Von Norden rollt ein Donner -  Markus Thielemann

Von Norden rollt ein Donner (eBook)

Roman
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
287 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-82248-3 (ISBN)
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Täglich treiben der 19-jährige Jannes und seine Familie die Schafe über die Flächen der Lüneburger Heide. Doch es herrscht eine gärende Unruhe in der Gegend, der Wolf ist zurück. Es mehren sich Schafsrisse und mit ihnen Konflikte im Dorf, die schnell politisch werden. Kann Heimatschutz Gewalt rechtfertigen? Während sich die Situation zuspitzt und in Selbstjustiz der Bevölkerung zu eskalieren droht, flüchtet Jannes zu seinen Schafen in die Heide. Bis er dort immer wieder auf eine merkwürdige Frau trifft. Er beginnt, ihr zu folgen, und kommt Schritt für Schritt hinter die Geheimnisse dieser vermeintlichen Sehnsuchtslandschaft, stößt auf Brutalität, völkische Ideologie - und auf ein tiefes Schweigen. Markus Thielemann begibt sich mit seinem fesselnden Anti-Heimatroman tief hinein in die Abgründe eines 'urdeutschen' Idylls.

Markus Thielemann, geboren 1992, lebt in Hannover. Er studierte Geografie und Philosophie in Osnabrück, anschließend Literarisches Schreiben in Hildesheim. 'Von Norden rollt ein Donner' ist sein zweiter Roman.

1


Sie erscheinen auf der Oktoberheide, auf einem Rücken der Ebene, hinter dem es nichts zu geben scheint als immerzu treibende Wolkenmaserung: zwei Hundeschemen, dann der Hirte. Den Stecken in der Rechten, bleibt er im Gegenlicht, seine Gestalt so gebeugt, dass man ihn für einen alten Mann halten könnte. Erst als er einen Schritt macht, wird sein Gesicht erkennbar. Er hat glatte, wettergerötete Wangen, leicht abstehende, ebenso gerötete Ohren, eine Böe scheitelt haferfarbene Strähnen. Im Nacken ist sein Haar flusig und dunkler, in der gleichen Farbe wie seine Augen, die auf den Boden gerichtet bleiben. Hinter ihm formiert sich sein Vieh, Hunderte Tiere. Er geht voran, und nach und nach bildet die Herde in seinem Rücken eine breite graue Schleppe.

Von Norden rollt ein Donner und verhallt. Blitzlos. Keines der Tiere zuckt, auch der Hirte nicht. Er schaut nicht einmal auf, trottet weiter. Langsam, als würde die Zeit um sie träger fließen, ziehen sie hinaus über das verblühte Land, sacht gewellte Ödnis, gefärbt von braun verholztem Kraut und Sand, wo nichts emporragt außer den Wacholdersträuchern, zerbrochenen Säulen gleich.

Sein Name ist Jannes Kohlmeyer, er ist neunzehn Jahre alt. Das Krachen der Panzermunition, die tagsüber auf dem Fabrikgelände des Waffenherstellers Rheinmetall getestet wird, nimmt er kaum wahr. Es gehört für ihn zur Arbeit wie das Zischen des Windes und das Blöken des Viehs. Er hat andere Sorgen.

An einer Senke hält er, lässt die Herde an sich vorbeiziehen, zählt fast automatisch, kontrolliert ganz beiläufig die Beschaffenheit der Flanken, den Zustand der Wolle, der Schnauzen, ihren Gang, die Zitzen, die Klauen. Es sind 42 Ziegen und 357 Heidschnucken; archaische Wesen mit verdrehtem Gehörn, graubraunen Wollzotteln und tiefschwarzen Schädeln, aus denen die Augäpfel hell hervorstechen. Sie sind zäh und genügsam, geben gerade genug Milch für die eigenen Lämmer, von denen die Familie dieses Jahr nur sechs Stück behalten hat. Die anderen sind verkauft oder geschlachtet.

Unten drängen sich die Tiere aneinander. Hera und Kasch, die beiden Hütehunde, umkreisen den Pulk. Jannes blickt hinunter, die Bewegungen erinnern ihn an Bilder aus einer Dokumentation über den Weltraum. Wie Monde oder Planeten kreisen sie um die Herde, das Zentrum des Alls. Und dann schweift er ab; er hat seinen eigenen dunklen Wanderer, einen Gedanken, der seit Tagen kommt und geht auf elliptischer Bahn, dessen Gravitation drückt und lähmt und Jannes in die Leere schauen lässt, bis ihn die Fliehkraft einmal mehr zurück in die Nacht schleudert: Papa geht zum Arzt.

Sie sind jetzt gerade beim Arzt, denkt Jannes. Wahrscheinlich genau jetzt. Das ist ja an sich nichts Schlimmes, nein, gar nicht. Er kann sich nur nicht erinnern, dass das je vorgekommen wäre. Sein Vater wird nicht krank. Er beschwert sich nie, nicht mal über Kopfschmerzen oder den Rücken.

Eine der älteren Schnucken löst sich aus der Herde, setzt an und schießt den Hang auf der anderen Seite hinauf. Wie ein Organismus beginnt der Rest hinterherzufließen, flankiert von den beiden Collies.

Es kann nichts Schlimmes sein, denkt Jannes noch einmal, oder eher: versucht es zu denken, während er mit dem Stecken als Stütze den Hang hinabsteigt. Es sind ja nur diese Aussetzer. Wahrscheinlich irgendein Mangel oder so was, das hatte seine Mutter gesagt, oder der Stress. Er folgt den letzten Tieren mit dem Blick, die halb hüpfend, halb galoppierend den Anschluss suchen. Die Herde, denkt er. Das Zentrum des Alls.

Der Boden in der Senke ist feucht und von Klauenspuren vertreten. Er betrachtet das Gewirr im Sand zu lange und entdeckt etwas, das ihn beunruhigt: Abdrücke, die nicht von den Klauen der Schnucken stammen, sondern von Pfoten.

Die sind von den Hunden, ist sein erster Gedanke. Aber schon im selben Moment überlegt er, ob die Spur nicht seltsam aufgereiht wirkt; könnte sein, könnte aber auch am Vertritt liegen. Wer soll so was sagen? Er sucht den Hang nach den schlanken Silhouetten der Collies ab, findet sie nicht im Gewimmel, und er erinnert sich, dass er die Hunde dort im Inneren der Senke nicht gesehen hat. Und mit einem Mal wirkt ihm die Spur auch zu tief und nicht frisch genug, im Vergleich zu den Klauenabdrücken der Herde. Er pfeift.

«Kasch! Hera! Bei!»

Die Hunde schießen nacheinander den Hang hinunter, und bevor er ihnen befehlen kann zu warten, pflügen sie durch die Spur. Sie kommen vor ihm zum Stehen, er starrt in durchscheinende, tatbereite Augen.

«Was geht da drin vor?», fragt er. «Ihr kleinen Verbrecher, was denkt ihr?»

Er hockt sich hin, packt sie nacheinander bei den Schnauzen und kabbelt sie, spürt die Wärme des Atems an den Fingern und die Kraft der feinen Nackenmuskeln, dann lässt er los. Kasch schüttelt sich, Hera tippelt auf der Stelle. Jannes wendet sich ab. Sein Smartphone vibriert. Er klemmt sich den Stab unter die Achsel und ruft:

«Na los!»

Die Hunde hetzen den Hang wieder nach oben, Jannes zieht das Smartphone aus der Tasche seines Überwurfs, ihre frischen Spuren genau im Blick; sieht doch verdammt ähnlich aus. Warum hat er kein Foto gemacht? Idiot, denkt er noch, während er die Nachrichten liest. SMS von seiner Mutter, die Jannes im Handy unter Muddern eingespeichert hat.

«Kommen die Genesenen gut mit? Wie lange braucht ihr noch ca.? Gruß, Mama»

Jannes tippt, während er der Herde den Hang hinauf folgt. Sein Muskelgedächtnis kennt das Gelände, seine Augen ruhen meist auf den Tieren oder auf dem Smartphone.

«So zwei Stunden und jau sieht gut aus. Machen keine mätzchen», tippt er und dann, nach kurzem Innehalten, eine zweite Nachricht:

«Wie wars beim arzt?»

Er scrollt die Unterhaltung nach oben, schaut, ob sie noch etwas anderes geschrieben hatte, aber findet nichts als die kurzen, sich abwechselnden Absätze, dazwischen verwackelte Fotos, die angehobene, verschorfte Klauen zeigen oder mit dem Daumen hochgezogene Schafslippen, die freigelegten Zahnreihen immer wieder erschreckend menschenähnlich. Fotos von Pferchschäden, Fotos von rötlichen oder verflüssigten Kötteln. Dazwischen vereinzelte Okays, Guts und Gruß, Mamas.

Auf der Kuppe angekommen, schaut er vom Gerät auf, aus einem Gefühl heraus. Die Herde bewegt sich nicht. Auch die Hunde sind still, kein Wind. Nur das Rascheln der Tiere, vereinzeltes Blöken. Sofort erinnert er sich an die Spuren unten. Gleichzeitig fällt ihm auf, dass ein paar der gehörnten Schädel sich Richtung Waldrand wenden. Die Ziegen heben die Köpfe, die schwarzen Schlitze in den Augen in die Leere gerichtet. Plötzlich brechen ein paar Tiere zur Seite aus.

«Hey!»

Hera jagt los und treibt sie zurück in die Traube. Jannes lehnt sich wieder auf seinen Stock, kneift die Augen zusammen und folgt den Blicken der Tiere. Die Wolken hängen schwer und tief über dem Land, der angrenzende Forst bildet eine dunkle Mauer. Im Grunde könnte alles dahinter lauern, sich verbergen, bis der Hunger es hinaustreibt. Er denkt an die körnigen, verwackelten Videos aus den Facebook-Gruppen, auf einem war das Tier zu sehen. Es bewegte sich ruhig am Straßenrand entlang, federnder Lauf, geduckter Schädel, fixierender Blick, neugierig vielleicht, dagegen schwer der Atem des Filmenden, in der Stimme heisere Panik Haust du wohl ab! Hau ab du! Hau ab jetzt!, immer wieder, und es löste nicht mal ein Zucken beim Tier aus, dann flog ein Stein, knirschte über die Landstraße, der Wolf duckte sich weg, drehte ab und jagte über den Acker davon, war innerhalb von Sekunden zum Fleck am Waldrand geworden, grau in braun, kaum zu unterscheiden von einem jungen Reh oder einem streunenden Hund.

Jannes denkt an den Riss vor drei Wochen auf der Standweide der Steinbecks, kaum dreißig Kilometer entfernt, sieht die schlecht fotografierten Bilder des dahingestreckten Kalbs in Siegrid Steinbecks Facebook-Galerie vor sich, viermal das gleiche Motiv im Gitterquadrat. Klick, der Mauszeiger über den angefressenen Stellen zwischen den Hinterbeinen, die fransigen Hautlappen, die Worte seines Vaters: Guck dir die Scheiße an, keine hundert Meter vom Haus entfernt. Guck dir diese Scheiße an.

Kasch hat den Schädel auf dem Boden zwischen den...

Erscheint lt. Verlag 11.7.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Literatur Romane / Erzählungen
Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
ISBN-10 3-406-82248-7 / 3406822487
ISBN-13 978-3-406-82248-3 / 9783406822483
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