Warum ich an Gott glaube -  Gerhard Lohfink

Warum ich an Gott glaube (eBook)

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2024 | 1. Auflage
208 Seiten
Verlag Herder GmbH
978-3-451-84105-7 (ISBN)
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Dieses Buch erzählt eine Lebensgeschichte. Der Neutestamentler Gerhard Lohfink berichtet von seiner Kindheit in der Nazi-Zeit und im 2. Weltkrieg, von seinem Theologiestudium in Frankfurt am Main und München, von seinen Erfahrungen als Priester und Seelsorger, von seinem Weiterstudium in Würzburg, seiner Zeit als Professor in Tübingen und den Jahren danach bis heute. Doch verwoben mit dieser Geschichte seines Lebens behandelt er in der ihm eigenen spannenden und anschaulichen Art und Weise Fragen, die in jedem christlichen Leben eine entscheidende Rolle spielen: die Frage nach der Wahrheit in der Bibel, nach der Rolle der Vernunft im christlichen Glauben, nach dem Umgang mit Gott, wenn es zu den wirklichen Lebensentscheidungen kommt. Im letzten Teil seines Buches stellt er sich der immer drängender und herausfordernden Frage, wie der christliche Glaube in einer Welt bestehen kann, die voll Hass, Krieg und Vernichtung ist. Kann man in einer solchen Welt noch an Gott glauben?

Gerhard Lohfink (1934-2024), bis 1986 Professor für Neues Testament an der Universität Tübingen. Veröffentlichte zahlreiche Bücher, die meisten davon bei Herder (zuletzt: Warum ich an Gott glaube, 2024); viele Übersetzungen in andere Sprachen.

1. Elternhaus


Warum also glaube ich an Gott? Die erste Antwort lautet ganz schlicht: Weil meine Eltern an Gott geglaubt haben. Das heißt: Ich bin, ohne dass ich dazu irgendetwas hätte tun können, in einer christlichen Familie aufgewachsen, in der es einfach selbstverständlich war, dass ich eine Woche nach meiner Geburt getauft und dann christlich erzogen wurde.

Wäre ich in Jordanien geboren, wäre ich wohl ein Moslem geworden. Wäre ich in Thailand oder Kambodscha geboren, wäre ich heute mit ziemlicher Sicherheit Buddhist. Wäre ich in Japan geboren, würde ich wahrscheinlich ab und zu einen Shin-to-Schrein besuchen und mich dort mit meinen Ahnen und meinem japanischen Vaterland geistig verbinden.7 Ich hatte nun aber katholische Eltern, und deshalb bin ich katholischer Christ geworden. Ein Statistiker würde es einen demografischen Zufall nennen. Ich nenne es Gnade.

Reine Gnade war auch, dass meine Mutter und mein Vater nicht nur getaufte Christen waren, sondern dass sie ihren Glauben gelebt haben. Das Morgengebet, das Abendgebet, das Gebet vor und nach dem Essen, der Gottesdienstbesuch am Sonntag, gelegentliche Hausandachten, die Feier der Festtage und der liturgischen Zeiten, die festliche Begehung der Erstkommunion: all das war in unserer Familie – zumindest aus der Sicht der Kinder – eine Selbstverständlichkeit.

Unvergesslich leben die Weihnachtsabende in meiner Erinnerung. Vor 1944, als wir noch nicht ausgebombt waren und noch eine geräumige Mietwohnung hatten, blieb die Tür zu dem so-genannten ›Guten Zimmer‹, wo nur an Festtagen gegessen wurde, verschlossen. In diesem Zimmer hatte die Mutter für den Heiligen Abend alles vorbereitet und tat nun die letzten Handgriffe. Wir Kinder saßen mit dem Vater im Wohnzimmer und warteten. Irgendwann öffnete sich dann die Tür – und der geschmückte Weihnachtsbaum zog alle Blicke auf sich. Aber nicht nur die Augen wurden gesättigt. Die Luft war erfüllt von Tannen- und Kerzenduft.

Natürlich suchten unsere Augen dann auch die Geschenke. Aber die steckten unter einer weißen Tischdecke. Nur geheimnisvolle Konturen zeigten sich unseren verstohlenen Blicken. Bevor diese Decke entfernt wurde, las mein Bruder noch einmal das Weihnachtsevangelium vor, ich selbst hatte die Aufgabe, vor der Krippe ein Gedicht zum Jesuskind zu sprechen, und selbstverständlich wurden dazwischen die alten Weihnachtslieder gesungen.

Weihnachten war die bedeutendste Familienfeier des ganzen Jahres – doch zugleich hatte diese Feier ihr festes Fundament in der kirchlichen Weihnachtsliturgie: Vor der häuslichen Zusammenkunft war die ganze Familie in der Christmette gewesen.

Das Kirchenjahr mit seinen Festen und Festzeiten, seinen Bräuchen und seiner Vergegenwärtigung der biblischen Erzählungen war mir wie selbstverständlich vorgegeben. Ich bin in das Christliche bzw. in das Katholische hineingewachsen wie in die Hosen und Jacken, die mir meine Mutter genäht hat. »Hineinwachsen« – das möchte ich erklären: Meine Eltern waren einfache Leute. Sie kämpften darum, wie sie finanziell zurechtkamen. Für Obst, Gemüse, Salat und Küchenkräuter wurde kein Geld ausgegeben – das lieferte der eigene Garten. Mein Vater hat im Keller sogar unsere Schuhe besohlt und uns im Wohnzimmer regelmäßig die Haare geschnitten. Und die Mutter hat fast alle Kleider der vier Kinder selbst genäht. Sie wurden immer ein wenig größer geschneidert, damit man »hineinwachsen« konnte.

Später habe ich gelernt, dass dies auch für die Taufe gilt. In ihr wird dem Täufling schon alles geschenkt: die Liebe Gottes des Vaters – das verborgene Leben in Christus – die bergende Gemeinschaft mit der Kirche. Symbol dafür ist das weiße Taufkleid, welches über das kleine Kind gebreitet wird. Es muss in all das noch lebenslang hineinwachsen, auch in das Wagnis des Glaubens.

Um diese großen Wörter ein wenig auf die Erde zu bringen: Der Glaube meiner Eltern war kein naiver, kein lediglich übernommener, kein Gewohnheits-Glaube, der sich einfach nur einem katholischen Milieu verdankt hätte. Meine Mutter hatte zwei Brüder, die in der liberalen Luft der Großstadt Frankfurt am Main ihren Glauben mehr oder weniger verloren hatten. Sie war ihrem Gerede und ihren Spötteleien ausgesetzt. Sie musste sich für ihren Glauben und für die gläubige Form ihres Lebens selbst entscheiden.

Genauso mein Vater. Er kam zwar aus einem katholischen Dorf in der Rhön. Aber es verschlug ihn eben nach Frankfurt, und sein Arbeitsplatz war, bevor er Lokführer wurde, ein großes Ausbesserungswerk der Reichsbahn. Das Milieu dort war rot, und einer, von dem man wusste, dass er noch in die Kirche ging, wurde verhöhnt. Als mein Vater eines Morgens an seinen Arbeitsplatz kam, hatte man ihm dort ein Altärchen mit brennenden Kerzen aufgebaut.

Auch das kirchliche Milieu in Frankfurt war nicht das volkskirchlich Übliche. Wir gehörten regulär zur Pfarrei St. Gallus. Und das Pfarrgebiet erstreckte sich zum größeren Teil in einem ausgesprochenen Industrieviertel. Dort brummten Tag und Nacht die Werkzeugmaschinen der sich weit ausdehnenden Adler-Werke. »Kamerun« nannte man in Frankfurt dieses schnell wachsende Industriegebiet im Westen der Stadt, weil dort die Häuser schwarz waren vom Rauch der Lokomotiven und von den unzähligen Schornsteinen der Fabriken. Es war eine Arbeiterpfarrei mit einem Pfarrer, der ein wirklicher Seelsorger war. Er hieß Albert Perabo. Nach den Zerstörungen des Krieges fanden wir dann dort, mitten im Gallusviertel, nahe der alten, ebenfalls zerbombten Pfarrkirche, eine winzige Wohnung.

Vorher allerdings hatten wir in der von dem berühmten Architekten Ernst Georg Mai (1886–1970) nach den Prinzipien der ›Gartenstadtbewegung‹ gebauten ›Kuhwaldsiedlung‹ gewohnt. Weil zwischen dieser Eisenbahner-Siedlung und der Pfarrei, zu der wir gehörten, ein Güterbahnhof mit einem kilometer-breiten Gleisnetz lag, gingen wir meistens nach St. Elisabeth im Stadtteil Bockenheim zur Kirche. Die Elisabethenkirche war bequemer zu erreichen. Und auch dort gab es auffallend gute Seelsorger. Für eine der damals noch üblichen ›Volksmissionen‹ holte sich der Pfarrer nicht die Kapuziner, die neben vielem anderen auch deftig über Himmel und Hölle predigten, sondern Benediktiner, die eine Woche lang in die Liturgie der Eucharistiefeier einführten – damals während der Anfänge der ›Liturgischen Bewegung‹ etwas ganz Neues.

Dies war der katholische Biotop, in dem ich aufwuchs: Ein bewusst gläubiges Milieu, das sich in einer schon längst liberalen und in vielem gottvergessenden Großstadt zu behaupten hatte; ein christliches Milieu, das den Schikanen der Nazis ausgesetzt war (ich werde darauf noch zurückkommen); ein katholischer Lebensraum, der durchaus ökumenisch dachte. Das alles: reine Gnade!

Mir ist erst viel später klar geworden, wie wenig selbstverständlich meine christliche Sozialisation damals war. Für viele meiner späteren Mitbrüder, die im Westerwald oder etwa in unterfränkischen Dörfern aufgewachsen waren, war das alles ganz anders. Wir mussten uns zu unserem Glauben bekennen. Wenn wir am Sonntag durch die vielen Straßen zum Gottesdienst gingen, trugen wir unsere Gesangbücher stolz in der Hand. Jeder, der uns begegnete, durfte sehen: Wir gehen am Sonntagmorgen nicht irgendwohin, sondern zur Kirche. Heute ist ein schlichtes Bekenntnis dieser Art nicht mehr üblich: Die Gesangbücher befinden sich nicht mehr zuhause, sondern in einer großen Kiste, die hinter der letzten Kirchenbank steht. Man will es den Gläubigen leicht machen. Warum noch ein Gesangbuch mit in die Kirche bringen?

Eines muss ich an dieser Stelle noch erwähnen: Ich war schon als Siebenjähriger, genau wie meine beiden älteren Geschwister, eine Leseratte. Ich las alles, was mir in die Finger kam. Spannende Bücher habe ich oft mehrere Male gelesen. Manchmal fing ich, sobald ich bei einem Buch hinten angekommen war, sofort vorne wieder von neuem an.

Meine Mutter wusste das natürlich. Sie sorgte, obwohl so etwas in der Nazi-Zeit gar nicht leicht war, ständig für Bücher, die nach Möglichkeit in einer christlichen Umgebung spielten und deren Hauptfiguren oft junge Menschen waren, die bewusst ihren Glauben lebten. Ich verdankte diesen Büchern in dieser Phase meines Lebens viel. Und ich bin meiner Mutter noch heute für ihre Umsicht dankbar. Sie hat mir viele Jahre später einmal gestanden, dass sie das meiste von dem, was ich las, auch selbst las, damit sie wusste, was mich jeweils bewegte. Wie sie das bei ihrer Schneiderei und der Aufzucht von vier Kindern geschafft hat, habe ich bis heute nicht begriffen. Mit Sicherheit mussten dafür Nachtstunden herhalten.

Noch etwas anderes muss an dieser Stelle gesagt werden: Ich bin nicht in einer »heiligen Familie« aufgewachsen, in der nur leiser Engelsgesang zu hören war. In unserer Familie konnte es, genau wie anderswo, zwischen den Geschwistern Reibereien und Streit geben. Die Eltern allerdings stritten sich in unserer Anwesenheit nicht. Später wurde mir aber klar, dass es auch zwischen ihnen ein manchmal bis in die Tiefe gehendes ›Einander-nicht-Verstehen‹ gab....

Erscheint lt. Verlag 10.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
ISBN-10 3-451-84105-3 / 3451841053
ISBN-13 978-3-451-84105-7 / 9783451841057
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