Die Jenseitsreise in der frühneuhochdeutschen Literatur -  Nathalie Wulle

Die Jenseitsreise in der frühneuhochdeutschen Literatur (eBook)

Grenz- und Heilserfahrungen am Beispiel von Tondolus' Vision und St. Brandans Meerfahrt
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
136 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-7602-3 (ISBN)
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Anhand Tondolus' Vision (1483) und St. Brandans Meerfahrt (1476) differenziert die Autorin in einer Vergleichsanalyse die frühneuhochdeutsche Visionsliteratur hinsichtlich ihrer Funktion und Wirkung. Die anthropologischen und philosophischen Jenseitsvorstellungen wurden in der Heldenepik mit ihrem antithetischen Verhältnis von Leben und Tod und in der Visionsliteratur mit der Entrückung ins Jenseits erfasst. Die Besonderheiten der Jenseitsreise liegen in der Topografie und der Semantik des Raumes, in dem transzendente Erfahrungen möglich sind. Die mittelalterliche Jenseitsreise unterlag einer kulturellen Fusion und Diffusion bezüglich der Raumsemantik und liefert keine einheitliche Vorstellung von Jenseitsgedanken. Vielmehr beeinflussten unterschiedliche Strömungen des Jenseitsglaubens die Visionsliteratur im Mittelalter, weswegen das damalige kulturelle Bild der Jenseitsreise traditionell archaisch-heidnisch und eschatologisch-religiös geprägt war. Das Jenseits als ein Ort der immateriellen Existenz war bereits im Altertum durch die Imagination von Gefühlsräumen und Auseinandersetzung mit dem Tod vorstellbar. Die Grenz- und Heilserfahrungen der beiden Protagonisten als sekundäres Ziel der Jenseitsreise stehen dabei im Zeichen der Subjektivierung und Förderung des Jenseitsglaubens. Die Autorin leistet einen hochinteressanten Beitrag zum wissenschaftlichen Diskurs und teilt eine wertvolle Abhandlung über die mittelalterliche Visionsliteratur hinsichtlich der Authentizität von Grenz- und Heilserfahrungen bei Jenseitsreisen. Sie taucht detailliert ins Thema ein, dabei ist ihre Vorgehensweise analytisch stringent und nachvollziehbar. Dadurch macht sie die Unterscheidung von echten und unechten Visionen am Beispiel der jeweiligen literarischen Abbildung deutlich und hebt die Unterschiede zwischen Jenseitsreisen und Jenseitsvisionen hervor.

Studium an der Albert-Ludwigs-Universität in den Fächern Deutsch, Geschichte und Bildungswissenschaften. Seit 2018 unter der Leitung von Professor Dr. Martina Backes mit dem Thema "Jenseitsgedanken in Bild und Text" beschäftigt. Wissenschaftliche Abschlussarbeit im Wintersemester 2022/23 unter der Leitung von Apl. Professor Dr. Stefan Seeber zum Thema "Jenseitsreisen in der mittelhochdeutschen Literatur - Grenz- und Heilserfahrungen". Seit 2023 akademischer Grad: Bachelor of Arts (B.A.) Expertin in der mittelhochdeutschen Visionsliteratur im Bereich der Germanistischen Mediävistik an der Albert-Ludwigs-Universität in Freiburg.

1 ENTSTEHUNGSPROZESSE IM VERGLEICH
ST. BRANDANS MEERFAHRT VS. TONDOLUS’ VISION


Die Frage nach dem Entstehungsprozess der mittelhochdeutschen Jenseitsreise unterliegt der »Vorstellung eines Gegensatzes und einer Hierarchie zwischen ›gelehrter‹ und ›volkstümlicher‹ Kultur«28. Jacques Le Goff geht davon aus, dass die Entstehung von Erzählungen über die Reise ins Jenseits auf einer Interaktion des globalen Mittelalters beruht und auf einer Korrespondenz zwischen der gelehrten und volkstümlichen Gesellschaft basierte.29 St. Brandans Meerfahrt und die Vision des Tondolus gehören der dritten Traditionslinie im Entstehungsprozess von Jenseitsreisen an, denen die »Erzählungen der jüdisch-christlichen Apokalyptik«30 und »die Höllenreisen des assyrisch-babylonischen Helden Ur-Nammou, Prinz von Ur, dann von Enkidou im Gilgamesch-Epos«31 vorausgehen. Die mündliche Überlieferung der dritten Traditionslinie stammt aus keltischen bzw. irischen Erzählungen über Reisen ins Jenseits, die aus heidnischen Versionen entstanden. Die lateinische Visio Tnugdali, die von einem irischen Ritter handelt, wurde 1149 von einem klerikalen Schreiber verfasst.32 Ritter Tnugdali ist ein Laie, dessen Seele das Jenseits durchwandern und durchleben muss. Die Jenseitsräume in Tondolus’ Vision sind systematisiert und erstrecken sich über »eine intermediäre Region«33. Die Entstehungsgeschichte von St. Brandans Meerfahrt hingegen ist aufgrund seines sukzessiven Aufenthalts in einer schlaraffenlandartigen Umgebung den vorchristlichen Vorbildern näher als die christlichen Höllen- und Paradiesvorstellungen in Tondolus’ Vision.34 Die Besonderheit dieser literaturhistorischen Gattung besteht darin, dass sie in einem »System der Wechselwirkung«35 eingebettet ist, weil ihre Überlieferung im Übergang vom klerikalen zum volkstümlichen Erzählen angesiedelt werden kann, weshalb die Erzählstrategien und Motivübernahmen parallel verlaufen und die entstehungsgeschichtlichen Traditionslinien miteinander kollidieren. Vier Phasen der Weitergabe können voneinander unterschieden werden, von denen drei im mündlichen Überlieferungsbereich liegen, es aber erst in der vierten Phase zur Verschriftlichung des Jenseitsberichts kommt. Tradiert werden die Berichte aus der volkstümlichen Mündlichkeit über einen gelehrten (litteratus) Kleriker zu einem ungelehrten (illiteratus) Laien bis hin zu einem unbekannten Schreiber (scriptor). Inwiefern die mündlichen Überlieferer die Jenseitsberichte veränderten, erweiterten oder kürzten, ist nicht mehr nachvollziehbar.36 In der vierten Phase, dem Schritt zur Verschriftlichung der Jenseitsberichte, kam es mit ziemlicher Wahrscheinlichkeit zu »eine[r] ›literarische[n]‹ und ›logische[n]‹ Formgebung«37, die mit »eine[r] ›Modernisierung‹ und […]›Christianisierung‹«38 in Zusammenhang stand. Insgesamt sind drei Änderungen aufgrund der Christianisierung der Motive festzustellen.39

[D]ie Verwandlung des greisen Seelenführers in einen Engel, die Gleichsetzung des Landes in der anderen Welt mit dem Ort, an dem »Henoch und Elias wohnen«, dem irdischen Paradies also, die Verwandlung der Burg des Helden in ein Kloster.40

Jacques Le Goff spricht in diesem Zusammenhang von einer »komplexen Geschichte der mittelalterlichen Akkulturation«41, weil die kulturelle Realität zwischen Klerus und Laientum aus einer Interaktion zwischen der volkstümlichen Mündlichkeit sowie der klerikalen Schriftlichkeit bestand. Der Visionär war in den meisten Fällen ein Kleriker oder Laie, der seine Vision einem ranghöheren Abt erzählte, der diese wiederum aufschrieb oder sie einem anderen Schreiber diktierte. So ist der Erlebnisbericht von einem ungebildeten Kleriker oder Laien über die mündliche Erzählung zu einem gebildeten Schreiber in die Kultur der Gelehrten eingegangen.42 Der Höhepunkt der soziokulturellen Geschichte der Jenseitsreise liegt in der Epoche zwischen dem 7. und 10. Jahrhundert. In dieser Blütezeit des Mönchtums kam es zu einem kulturellen Umschwung, der die volkstümlichen Elemente wiederbelebte.43 Erst im 11. und 12. Jahrhundert fand ein Auftrieb der Laienkultur statt, der mit dem »Durchbruch der Folklore«44 verbunden war.

Peter Dinzelbacher bestätigt für die Entstehungsgeschichte der Jenseitsvisionen eine chronologische Reihenfolge der Überlieferungskette. Die Visionsberichte konnten entweder mit dem Zeitpunkt des Erlebnisses oder dem Zeitpunkt der Aufzeichnung ausgewiesen werden. Auch die historischen Lebensdaten des Visionärs konnten als Zeitpunkt des visionären Erlebnisses genannt werden. Wahrscheinlich ist aber, dass die Schreiber die Jenseitsberichte möglichst genau an den Ort und die Zeit der Vision legten, um das Bild der Jenseitsvision nicht zu verzerren. Im Fall von Tondolus’ Vision sind dessen Lebensdaten unbekannt. Die Vision selbst ist genau auf das Jahr 1149 datiert.45 St. Brandans Meerfahrt hingegen lässt sich trotz aller Bemühungen der literaturhistorischen Forschung nicht genau datieren. St. Brandans Lebensdaten sind zwar bekannt, aber der Entstehungszeitpunkt seiner Meerfahrt ist ungewiss, kann jedoch für das Ende des 8. Jahrhunderts angenommen werden.46

1.1 Heiligenlegende und historische Figuren – St. Brandan der Heilige vs. Tondolus der Ritter


St. Brandan war ein irischer Abt, der laut den Annalen von Ulster am Ende des 6. Jahrhunderts (577/583) verstarb.47 Sein Geburtsdatum ist umstritten, wird aber auf das Jahr 484 datiert.48 St. Brandans Geburt steht in Zusammenhang mit der Prophezeiung eines der verehrtesten und bekanntesten Heiligen Irlands, dem Heiligen Patricius. Er entstammte einer der bekanntesten und einflussreichsten Familien Irlands und wuchs im ›Tal der Wunder‹49 (Cluain-Ferta/Clonfert) unter dem Einflussgebiet von Bischof Erc auf.50 In Clonfert gründete St. Brandan (553–563) einen Bischofssitz mit mehreren Klöstern und wird seither als irischer Apostel verehrt.51 Mehrere Kulturorte sind noch immer nach ihm benannt, z. B. »die Berge Brandon Hill und Mount Brendan und die Quelle Brandon Well«52. Am 16. Mai feiert Irland seinen Gedenktag.53 Aus hagiografischen Quellen existieren einige Erzählungen über seine Kindheit, in der er bereits als kleiner Junge wahre Quellwunder vollbracht haben soll. Laut seiner Lebensbeschreibung ließ er eine Quelle aufsprudeln, um seinen Ziehvater vor der glühenden Hitze des Feuers zu bewahren.54 Aus historischen Quellen geht hervor, dass St. Brandan mindestens einmal eine Seereise um die britische Insel unternahm, bei der er vom Osten Irlands aus nach Frankreich segelte.55

Die Brandan-Legende war eine der beliebtesten, unterhaltsamsten und meistgelesenen Abenteuerfahrten der mittelalterlichen Visionsliteratur. Sie hatte einen weitreichenden Bekanntheitsgrad und gilt aus heutiger Sicht als mittelalterlicher Bestseller.56 Sie entstammt altirischen und mündlich überlieferten Schifffahrtssagen, die im 6. Jahrhundert kursierten. Aus ihnen entstand im 7. Jahrhundert eine besondere Gruppe von Sagen, die als ›Immrama‹ bezeichnet werden. Diese Sagen handeln ausnahmslos von Seefahrten, die von einer besonderen Gruppe freiwillig unternommen wurden, mit dem Ziel, das Jenseits zu erkunden. Das Immram erzählt von einer Mannschaft, die unter der Leitung eines überlegenen Führers während einer Meerfahrt auf eine Insel stößt.57 Es ist eine Art fantastischer Reisebericht, in der »Reales und Irreal-Mythisches zu einem unentwirrbaren Geflecht verwoben«58 ist. Diese Sage gilt als Vorstufe der Brandan-Legende, in der die Meerfahrt auf christlich-mönchische Art abgehandelt wird. Heidnische Vorstellungen werden hierbei auf Heilige aus dem Christentum übertragen.59 Die Vita des Brandan und das Immram der nordischen Seefahrererzählung bilden demnach die Basis der Heiligenlegende, die als Navigatio etwa am Ende des 8. Jahrhunderts niedergeschrieben wurde.60 Legenden handeln »von Akten charismatischer Erfahrung«61, die die Alltagserfahrung unterbrechen und dennoch sozial vertretbar sind. Von anderen Erzählformen abgrenzbar sind sie durch ihre unmarkierte Fiktion, die kognitive Dissonanzen anhand des symbolischen Charakters reduziert. Die religiöse Ebene verblendet das Fantastische und erklärt das Übernatürliche anhand der christlichen Glaubenslehre.62

Die Visio Tnugdali hingegen erscheint als authentischer Visionsbericht, der in enger Verwandtschaft zur Bußpredigt steht. Diese Vision steht in Zusammenhang mit der Heiligenlegende des Patricius, weil der irische Heilige, ebenso wie die Apostel Petrus und Paulus, zu den ersten Predigern zählte, der dem Volk die Strafen und Belohnungen des Jenseits...

Erscheint lt. Verlag 9.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
ISBN-10 3-7583-7602-5 / 3758376025
ISBN-13 978-3-7583-7602-3 / 9783758376023
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