Die innere Welt der Eltern -  Gertraud Diem-Wille

Die innere Welt der Eltern (eBook)

Psychoanalytische Perspektiven der Elternschaft
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
223 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-043225-3 (ISBN)
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Dieses Werk behandelt die psychoanalytische Perspektive der Elternschaft - und damit die über Generationen weitergegebenen Beziehungsmuster, die in der inneren Welt der (werdenden) Mütter und Väter wirksam sind. Eigene Erfahrungen und Konflikte wirken sich entweder förderlich oder hemmend auf die Entwicklung der neuen Identität als Mutter oder Vater sowie den Beziehungsaufbau zum Baby aus. Anhand von Alltagsfamilien und Beispielen aus der Eltern-Kleinkind-Therapie werden die Bilder der 'inneren Mutter' und des 'inneren Vaters', die in den Eltern selbst angelegt sind, beschrieben. Zudem werden im Buch das Thema Schwangerschaft und die Beziehungsdynamiken bei besonderen Familienkonstellationen (z. B. Pflege- und Adoptionsfamilien) vorgestellt.

Prof. i. R. Dr. Gertraud Diem-Wille ist Lehranalytikerin für Erwachsene, Kinder und Jugendliche der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung (WPV) und der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV). Sie ist in der Aus- und Weiterbildung von PsychotherapeutInnen und AnalytikerInnen tätig. Außerdem ist sie wissenschaftliche Co-Leiterin des Weiterbildungslehrgangs »Psychoanalytisch-orientierte Säuglings-, Kinder- und Jugendtherapie« an der Wiener Psychoanalytischen Akademie (WPA).

1 Elternschaft aus einer psychoanalytischen Perspektive


Es gibt eine Vielzahl von Elternratgebern, in denen versucht wird, Eltern Ratschläge für die Erziehung ihrer Kinder zu geben. Die Ausrichtung dieser Empfehlungen geht entweder von einer tendenziell typologisch autoritären Haltung aus, die die Durchsetzung des Willens der Eltern und den Gehorsam des Kindes zum Ziel hat, oder einer demokratischen, kooperativen Erziehung oder – als drittem Pol – einer antiautoritären Erziehung, bei der die Wünsche des Kindes erfüllt werden sollen, um seine Entfaltung und Kreativität zu fördern. Meist führt der Mangel an klaren Grenzen und Konsequenz zu einer Verunsicherung des Kindes. Dabei steht jeweils die äußere Realität im Mittelpunkt. Die Ratschläge beziehen sich auf das, was die Eltern tun sollen, um ein gewisses Verhalten des Kindes zu erreichen.

Was jedoch bedeutet eine psychoanalytische Perspektive der Elternschaft? Im Zentrum steht das Verstehen der Beziehung zwischen Eltern und Kind, und zwar in zwei getrennten, aber aufeinander bezogenen Welten – der realen äußeren Welt und der realen, inneren Welt der Fantasie, der Gefühle der Imagination von Eltern und Kind. Wir gehen von der Annahme aus, dass die innere Welt des Kindes mit den Repräsentanzen von Selbst-mit-Mutter-‍, Selbst-mit-Vater- und Selbst-mit-Elternpaar-Introjektionen der äußeren und inneren Erlebniswelten bevölkert ist, die als »innere Objekte« miteinander in Beziehung treten (Winnicott, 1978). Umgangssprachlich ausgedrückt heißt das, dass das Kind gleichsam durch die Brille seiner Gefühle, Ängste, Stimmungen die Erfahrungen mit den Eltern in sich, in seine innere Welt aufnimmt. Elternbilder, die »inneren Eltern«, sind daher nie Eins-zu-eins-Abbildungen der realen Eltern, sondern immer positiv oder negativ verzerrt. So kann ein Patient erst nach mehrjähriger Analyse einige positive Erinnerungen an seinen zunächst nur als kalt und ablehnend beschriebenen Vater entdecken. Aus den unterschiedlichen Lebensphasen lagern unterschiedliche Bilder (»Imagines«) der Eltern in der inneren Welt übereinander. Die wechselseitige Beeinflussung kann konstruktiv oder pathologisch sein und auch in einer mehrgenerativen Linie Auswirkungen auf die Persönlichkeit des Kindes haben. Auf der Seite der Eltern ist die Entwicklung einer tragfähigen Beziehung davon abhängig, ob in der Mutter und dem Vater ein innerer Raum zur Verfügung steht, in dem dieser Elternteil über sein Baby/Kind nachdenken und es auch bei physischer Abwesenheit gedanklich mit den Eltern in Verbindung bleiben kann. Dann fühlt sich das Kind in Verbindung mit der Mutter/dem Vater, angenommen und verstanden. Ist die Mutter oder der Vater von ängstigenden oder verfolgenden Gedanken okkupiert, wie das etwa in einer postpartalen Depression der Fall ist, so ist sie/er nur physisch anwesend und emotional nicht für das Kind erreichbar. »Nur deine leere Hülle war bei uns, deine Seele war weg« beschreibt der Nobelpreisträger Liaou Yiwu (2013) diese Form des sich Verlassenfühlens eines Kindes. André Green (1993) spricht von der »toten Mutter«, die gleichzeitig physisch anwesend und geistig abwesend ist. Es wird später ausführlich auf das Konzept »Container und Contained« von Wilfred Bion eingegangen, der diese Form einer denkend-fühlenden Beziehung differenziert beschreibt. Es gibt keine lineare Beeinflussung, sondern eine aufeinander bezogene Wechselwirkung: Das Kind mit seinem besonderen Temperament beeinflusst und formt die Psyche der Eltern, wir sprechen von einer Identitätsentwicklung durch die Erfahrungen als Eltern, die sich um ihr Baby kümmern und sorgen. Elternschaft bedeutet eine lebenslange, nichtlineare Entwicklung der Person, die verschiedene Transformationen abhängig vom Alter des/der Kinder erfordert. Erfordern die ersten Lebensjahre des Säuglings eine besonders enge Beziehung, ist diese dann für die Latenz oder Pubertät kontraproduktiv, da das Kind oder der Jugendliche eine größere Unabhängigkeit benötigt, um selbständig werden zu können. Auch die spätere Fähigkeit, Großvater und Großmutter für die nächste Generation zu werden, ist nur durch eine Elternschaft eröffnet. Einen Enkel zu bekommen, kann ein großes Geschenk für die Großeltern darstellen. Isca Salzberger-Wittenberg meint, dass wir durch unsere Kinder »ein Verbindungsglied zwischen der vergangenen und der zukünftigen Generation sind..., dass ein Teil von uns in einer Zukunft jenseits unseres Lebenszyklus erhalten bleibt und so unsterblich ist« (Salzberger-Wittenberg 2019, S. 105). Es geht um die Fähigkeit etwas zu schaffen, zu umsorgen, zu schützen, zu nähren, zu lieben, zu respektieren und daran Freude zu empfinden« (Novick & Novick 2009, S. 31).

Das erste Mal Vater oder Mutter zu werden, stellt immer eine gewaltige psychische und physische Herausforderung dar, bei der diese wesentlich auf Unterstützungssysteme angewiesen sind. Wenn die Eltern von der Möglichkeit Gebrauch machen, »die seelischen Folgen der Elternschaft zu bedenken und zu erforschen, ... ist die Elternschaft entwicklungsförderlich« (Bründel et al., 2016). Diese seelischen Transformationen können mit bildgebenden Verfahren als tiefgreifende Veränderungen im Gehirn gezeigt werden (Ammaniti & Gallese 2014). Erik Erikson bezeichnet die siebte Stufe der psychosozialen Identitätsentwicklung im Lebenszyklus als »Generativität gegen Stagnierung«, wobei er die Elternschaft als »wesentliches Stadium der gesunden Persönlichkeitsentwicklung« bezeichnet (Erikson 1974, S. 118). Entfällt diese Erfahrung der schöpferischen Leistung, gemeinsam Kinder zu zeugen und aufzuziehen, so besteht die Gefahr einer Regression auf eine »Pseudointimität«, und sich selbst als Kind zu verwöhnen« (ebd.). Gemeinsam ein neues Lebewesen hervorzubringen, das als Produkt der Liebe erlebt wird, bei dem biologisch und psychisch beide Elternteile verschmelzen, kann als der Inbegriff der Kreativität des ödipalen Paares gesehen werden. Jeder kann im Kind Teile von sich und seinen Vorfahren und Teile, Ähnlichkeiten des geliebten Partners und seiner Familie erkennen und lieben.

Aspekte einer elterlichen Fürsorge können auch von Pflege- und Adoptiveltern sowie Angehörigen von Berufsgruppen, die sich durch soziales Engagement auszeichnen, wie Psychotherapeuten oder Sozialarbeiter erlebt werden, wobei aber die tiefgreifende Identitätsentwicklung (ins Positive oder Negative) und der Zwang, die Interessen eines anderen Wesens als gleichwertig zu sehen, in geringerem Maß gegeben sind.

Wir gehen mit Freud von der Annahme aus, dass das Unbewusste und alle Erfahrungen im Leben Eingang in die innere Welt gefunden haben: die Art und Weise, wie wir uns selbst, den anderen und die Welt wahrnehmen, uns bestimmen. Zwischen dem Säugling/Kind und seinen Eltern werden Informationen auf zwei Ebenen ausgetauscht: auf der bewussten Ebene durch Sprache und Handlungen und auf der unbewussten Ebene durch Intonation beim Sprechen, Kommunikationsformen allgemein, Art der Wahrnehmung und Verzerrung von idealisierten oder verfolgenden Qualitäten sowie mimischen Ausdrucksformen, die wir unbewusst sehr genau registrieren.

Freud geht davon aus, dass die Bedeutung des Unbewussten 80 % unserer Handlungen und Wahrnehmungen beeinflusst. Er vergleicht das Verhältnis von Bewusstem und Unbewusstem mit dem Verhältnis des sichtbaren Teils des Eisbergs mit dem viel größeren Teil, der sich unter der Wasseroberfläche befindet.

Zur Illustration der Auswirkung unbewusster Konflikte der Mutter auf ihren Umgang mit dem Kind, gebe ich ein Beispiel aus dem Alltag, das einen Idealtypus einer ambivalenten und einer zureichend-guten mütterlichen Haltung zeigt. Zwei dreijährige Kinder spielen auf dem Kinderspielplatz in Anwesenheit ihrer Mütter.

  • Kind A steigt die Treppe zur Rutsche hinauf, setzt sich flott hin, blickt kurz herum und rutscht mit viel Freude herunter. Die Mutter hat dem Kind einen freundlichen Blick zugeworfen, genickt und ist dann wieder zu ihrer Lektüre zurückgekehrt.

  • Kind B wird von seiner Mutter zur Rutsche begleitet. Halb steigt es hinauf, halb hilft die Mutter nach, setzt das Kind hin, läuft rasch nach vorne, um das Kind unten auffangen zu können. Gemeinsam gehen sie mehrere Male zurück und wiederholen das Hinaufsteigen und Rutschen.

Ein Beobachter könnte zu dem Schluss kommen, dass die Mutter von Kind A dem Kind kaum Beachtung schenkt, selbst mit ihrem Buch beschäftigt ist und sich bei dieser »gefährlichen« Aktion nicht wirklich gut um ihr Kind kümmert. Es kommt auch manchmal vor, dass eine andere Mutter sich aufregt und alarmiert darauf aufmerksam macht, dass ihr Kind »ganz allein« auf die Stufen der Rutsche hinaufgeklettert sei.

Ein Beobachter des Kindes B könnte zu der Ansicht kommen, dass die Mutter von Kind B eine äußerst liebevolle und aufmerksame Mutter ist, die sich vorbildlich um ihr Kind kümmert und ihre eigenen egoistischen Interessen...

Erscheint lt. Verlag 26.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Psychologie Psychoanalyse / Tiefenpsychologie
ISBN-10 3-17-043225-7 / 3170432257
ISBN-13 978-3-17-043225-3 / 9783170432253
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