Zwangsstörung -  Tanja Endrass,  Andrea S. Hartmann

Zwangsstörung (eBook)

Fachbuch-Bestseller
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
107 Seiten
Hogrefe Verlag GmbH & Co. KG
978-3-8444-3132-2 (ISBN)
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Die Zwangsstörung ist eine schwere psychische Störung. Betroffene fühlen sich gezwungen, repetitive beobachtbare Verhaltensweisen oder gedankliche Rituale auszuführen, um die durch die Zwangsgedanken ausgelöste Beunruhigung oder Angst zu reduzieren bzw. um befürchtete schlimmere Konsequenzen abzuwenden. Der Band liefert einen Überblick über das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei Zwangsstörungen. Das Buch beschreibt die verschiedenen Erscheinungsformen von Zwangsstörungen und fasst den aktuellen Wissensstand zu Klassifikation, Epidemiologie, Verlauf und Ätiologie der Störung sowie zu typischen komorbiden Störungen zusammen. Wichtige diagnostische Instrumente werden vorgestellt. Anhand von Beispielen wird aufgezeigt, wie Patientinnen und Patienten Modelle zur Entstehung und Aufrechterhaltung der Störung näher gebracht werden können. Ausführlich werden kognitiv-behaviorale Behandlungsmethoden vorgestellt, deren Wirksamkeit empirisch abgesichert ist. Das Vorgehen bei den einzelnen Methoden, wie z.B. der Exposition mit Reaktionsverhinderung, bei kognitiven sowie metakognitiven Interventionen, wird anhand von Fallbeispielen verdeutlicht, dabei wird auch auf den Umgang mit schwierigen Therapiesituationen eingegangen. Verschiedene Arbeitsblätter unterstützen die Umsetzung des beschriebenen Vorgehens im therapeutischen Alltag.

2  Ätiologie und Störungsmodelle


2.1  Genetische Faktoren und neurobiologische Modelle


Die Zwangsstörung tritt familiär gehäuft auf: Erstgradige Verwandte von Personen mit einer Zwangsstörung haben im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung ein erhöhtes Risiko, ebenfalls von der Störung betroffen zu sein. Die Prävalenz für die Zwangsstörung liegt bei erstgradigen Verwandten bei 10 bis 12 % und ist damit etwa 4- bis 5-fach erhöht (Pauls et al., 2014). Angehörige von Personen mit einem Beginn der Zwangsstörung in der Kindheit sind noch häufiger betroffen und weisen eine Lebenszeitprävalenz von ca. 23 % auf (do Rosario-Campos et al., 2005). In Zwillingsstudien findet sich eine konsistent erhöhte Konkordanz bezüglich der Symptome und Diagnosen einer Zwangsstörung in monozygoten vs. dizygoten Zwillingspaaren. Eine Metaanalyse über 37 Zwillingsstichproben in 14 Studien kommt zum Ergebnis, dass additiv genetische Effekte etwa 40 % der Varianz und die nicht geteilte Umwelt etwa 51 % der Varianz bei den Zwangssymptomen ausmachen.

|10|Studien zu Kandidatengenen und genomweite Assoziationsstudien haben bisher keine zuverlässig replizierbaren Ergebnisse gebracht, vermutlich weil alle bisherigen Studien auf zu kleinen Stichproben basierten und die Zwangsstörung eine polygene Störung ist, die auf einer komplexen Interaktion verschiedener Genorte und deren Interaktion mit der Umwelt zurückzuführen ist. Einen Überblick zum aktuellen Stand der Forschung geben Mahjani et al. (2021). Interessant ist jedoch, dass einige Befunde auf Veränderungen im Bereich der glutamatergen Neurotransmission hinweisen. Diese Befunde haben erste pharmakologische Pilotstudien angeregt, in denen Substanzen zur Behandlung der Zwangsstörung geprüft werden, die die glutamaterge Neurotransmission abschwächen.

Neben genetischen Faktoren existieren auch Befunde zu den Einflüssen von Umweltfaktoren auf das Risiko einer Zwangsstörung. Es gibt Hinweise auf den Einfluss von perinatalen Ereignissen wie Geburtskomplikationen, niedriges Geburtsgewicht oder Erkrankungen während der Schwangerschaft sowie kritischen Lebensereignissen oder traumatischen Ereignissen (Brander et al., 2016). Die Mehrheit der Befunde zu Risikofaktoren sind jedoch retrospektiv erhoben und machen daher kausale Schlussfolgerungen schwierig. Zusammen mit klinischen Beobachtungen scheint jedoch Stress eine wichtige Rolle bei der Pathogenese und dem Verlauf der Zwangsstörung zu spielen (Raposo-Lima & Morgado, 2020).

Ein möglicher Auslöser für das Auftreten einer Zwangsstörung (und Tic-Störungen) scheint eine überschießende Autoimmunreaktion zu sein, die infolge einer Infektion oder langandauernden Entzündungen auftreten kann. Die Autoimmunreaktion löst eine Entzündung der Basalganglien und anderer Regionen des frontostriatalen Netzwerks aus und führt zu einem spontanen Beginn der Zwangsstörung. Ursprünglich wurde das Syndrom als „pädiatrische autoimmune neuropsychiatrische Störung im Zusammenhang mit Streptokokkeninfektionen“ (PANAS) bezeichnet (Swedo et al., 1998), aber inzwischen sind auch andere Infektionen als Auslöser bekannt und es wurde in „pädiatrisches autoimmunes neuropsychiatrisches Syndrom“ (PANS) umbenannt. Insbesondere bei einem spontanen Störungsbeginn, dem evtl. sogar eine bekannte Infektion vorausgeht, oder bei behandlungsresistenten Zwangsstörungen ist eine Untersuchung der Entzündungs- und Immunmarker indiziert (Gerentes et al., 2019).

Abgleitet aus den pharmakologischen Behandlungserfolgen mit Clomipramin, einem starken Inhibitor des Serotonintransporters, und selektiven Serotoninwiederaufnahmehemmern (SSRI) wurde die Rolle von Serotonin im Zusammenhang mit der Zwangsstörung untersucht. Es wurden Studien durchgeführt, die pharmakologische Stimulationen oder Depletionen des serotonergen Systems vorgenommen haben. Jedoch haben sich bisher keine zuverlässigen Effekte auf die Symptome der Zwangsstörung nachweisen lassen |11|(Bandelow et al., 2017). Die pharmakologische Wirkung der SSRI auf die Symptome der Zwangsstörung tritt im Vergleich zur Behandlung der Depression und Angststörungen mit deutlich verzögerter Latenz ein (ca. 8 bis 12 Wochen). Daher besteht die Möglichkeit, dass erst später auftretende neuroadaptive Effekte die symptomlindernde Wirkung modulieren (Goodman et al., 2021).

Im Rahmen neurobiologischer Modelle der Zwangsstörung wird eine Veränderung der Signalübertragung in kortiko-striato-thalamo-kortikalen Schaltkreisen vermutet, die zu einer frontostriatalen Hyperaktivität führt (Pauls et al., 2014). Die Übererregung ergibt sich aus einem Ungleichgewicht der direkten und indirekten Pfade durch die Basalganglien zum Thalamus. Es besteht die Vermutung einer verminderten hemmenden Aktivierung des direkten Pfades gegenüber der Aktivierung des indirekten Pfades. Hieraus resultiert eine verminderte Hemmung des Thalamus und damit eine Überaktivierung frontaler und striataler Areale, insbesondere des orbitofrontalen Cortex (OFC) und des anterioren cingulären Cortex (ACC). In Studien zur Symptomprovokation und im Ruhezustand findet sich bei der Zwangsstörung eine fontrostriatale Hyperaktivität, die sich durch psychotherapeutische und pharmakologische Behandlung reduzieren lässt (Pauls et al., 2014). Neben Aktivierungsänderungen finden sich Volumenreduktionen des OFC und ACC und Volumenzunahmen im Striatum und Thalamus (Piras et al., 2015). Überaktivierungen des ACC bei der Zwangsstörung werden auch im Zusammenhang mit der Handlungsüberwachung bzw. Fehlererkennung beobachtet (Endrass & Ullsperger, 2014). Bereits in frühen Modellen zur Zwangsstörung wurde vorgeschlagen, dass ein Problem mit der Evaluation von Handlungsergebnissen vorliegen könnte, und dass persistierende Fehlersignale zu repetitiven Zwangshandlungen führen könnten (Pitman, 1987). Konsistent dazu werden bei Personen mit einer Zwangsstörung sowie deren Angehörigen erhöhte Fehlersignale im ereigniskorrelierten Potenzial gefunden, die allerdings nicht mit Symptomschwere zusammenhängen oder durch psychotherapeutische Behandlung beeinflussbar sind (Endrass & Ullsperger, 2014). Zusammen deuten die Befunde zur frontostriatalen Überaktivierung und zur Handlungsüberwachung darauf hin, dass es Veränderungen in Lern- und Entscheidungsprozessen bei Menschen mit einer Zwangsstörung gibt, an denen verschiedene Neurotransmittersysteme (Serotonin, Glutamat, Dopamin, GABA) beteiligt sind.

2.2  Behaviorale und kognitive Modelle


Es wurden verschiedene kognitiv-behaviorale Modelle für die Entstehung und Aufrechterhaltung der Zwangsstörung entwickelt. Als ein zentraler Mechanismus für die Aufrechterhaltung der Zwangsstörung wird das Lernprinzip der negativen Verstärkung bei der Ausführung von Zwangshandlungen |12|vermutet. Dollard und Miller (1950) haben Mowrers Zwei-Prozess-Theorie für Angststörungen auf die Zwangsstörung angepasst und fassen damit die Zwangsstörung als Folge von klassischen und operanten Konditionierungsprozessen auf. Ähnlich wie beim Angstmodell wird ein ursprünglich neutraler Reiz (CS) mehrfach mit Ereignissen kombiniert, die auf natürliche Weise Angst oder Unbehagen auslösen. Als CS wurden für die Zwangsstörung Umgebungsreize (z. B. Türklinke, Toilette) und mentale Ereignisse (z. B. bestimmte Gedanken „Gott ist tot“) angenommen. Nach der Konditionierung werden Verhaltensweisen eingesetzt, um Angst oder Unbehagen zu reduzieren bzw. ganz zu vermeiden. Diese Verhaltensweisen entsprechen bei der Zwangsstörung den Zwangshandlungen und mentalen Handlungen, die dazu führen, dass Angst oder Unruhe ausbleiben oder nachlassen, aber gleichzeitig die Ausführung der Handlungen selbst verstärkt wird (negative Verstärkung). Ähnlich wie bei den Angststörungen lassen sich auch bei der Zwangsstörung kaum Belege dafür finden, dass assoziative Lernprozesse bzw. Konditionierung für die Entstehung der Störung eine wesentliche Rolle spielen. Der Großteil der Betroffenen kann keine spezifische Situation für den Beginn der Störung berichten, aber im Verlauf der Störungsentwicklung könnten operante Lernprozesse dahingehend eine Rolle spielen, dass die Ausführung anfänglicher Rituale als beruhigend erlebt wird und sie dadurch vermehrt ausgeführt werden. Das Prinzip der negativen Verstärkung der Zwangshandlung ist zentraler Bestandteil aller kognitiv-behavioralen Modelle und Grundlage verhaltenstherapeutischer...

Erscheint lt. Verlag 27.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
ISBN-10 3-8444-3132-2 / 3844431322
ISBN-13 978-3-8444-3132-2 / 9783844431322
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