Otto von Freising - Crabnebel

Seit Friedrich Nietzsches Verriss der Geschichtsschreibung sind die Zeiten vorbei, in denen der Historiker wahrheitsgetreu berichtet, „wie es einmal war“. Die Historiker verzichten auf die Weltgeschichte, üben sich in Mikrostrukturen. Wer wollte es wagen, einen Überblick, eine Gesamtschau zu geben, gar einen Sinn der Geschichte zu erkennen? Die Soziologie, einst als Hilfswissenschaft gedacht, hat sich der Geschichtsschreibung bemächtigt. Darauf reagiert der historische Roman. Alfred Döblin, Heinrich Mann, Lion Feuchtwanger geben der Historie das zurück, was sie vernichtete: das Leben. Das, was die Menschen fühlten und dachten. Aber was dachten sie und fühlten sie wirklich? Die Schriftsteller wissen es nicht. Deshalb implantieren sie ihre Gegenwart in die Vergangenheit. Ein übliches Verfahren, von der Belletristik bis zur Verfilmung erfolgreich praktiziert.
Das kann es nicht sein. Ein neuer Weg ist zu beschreiten. Eine neue Herangehensweise, die die Autorin als Historiologie definiert. Ihre Historiologie synthetisiert literarische Erzählung mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen. Die Historiker verwandeln Fakten in Fiktionen, die Schriftsteller Fiktionen in Fakten, dem entzieht sich die neue Historiologie. Ihr Paradigma ist Otto von Freisings Chronik. Mittels seines Geschichtswerks werden mittelalterliche Denkweisen, insbesondere der Scholastik, Gefühle, Spielregeln mit damaligen Begebenheiten – Italien-, Kreuzzüge, Investiturstreit, Byzanz – in Wechselwirkung betrachtet, damit sich eine Einheit des Mittelalters ausbildet.
Die Historologie ist sowohl konstruktiv als auch dekonstruktiv. Konstruktiv im Sinne einer Anverwandlung, einer Assimilation, dekonstruktiv im Sinne einer Zerlegung, einer Dissoziation. Das Ergebnis der Historiologie ist die Erkenntnis der Konstellation des Mittelalters, der Päpste, der Karolinger, Ottonen, Salier, Staufer, Welfen.