Autismus, Trauma und Bewältigung -  Brit Wilczek

Autismus, Trauma und Bewältigung (eBook)

Grundlagen für die psychotherapeutische Praxis

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
222 Seiten
Kohlhammer Verlag
978-3-17-041837-0 (ISBN)
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Erscheinungsbild und Aspekte des Erlebens von Autismus und Trauma weisen oft starke Ähnlichkeiten auf. Dabei sind Traumata nicht, wie früher angenommen, ursächlich für Autismus. Vielmehr birgt die autistische Grundstruktur ein erhöhtes Risiko für traumatische Erfahrungen, wie neuro- und entwicklungspsychologische Zusammenhänge und Erfahrungsberichte Betroffener deutlich machen. In der Psychiatrie und Psychotherapie sind autistische Besonderheiten der Wahrnehmung und des Erlebens bislang aber kaum bekannt, was häufig zu Fehldiagnosen und dem Scheitern therapeutischer Zusammenarbeit führt. Eine wirksame Psychotherapie traumatisierter Menschen im Autismus-Spektrum ist jedoch möglich, wenn die besonderen Herausforderungen, die spezifischen Bewältigungsstrategien sowie die oft besondere Resilienz der Klienten gewürdigt und in die Therapie einbezogen werden.

Brit Wilczek, psychologische Psychotherapeutin, arbeitet seit 1989 mit Menschen im Autismus-Spektrum. Sie bietet Psychotherapie und Beratung für erwachsene Betroffene an. In Fortbildung und Supervision gibt sie Erfahrungen an Fachkräfte weiter, in Vorträgen und Publikationen an alle, die sich für das Thema interessieren.

Vorwort


Das Thema dieses Buches beschäftigt mich schon lange in vielfältiger Weise. Es begegnete mir sowohl in meiner Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen als auch in der theoretischen Auseinandersetzung mit verschiedenen Erklärungsansätzen für Autismus.

Zunächst einmal stand für mich die wesentliche Erkenntnis im Vordergrund, dass Autismus nicht durch ein Trauma ausgelöst wird, so wie frühere Theorien es vermuteten. Mit seiner Einordnung unter die tiefgreifenden Entwicklungsstörungen war diese These vom Tisch. Dass dies eine wichtige Entwicklung war, wurde mir immer wieder in der Praxis deutlich. Bereits in meinem Berufspraktikum als Tanztherapeutin am Hamburger Autismus Institut Anfang der 1990er Jahre begegneten mir nicht nur betroffene Kinder, Jugendliche und Erwachsene, sondern auch ihre Familien. In den diagnostischen Fragebögen und auch in den Gesprächen mit Angehörigen, denen ich von Beginn an beiwohnen und an denen ich alsbald auch selbst mitwirken durfte, zeigte sich mir in fast jedem Fall das Bild von Angehörigen, die angesichts der Besonderheiten und auch der Not ihrer Kinder zutiefst verunsichert waren. Geradezu verzweifelt suchten sie vermeintliche Fehler oder Schuld bei sich selbst, nur um Erklärungen, Lösungen und Hilfsmöglichkeiten für ihre Kinder und Familien zu finden. In den Gesprächen wurde deutlich, wie sehr sie sich von Beginn an um ihr Kind bemühten, das sich als Säugling oft nicht beruhigen ließ, das aus unerfindlichen Gründen schnell verstört und überfordert war und so offensichtlich bestimmte Objekte, Reizangebote und Rituale brauchte, um sich sicher zu fühlen.

Wenn Angehörige durch die Psychoedukation erfuhren, dass wir Diagnostiker sie nicht – wie oft zuvor andere Fachkräfte – für die offensichtliche, tiefgreifende Problematik ihres Kindes verantwortlich machten, war ihnen die Erleichterung deutlich anzumerken. Sie fassten wieder Mut.

Dieser entlastende Effekt auf die Angehörigen wirkte sich nachhaltig auf das gesamte Familiensystem und auch auf die Entwicklung der Kinder aus. Mit professioneller Hilfe und viel eigener Kreativität der Familien konnten Möglichkeiten gefunden werden, um die betroffenen Kinder gezielt zu entlasten und zu unterstützen. Für die Betroffenen selbst eröffneten sich so Wege, in und mit der Welt besser zurechtzukommen und sich auch mit ihren eigenen Stärken zu entfalten.

Angesichts dieser Erfahrungen wurde es mir ein großes Anliegen, das alte Klischee und den dahinterliegenden »Kurzschluss« in der Kausalitätsbildung – »Was ähnlich aussieht wie Trauma, muss ein Trauma zur Ursache haben. Der Grund für den Autismus ist also mangelnde Liebe und Fürsorge von Seiten der Eltern oder sogar Verwahrlosung und Misshandlung« – in meiner Arbeit zu benennen und alles dafür zu tun, dass alternative, schlüssige Erklärungsansätze an seine Stelle treten.

Erkenntnisse aus der Neurobiologie sowie aus Hypnotherapie und Tanztherapie ließen sich mit meinen Beobachtungen und Erfahrungen aus der praktischen Arbeit verbinden. So entstanden einige Modelle, die Besonderheiten der Reizverarbeitung anschaulich und deren Auswirkungen auf das Erleben sowie auf die sozio-emotionale Entwicklung autistischer Menschen nachvollziehbar machen. Diese bewähren sich sowohl in der Psychoedukation im Rahmen der Diagnostik und der Psychotherapie als auch in der Beratung von Angehörigen und bei der Fortbildung und Supervision von Fachkräften verschiedener Tätigkeitsfelder.

In meiner Arbeit, insbesondere in der psychotherapeutischen Praxis, begegnen mir darüber hinaus immer wieder Menschen, die zusätzlich zu ihrer autistischen Grundstruktur und daraus resultierenden Herausforderungen auf vielfältige Weise traumatisiert sind – sei es durch jahrelanges Mobbing in der Schulzeit, sei es durch Gewalt in der Familie, Überfälle, Missbrauch oder nie verwundene Verluste. Einige berichten davon bereits während der Diagnostik oder im therapeutischen Erstgespräch. Bei anderen treten Erinnerungen an konkrete traumatische Erlebnisse erst sehr viel später zutage und können dann nach und nach kommuniziert, gemeinsam betrachtet und bearbeitet werden.

Was mich dabei immer wieder zutiefst beeindruckt, ist zum einen der immense Leidensdruck, der sich dabei zeigt, und zugleich eine Resilienz, die für mich oft kaum fassbar erscheint. Manchmal habe ich den Eindruck, dass der Autismus das Risiko für traumatische Erfahrungen deutlich erhöht, zugleich jedoch den Betroffenen Ressourcen bereitstellt und Bewältigungsstrategien ermöglicht, mit deren Hilfe sie auch massive und nachhaltige Traumatisierungen auf ihre Weise überstehen und zum Teil sogar auf bewundernswerte Weise bewältigen.

Auch begegneten mir immer wieder Betroffene, die sich mit Traumasymptomen auseinandergesetzt hatten und von sich sagten: »Wenn ich mir die Kriterien und Beschreibungen von Trauma so anschaue, bin ich eigentlich ständig durchs Leben selbst traumatisiert.«

Es waren vor allem solche Aussagen und Beobachtungen, die mich bewogen, mich eingehender mit dem Bereich der Traumafolgestörungen auseinanderzusetzen und Autismus und Trauma im Zusammenhang und in Wechselwirkungen zu betrachten. Die Ergebnisse dieser Auseinandersetzung gab ich in Seminaren an Fachkräfte weiter.

Im Sommer 2021 meldete sich Herr Poensgen, Verlagsleiter beim Kohlhammer Verlag, bei mir und fragte mich, ob ich zu diesem Seminarthema nicht auch ein Buch verfassen könnte. Da ich selbst die Dringlichkeit sah, für die komplexen Zusammenhänge zwischen Autismus und Trauma zu sensibilisieren, jedoch auch auf Resilienz und Chancen zur Bewältigung hinzuweisen, sagte ich spontan zu.

In Vorbereitung auf die Erarbeitung habe ich mich mithilfe einiger hochgeschätzter Kolleginnen und Kollegen auf den Weg gemacht, vor allem das Thema Trauma noch eingehender zu erkunden, habe Literaturtipps eingeholt, verschiedene Autoren gelesen, Seminare belegt und Gespräche mit Betroffenen sowie mit erfahrenen Traumatherapeutinnen geführt. Erst dann machte ich mich ans Schreiben.

Das Ergebnis halten Sie, liebe Leserin, lieber Leser, in Händen.

Es ist ein Versuch, zwei sehr komplexe Themen zu fassen, in anschaulicher Weise zu vermitteln und miteinander in Zusammenhang zu bringen. Fertig ist ein solches Projekt meines Erachtens nie und ich bin mir sicher, dass ich auch während der nächsten Jahre dranbleiben und das Thema weiterentwickeln werde.

Ich wünsche mir, dass das Buch in der vorliegenden Form auf unterschiedliche Weise für seine Leserinnen und Leser nutzbar sein wird: als überschaubare Einführung in beide Grundthematiken – Autismus und Trauma – ; zur Auffrischung und Vertiefung oder auch als Anregung zu neuen Perspektiven für diejenigen, die sich mit Autismus, mit Traumafolgestörungen oder auch mit beidem schon auseinandergesetzt haben; und als Nachschlagewerk, um themengebunden mal ins eine mal ins andere Kapitel hineinzulesen.

Dieses Buch richtet sich vornehmlich an Fachkräfte aus den Bereichen der Psychotherapie, der Autismus-Therapie, der Psychiatrie und Neurologie sowie auch der Pädagogik – denn ich bin davon überzeugt, dass jede Fachkraft in diesen Tätigkeitsfeldern beiden Themen einzeln und in Kombination begegnet.

Mir ist bewusst, dass auch Betroffene und Angehörige Interesse an dieser Veröffentlichung haben werden und sie sind selbstverständlich herzlich eingeladen, es vor ihrem jeweiligen eigenen Erfahrungshintergrund zu lesen. Dabei bitte ich um Verständnis, dass ich mich diesmal an einigen Stellen stärker der Fachsprache bediene als in meinem ersten Buch (Wilczek 2023). Dennoch hoffe ich, die wesentlichen Zusammenhänge verständlich und nachvollziehbar zu machen, so dass jeder etwas für sich herausziehen kann.

Danken möchte ich an dieser Stelle den Kolleginnen und Kollegen Ulrich Schmetjen, Karen Ritterhoff und Dorothee Schäfer für wertvolle Literaturtipps und fruchtbaren Austausch zum Thema Trauma. Besonderer Dank gilt darüber hinaus Dorothea Thomassen und Friederike Rampacher fürs aufmerksame Gegenlesen des Manuskripts, konstruktive Kritik und viele wertvolle Anregungen. Herrn Ruprecht Poensgen danke ich für die Idee und die Einladung, das Thema für den Kohlhammer Verlag in ein Buch zu fassen, sowie Kathrin Kastl, die das Projekt als Lektorin freundlich, einfühlsam und professionell begleitet hat.

Ganz besonders jedoch danke ich allen Klientinnen und Klienten, die ihre Erfahrungen mit mir geteilt und reflektiert, mir wertvolle Literaturtipps und Quellenhinweise gegeben – und nicht zuletzt auch während des Schreibprozesses mitgefiebert haben. Ohne Eure Präsenz und Offenheit, Euren Mut und Eure Bereitschaft wäre dieses Buch nicht möglich gewesen.

Allen Leserinnen und Lesern wünsche ich, dass sie für sich etwas aus der Lektüre mitnehmen, was ihnen neue Erkenntnisse bringt, Perspektiven eröffnet, die eine oder andere Frage beantwortet – und zu vielen neuen Fragen anregt.

Kiel im Oktober 2023Brit Wilczek

Ein paar Worte zur Gender-Regelung:
Da mir die Lesbarkeit des Textes und die Verständlichkeit der darin dargelegten Gedanken sehr wichtig sind und ich weiß, dass auch an sich gute Regelungen wie das...

Erscheint lt. Verlag 26.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
ISBN-10 3-17-041837-8 / 3170418378
ISBN-13 978-3-17-041837-0 / 9783170418370
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