Das neue China -  Helwig Schmidt-Glintzer

Das neue China (eBook)

Vom Untergang des Kaiserreichs bis zur Gegenwart
eBook Download: EPUB
2024 | 9. Auflage
130 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-82270-4 (ISBN)
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Die lange Geschichte des chinesischen Kaiserreichs mündete im 19. Jahrhundert in eine Epoche der Kriege, Revolutionen, erzwungenen Modernisierungen und zuletzt in einen beispiellosen wirtschaftlichen und technologischen Aufschwung. Helwig Schmidt-Glintzer beschreibt die tiefgreifenden Umbrüche, die China in den letzten 200 Jahren erlebt hat, und erklärt zugleich, welche Kontinuitäten die chinesische Geschichte bis heute prägen.

Helwig Schmidt-Glintzer ist Sinologe und Publizist. Er war bis 2023 Seniorprofessor an der Eberhard Carls Universität und Direktor des China Centrum Tübingen.<br>

Einleitung


«Was wir der Welt beweisen müssen, ist nicht, dass das alte China nicht tot ist, sondern dass ein neues China im Entstehen ist.»

Li Dazhao (1888–​1927)

Nach den ersten zwei Dekaden des 21. Jahrhunderts wird eine Geschichte Chinas der letzten zweihundert Jahre vieles, was über Jahrzehnte die Aufmerksamkeit gefesselt hat, in ein neues Licht rücken müssen. Gleichwohl gibt es Konstanten. Dazu gehört die aus dem Kaiserreich herkommende Vorstellung von einem Einheitsreich. Nicht alle Reformer der frühen Republik verfolgten dieses Ziel, doch ein chinesischer Selbstbehauptungswille in Verbindung mit einer insbesondere von den USA und Russland beförderten Bestrebung, China in seinen alten Grenzen zu erhalten, zeichneten den Weg zur Neuetablierung eines chinesischen Einheitsreiches vor. Ein schwieriger Übergang scheint abgeschlossen, der für China ein doppelter Übergang war: die Überwindung der alten Reichsverfassung und die Behauptung gegenüber den Kolonialmächten und den Territorialinteressen Japans und Russlands. Doch die Unsicherheit in einigen Randzonen ist geblieben.

Wirtschaftlich ist China heute mit seinen wachsenden Märkten in Südostasien und weit darüber hinaus wieder – wie während der längsten Zeit des chinesischen Kaiserreiches – das Gravitationszentrum in der Region. Angesichts der großen Ausfuhrüberschüsse verlagern sich die internationalen Finanzmärkte zunehmend dorthin. Zugleich hat sich China seit der Öffnungspolitik dermaßen stark international eingebunden, dass es sowohl hinsichtlich seiner Rohstoff- und insbesondere Energieversorgung, aber auch bezogen auf Technologieabhängigkeit und Außenhandel zu einem Motor der Weltkonjunktur geworden ist; daraus resultiert ein hohes Maß an Abhängigkeit. Zugleich entfaltet der Zwang, für China einen Platz in der Welt zu finden, ungeahnte Dynamiken. Seit die Erinnerungen an den Zusammenbruch der Mandschu-Dynastie im Jahre 1912, an die erlittenen Demütigungen bei der Besetzung durch die Japaner und an den Bürgerkrieg langsam verblassen, werden nunmehr die zum Teil traumatischen Erfahrungen der Zeit der Kulturrevolution in einem neuen Licht gesehen.

Im Rahmen der Wirtschaftsentwicklung in Ost- und Südostasien, an der auch Auslandschinesen maßgeblichen Anteil haben, kommt China die wichtigste Rolle zu, die es politisch sowie militärisch anzunehmen und auszufüllen längst begonnen hat. Nachdem die USA unter ihrem Präsidenten Barack Obama erklärt hatten, ein neues Augenmerk auf den Pazifik zu werfen («Pivot to Asia»), hat Donald Trump mit seiner «America First»-Strategie eine neue Verunsicherung in die Welt gebracht. Dadurch ist China in einer neuen Weise Teil der Weltgesellschaft geworden. Die Geschichte Chinas muss deshalb heute, nach dem Ende des Kolonialzeitalters, neu geschrieben werden, genauso wie die Geschichte Europas und die der beiden Amerikas angesichts der globalen Entwicklungen und der Neujustierung von Bündnissystemen aus zumindest bisher ungewohnten Perspektiven zu sehen ist.

Zugleich bleibt die Geschichte Chinas der letzten zweihundert Jahre von Konstanten geprägt. Zunächst ist sie ein Teil der Geschichte Ostasiens. Aus der reflexiven Betrachtung eines Europäers bleibt China ein Teil des seit Menschengedenken bestehenden eurasischen Kulturaustauschs. Nur vor diesem Hintergrund sehen wir die großen Linien, die immer wieder aufflammenden Debatten um die Wahrung der Identität Chinas angesichts der vor allem mit dem Westen assoziierten Modernisierungsbestrebungen. Nach innen ging es China neben dem kulturellen Selbstverständnis immer auch um die Wahrung bzw. Wiederherstellung der Einheit Chinas in den Grenzen des letzten Kaiserreiches – einschließlich strittiger Randzonen und Grenzgebiete. Eine besondere Rolle kommt auch nach allen kulturellen Umbrüchen den Trägern der politischen Meinungen zu, im 20. Jahrhundert den Parteieliten und den Angehörigen der Bildungselite, nicht zuletzt aber auch den militärischen Eliten. Dass Chinas politische Einheit von Vertretern von Minderheitenvölkern vor allem in den westlichen Regionen infrage gestellt wird, erinnert an die Möglichkeit, dass sich einige Teile Chinas nicht leicht – oder in Zukunft vielleicht überhaupt nicht – integrieren lassen werden.

Auf der Suche nach der Moderne befand sich China nicht erst seit dem ersten Opiumkrieg (1839–​1842) und seit den folgenden Konflikten mit dem Westen, sondern es kann auf eine lange Tradition von Innovation und technisch-wissenschaftlicher Kenntnis zurückblicken sowie vor allem auf eine Reformtradition, die sich bis in die Zeit des Konfuzius zurückverfolgen lässt. Freilich sind diese Traditionen immer wieder neu bewertet worden, sodass jede Rekonstruktion der Geschichte Chinas – wie auch die vorliegende – aus ihrer jeweiligen Gegenwart zu verstehen ist. Aufgrund bestimmter sozial- und wirtschaftsgeschichtlicher Indikatoren haben manche China seit dem 11. Jahrhundert als bereits «modern» bezeichnen wollen. Auch wenn solche Periodisierungsbemühungen sehr zeitverhaftet sind, so hat sich doch herausgestellt, dass es in China seit dem 16. Jahrhundert einen Reform- und Erneuerungsschub gegeben hat. Von «Sprossen des Kapitalismus» ist daher die Rede und für das 19. Jahrhundert dann auch von Chinas «früher Industrialisierung». Vor allem auf politisch-intellektuellem Gebiet sind die zahlreichen intensiven Reformbestrebungen und -debatten der vergangenen Jahrhunderte bisher noch kaum aufgearbeitet und erforscht. Dabei wirken diese Ideen und Vorstellungen, die von einzelnen Personen und kleinen Gruppen vorgetragen wurden und nicht nur in ihrer jeweiligen Zeit die Gemüter bewegten, bis in die Gegenwart.

Wieweit die intellektuellen Strömungen mit sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen in Zusammenhang gebracht werden können, ist eine offene Frage. Auffällig ist jedoch, dass bei einer rapiden Zunahme des Bevölkerungswachstums – von etwa zwischen 100 und 150 Millionen im Jahr 1650 auf 200 bis 250 Millionen im Jahr 1750, 410 Millionen im Jahr 1850 und 520 Millionen im Jahr 1950 – einerseits und bei der Konsolidierung der äußeren Reichsgrenzen des Mandschu-Reiches andererseits die Zahl der Aufstandsbewegungen und Bauernrebellionen derart zunahm, dass China bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts sozialpolitisch äußerst fragil war. Daher ist es heute kaum mehr möglich, die äußeren und die inneren Gründe für den Zerfall und den endgültigen Zusammenbruch des Kaiserreiches voneinander abzugrenzen.

Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts – man kann den Besuch der britischen Gesandtschaft unter Leitung von Earl George Macartney am chinesischen Kaiserhof im Jahre 1793 als Schlüsseldatum nehmen – war China erneut und vollends in die Dynamik der Weltgesellschaft einbezogen. Zugleich hatte sich die innere Entwicklung derart beschleunigt, dass das Mandschu-Reich im 19. Jahrhundert vor internen und externen Herausforderungen stand, denen es am Ende nicht mehr gewachsen war. Es zeigte sich aber auch hier die Besonderheit, dass trotz großer interner Spannungen und trotz erheblicher Bedrohungen und großer Verlockungen von außen die Eliten Chinas an einem gesamtchinesischen Konzept festhielten und sich nicht aufspalten ließen. Diese Einheit der Eliten hat China gerettet; andererseits aber war der Preis für diese Einheit der Verzicht auf das, was in Europa als Individualismus und Bürgerstaat bis heute dessen politisches Selbstverständnis prägt. So konnte die Ausgangslage für das China des 20. Jahrhunderts das Großreich der Mandschuren mit seiner geographischen und ethnischen Vielfalt werden. Diese Vielfalt kennzeichnet jedoch bis heute die inneren Spannungen Chinas, und sie wird zur Schicksalsfrage der gesamten Region im 21. Jahrhundert. Heute leben in China 1,4 Milliarden Menschen, und auch wenn es keine Hungerkatastrophen gibt und mancherorts sogar ein kleiner Wohlstand aufblüht, so sind die zu lösenden Aufgaben zum Teil von – für Europäer – unvorstellbarer Größe.

Kann man das heutige China nur aus der Geschichte verstehen? Dem Selbstverständnis der Akteure nach ist die Geschichte Teil der Identität Chinas; zugleich hat es immer wieder die These gegeben, das Land müsse sich von Grund auf erneuern. Sun Yatsen fasste dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts in die Bemerkung, China sei ein «unbeschriebenes Blatt» – und viele folgten ihm in dieser Überzeugung. Bei...

Erscheint lt. Verlag 19.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-406-82270-3 / 3406822703
ISBN-13 978-3-406-82270-4 / 9783406822704
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