Seneca - Epistulae morales ad Lucilium - Liber XIX Epistulae CX-CXVII -  Michael Weischede

Seneca - Epistulae morales ad Lucilium - Liber XIX Epistulae CX-CXVII (eBook)

Latein/Deutsch
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2024 | 1. Auflage
120 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-6340-2 (ISBN)
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In den 60er-Jahren des ersten Jahrhunderts n.Chr. hat der römische Politiker und Philosoph Lucius Annaeus Seneca (Seneca der Jüngere) eine Sammlung von 124 Briefen verfasst, in denen er seinem Freund Lucilius Einblicke in seine persönliche Ausdeutung der stoischen Philosophie gewährt. Dabei geht die heute geläufige Einteilung der Briefe in 20 Bücher bereits auf die Antike zurück. Der vorliegende Band beinhaltet die Briefe 110-117 aus Buch 19 in deutscher Übersetzung sowie den lateinischen Originaltext.

Der Autor Michael Weischede hat Geschichte an der Ruhruniversität in Bochum studiert und arbeitet zurzeit als freier Schriftsteller in Dortmund.

Buch 19 – Brief 113


Seneca grüßt seinen Lucilius,

(1) Du wünschst, dass ich dir schreibe, was ich über diese zur Zeit der Unsrigen wiederholt aufgeworfene Frage denke, ob die Gerechtigkeit, die Tapferkeit, die Klugheit und die übrigen Tugenden Lebewesen sind. Mit solchem Scharfsinn, wertester Lucilius, haben wir es zuwege gebracht, dass wir inmitten dieser unnützen Dinge unseren Geist zu üben und unsere Freizeit mit Erörterungen zu vertreiben glaubten. Ich werde tun, was du wünschst, und darlegen, was die Ansicht der Unsrigen ist; aber ich gestehe, dass ich [dazu] eine andere Meinung habe. Ich denke, dass es manches gibt, das [nur] denen mit weißen Schuhen und griechischem Mantel gut ansteht. Was es also ist, das die Vorväter geistig bewegt hat, beziehungsweise was es ist, das die Vorväter angeregt haben, werde ich [dir] sagen.

(2) Fest steht, dass die Seele ein Lebewesen ist, weil gerade sie bewirkt, dass wir Lebewesen sind, weil die Lebewesen ihren Namen von ihr herleiten; die Tugend jedoch ist nichts anderes als eine Seele, die sich auf eine gewisse Art und Weise verhält; also ist sie ein Lebewesen. Sodann setzt die Tugend etwas in Bewegung; ohne ein drängendes Verlangen kann jedoch nichts in Bewegung gesetzt werden; wenn sie ein drängendes Verlangen in sich trägt, die nur ein Lebewesen besitzt, ist sie ein Lebewesen.

(3) 'Si animal est', inquit, 'virtus, habet ipsa virtutem.' Quidni habeat se ipsam? Quomodo sapiens omnia per virtutem gerit, sic virtus per se. 'Ergo', inquit, 'et omnes artes animalia sunt et omnia quae cogitamus quaeque mente conplectimur. Sequitur ut multa millia animalium habitent in his angustiis pectoris, et singuli multa simus animalia aut multa habeamus animalia.' Quaeris quid adversus istud respondeatur? Unaquaeque ex istis res animal erit: multa animalia non erunt. Quare? Dicam, si mihi accommodaveris subtilitatem et intentionem tuam.

(4) Singula animalia singulas habere debent substantias; ista omnia unum animum habent; itaque singula esse possunt, multa esse non possunt. Ego et animal sum et homo, non tamen duos esse nos dices. Quare? quia separati debent esse. Ita dico: alter ab altero debet esse diductus ut duo sint. Quidquid in uno multiplex est sub unam naturam cadit; itaque unum est.

(5) Et animus meus animal est et ego animal sum, duo tamen non sumus. Quare? Quia animus mei pars est. Tunc aliquid per se numerabitur cum per se stabit; ubi vero alterius membrum erit, non poterit videri aliud. Quare? Dicam: quia quod aliud est suum oportet esse et proprium et totum et intra se absolutum.

(3) „Wenn die Tugend ein Lebewesen ist‟, wird man sagen, „besitzt sie selbst Tugend.‟ Warum sollte sie sich nicht selbst innehaben? Wie der Weise alles mit Hilfe der Tugend vollbringt, so die Tugend durch sich selbst. „Also‟, fährt man fort, „sind auch alle Kunstfertigkeiten Lebewesen, und alles, was wir denken und was wir mit unserem Geist erfassen. Daraus folgt, dass viele tausend Lebewesen in dieser Enge des Verstandes sich aufhalten und jeder Einzelne aus vielen Lebewesen besteht oder wir viele Lebewesen in uns haben.‟ Du fragst, was man darauf antworten soll? Jede Einzelne von diesen wird ein Lebewesen sein: viele Lebewesen werden es [aber] nicht sein. Warum? Ich werde es ausführen, wenn du mir deinen Scharfsinn und deine Aufmerksamkeit widmest.

(4) Jedes einzelne Lebewesen muss notwendig ein Einziges enthalten; sie alle haben eine einzige Seele; daher sind sie imstande, jeweils Einzelne zu sein, können nicht viele sein. Ich bin sowohl ein Lebewesen als auch ein Mensch, trotzdem wirst du nicht behaupten, dass wir zwei [Lebewesen] sind. Warum? Weil sie getrennt sein müssten. Also sage ich: das eine muss vom anderen getrennt sein, damit es zwei sind. Alles, was vielfach in einem Einzigen existiert, wird einem einzigen Wesen unterworfen; deshalb ist es ein Einziges.

(5) Meine Seele ist ein Lebewesen und auch ich bin ein Lebewesen, dennoch sind wir nicht zwei [Wesen]. Warum? Weil die Seele ein Teil von mir ist. Etwas wird dann für sich allein gezählt, wenn es für sich allein besteht; wenn es jedoch Teil eines anderen ist, wird man es nicht als verschieden ansehen können. Warum? Ich will es dir sagen: weil das, was verschieden ist, ein Eigenes sein muss – sowohl beständig als auch ungeteilt und in sich vollendet.

(6) Ego in alia esse me sententia professus sum; non enim tantum virtutes animalia erunt, si hoc recipitur, sed opposita quoque illis vitia et adfectus, tamquam ira, timor, luctus, suspicio. Ultra res ista procedet: omnes sententiae, omnes cogitationes animalia erunt. Quod nullo modo recipiendum est; non enim quidquid ab homine fit homo est.

(7) 'Iustitia quid est?', inquit. Animus quodam modo se habens. 'Itaque si animus animal est, et iustitia.' Minime; haec enim habitus animi est et quaedam vis. Idem animus in varias figuras convertitur et non totiens animal aliud est quotiens aliud facit; nec illud quod fit ab animo animal est.

(8) <Si> iustitia animal est, <si> fortitudo, si ceterae virtutes, utrum desinunt esse animalia subinde aut rursus incipiunt, an semper sunt? Desinere virtutes non possunt. Ergo multa animalia, immo innumerabilia, in hoc animo versantur.

(9) 'Non sunt'. inquit, 'multa, quia ex uno religata sunt et partes unius ac membra sunt.' Talem ergo faciem animi nobis proponimus qualis est hydrae multa habentis capita, quorum unumquodque per se pugnat, per se nocet. Atqui nullum ex illis capitibus animal est, sed animalis caput: ceterum ipsa unum animal est. Nemo in Chimaera leonem animal esse dixit aut draconem: hae partes erant eius; partes autem non sunt animalia.

(6) Ich habe zugegeben, dass ich anderer Meinung bin; denn wenn man ein solches annimmt, werden nicht nur die Tugenden Lebewesen sein, sondern auch die ihnen entgegengesetzten schlechten Eigenschaften und Begierden wie Zorn, Furcht, Trauer [und] Argwohn. Über diese hinaus wird es weitergehen: alle Meinungen, alle Überlegungen werden [gleichfalls] Lebewesen sein. Deshalb darf man [solches] keinesfalls annehmen; nicht alles nämlich, was von einem Menschen hervorgebracht wird, ist ein Mensch.

(7) „Gerechtigkeit, was ist das?‟, wird gefragt. Die Seele, die sich auf eine gewisse Art und Weise verhält. „Wenn also die Seele ein Lebewesen ist, [ist es] auch die Gerechtigkeit.‟ Keineswegs; diese ist nämlich ein Zustand und eine gewisse Wirkkraft der Seele. Ein und dieselbe Seele wandelt sich in verschiedene Erscheinungsformen und sie ist nicht ebenso oft ein anderes Lebewesen, wie sie etwas anderes hervorbringt; und auch nicht ein jedes, das durch die Seele veranlasst wird, ist ein Lebewesen.

(8) Wenn die Gerechtigkeit ein Lebewesen ist, wenn es die Tapferkeit [ist], wenn es die anderen Tugenden [sind], geben sie es von Zeit zu Zeit auf, ein Lebewesen zu sein? Oder schicken sie sich erneut dazu an? Oder sind sie es immer? Tugenden können kein Ende nehmen. Folglich halten sich viele, ja sogar unzählige Lebewesen in dieser Seele auf.

(9) „Es sind nicht viele‟, sagt man, „weil sie an der einen [Seele] gebunden und Teile und Glieder der Einen sind.‟ Wir stellen uns die Erscheinungsform der Seele also so vor wie die einer Hydra, die viele Köpfe hat, von denen jeder einzelne für sich allein kämpft, für sich allein Unheil anrichtet. Aber keiner von diesen Köpfen ist ein Lebewesen, sondern der Kopf eines Lebewesens: an sich ist sie aber ein einziges Lebewesen. Niemand hat behauptet, dass der Löwe oder die Schlange an der Chimäre ein Lebewesen ist. Sie waren Teile von ihr; Teilstücke sind aber keine Lebewesen.

(10) Quid est quo colligas iustitiam animal esse? 'Agit', inquit, 'aliquid et prodest; quod autem agit et prodest impetum habet; <quod autem impetum habet> animal est.' Verum est si suum impetum habet; <suum autem non habet> sed animi.

(11) Omne animal donec moriatur id est quod coepit: homo donec moriatur homo est, equus equus, canis canis; transire in aliud non potest. Iustitia, id est animus quodam modo se habens, animal est. Credamus: deinde animal est fortitudo, id est animus quodam modo se habens. Quis animus? Ille qui modo iustitia erat? Tenetur in priore animali, in aliud animal transire ei non licet; in eo illi in quo primum esse coepit perseverandum est.

(12) Praeterea unus animus duorum esse animalium non potest, multo minus plurium. Si iustitia, fortitudo, temperantia ceteraeque virtutes animalia sunt, quomodo unum animum habebunt? Singulos habeant oportet, aut non sunt animalia.

(13) Non potest unum corpus plurium animalium esse. Hoc et ipsi fatentur. Iustitiae quod est corpus? 'Animus'. Quid? Fortitudinis quod est corpus? 'Idem animus'. Atqui unum corpus esse duorum animalium non potest.

(10) Welchen Grund gibt es also dafür zu folgern, dass die Gerechtigkeit ein Lebewesen ist? „Sie bewirkt etwas‟, wird erwidert, „und sie ist nützlich; weil sie aber etwas bewirkt und nützlich ist, hat sie ein drängendes Verlangen; weil sie aber ein drängendes Verlangen hat, ist sie ein Lebewesen.‟ Gesetzt den Fall, dass sie ein drängendes Verlangen hat, ist das richtig; ein eigenes hat sie aber nicht, sondern das der Seele.

(11) Solange bis es stirbt, ist jedes Lebewesen so beschaffen, wie es seinen Anfang nahm: solange bis er stirbt, ist...

Erscheint lt. Verlag 4.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
ISBN-10 3-7597-6340-5 / 3759763405
ISBN-13 978-3-7597-6340-2 / 9783759763402
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