greift beispielsweise, wenn das Haus aufgrund einer Angststörung nicht mehr verlassen werden kann oder eine Manie oder eine Gedächtnisstörung infolge einer neurologischen Erkrankung das Ausführen einer geregelten Tätigkeit verhindert. Gleichzeitig gelingt es vielen Betroffenen auch trotz einer psychischen Problematik ein gehobenes Funktionsniveau aufrechtzuerhalten, sodass auch dieses Kriterium kein definitives Kennzeichen psychischer Störungen ist.
Bei der Beurteilung des Zustands einer Person als psychische Störung wirken die verschiedenen Kriterien – in jeweils unterschiedlicher Gewichtung – zusammen. Allgemein werden psychische Störungen von der American Psychiatric Association (APA) wie folgt definiert (siehe Kasten).
|14|Definition: Psychische Störung
„Eine psychische Störung ist als Syndrom definiert, welches durch klinisch bedeutsame Störungen in den Kognitionen, der Emotionsregulation oder des Verhaltens einer Person charakterisiert ist. Diese Störungen sind Ausdruck von dysfunktionalen psychologischen, biologischen oder entwicklungsbezogenen Prozessen, die psychischen und seelischen Funktionen zugrunde liegen. Psychische Störungen sind typischerweise verbunden mit bedeutsamen Leiden oder Behinderung hinsichtlich sozialer oder berufs-/ausbildungsbezogener und anderer wichtiger Aktivitäten. Eine normativ erwartete und kulturell anerkannte Reaktion auf übliche Stressoren oder Verlust, wie z. B. der Tod einer geliebten Person, sollte nicht als psychische Störung angesehen werden. Sozial abweichende Verhaltensweisen (z. B. politischer, religiöser oder sexueller Art) und Konflikte zwischen Individuum und Gesellschaft sind keine psychischen Störungen, es sei denn, der Abweichung oder dem Konflikt liegt eine der oben genannten Dysfunktionen zugrunde“ (APA/Falkai et al., 2015, S. 26).
Bei der Auseinandersetzung mit psychischen Störungen muss immerzu im Blick behalten werden, dass psychische Störungen Konstrukte sind und es sich nicht um tatsächliche Entitäten handelt. Psychische Störungen werden auf Basis eines – empirisch-informierten – konsensualen Prozesses definiert und nicht auf Basis einer bekannten und detektierbaren (biologischen) Verursachung. Dies gilt auch für die Klinische Neuropsychologie, die sich zwar mit psychischen Störungen befasst, die in der Regel mit einer nachweisbaren organischen Ätiologie in Zusammenhang stehen, in ihrer genauen Ausgestaltung dennoch auch bei gleicher organischer Pathologie variieren. Damit geht einher, dass die Definition psychischer Störungen sich über die Zeit und kulturell abhängig wandelt und gewandelt hat (Frances, 2014) und dass es – anders als vielfach im Bereich der somatischen Erkrankungen – keinen objektivierbaren Marker für das Vorliegen einer psychischen Störung gibt. In der Konsequenz hat sich der Begriff der psychischen Störung (mit Krankheitswert) gegenüber dem Begriff der psychischen Krankheit etabliert. Da psychische Störungen immer auch soziale Konstruktionen sind, wird um ihre Konzeptualisierung immer wieder gerungen (Borsboom, 2017).
Was als psychische Störung verstanden wird und wie spezifische psychische Störungen definiert werden, ist in den diagnostischen Klassifikationssystemen psychischer Störungen – der International Classification of Diseases (ICD-10; WHO, 1992) und dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5; APA/Falkai et al., 2015) – festgelegt (siehe Kasten).
ICD-10, ICD-11 und DSM-5
Die im Kapitel V (F) der 10. Revision der Internationalen Klassifikation der Erkrankungen (International Classification of Diseases; ICD-10; WHO, 1992) kodierten diagnostischen Konventionen sind international für alle Gesundheitssysteme und -berufe verbindlich. In insgesamt 11 Unterkapiteln werden verschiedene Formen psychischer Störungen zusammengefasst und mit spezifischen Kodierungen versehen: Organische, einschließlich symptomatischer psychischer Störungen...
Erscheint lt. Verlag | 10.6.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften |
ISBN-10 | 3-8444-3148-9 / 3844431489 |
ISBN-13 | 978-3-8444-3148-3 / 9783844431483 |
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