Endspiel 1974 - Eine Flucht in Deutschland -  Rüdiger von Fritsch

Endspiel 1974 - Eine Flucht in Deutschland (eBook)

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2024 | 1. Auflage
264 Seiten
Aufbau Verlag
978-3-8412-3421-6 (ISBN)
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Ein bestechendes Zeugnis gesamtdeutscher Alltagsgeschichte.

7. Juli 1974: Die Welt schaut nach München, wo das Endspiel der Fußballweltmeisterschaft stattfindet. Dieser Zeitpunkt scheint Rüdiger von Fritsch und seinem Bruder Burkhard ideal, um ihrem Vetter Thomas und dessen Freunden zur Flucht aus der DDR zu verhelfen. Fast ein Jahr haben sie auf die Vorbereitungen verwandt. Doch im letzten Augenblick droht ihr Plan zu scheitern ... 

Vor dem Hintergrund angespannter deutsch-deutscher Beziehungen und der Zypernkrise erzählt Bestsellerautor Rüdiger von Fritsch packend vom Fälschen von Pässen, von der Erstellung von Fluchtrouten und konspirativen Treffen - und von einer spektakulären Flucht, während ein Krieg zwischen Griechenland und der Türkei droht. Ein bestechendes Zeugnis gesamtdeutscher Alltagsgeschichte in einer überarbeiteten Neuausgabe zum 50. Jahrestag. 

»Ich habe selten ein Buch gelesen, dem es so gut wie diesem gelingt, einen Einzelfall, der für sich alleine schon aufregend genug ist, in ein großes historisches Panorama einzufügen.« Heinrich August Winkler.



Rüdiger von Fritsch, Jahrgang 1953, hat Geschichte und Germanistik studiert und arbeitete von 1984-2019 im Auswärtigen Dienst. Als Diplomat lebte er in Warschau, Nairobi und Brüssel. Von 1999-2004 leitete er den Planungsstab des Bundespräsidenten, von 2004-2007 war er Vizepräsident des BND, anschließend im Auswärtigen Amt Leiter der Abteilung für »Wirtschaft und nachhaltige Entwicklung«. Von Von 2010-2014 war er Botschafter in Warschau und von 2014-2019 Botschafter in Russland. Seither hat er drei Bücher geschrieben, die SPIEGEL-Bestseller wurden: »Russlands Weg. Als Botschafter in Moskau« (2020), »Zeitenwende. Putins Krieg und die Folgen« (2022) und »Welt im Umbruch. Was kommt nach dem Krieg?« (2023). Als Berater ist er für die Unternehmen »Berlin Global Advisors« und »McKinsey and Company« tätig und gefragter Interviewpartner zum Zeitgeschehen.

1

Kalotina, 6. Juli 1974


Ruhig, nur ruhig bleiben. Du fährst nicht zum ersten Mal über diese Grenze. Warum sollten sie Verdacht schöpfen?

Kein loser Spruch kommt uns mehr über die Lippen, kein Witz, der die Spannung erträglich machen könnte. Die Spannung, die sich während der letzten Monate aufgebaut hat, die uns seit gestern immer mehr die Kehle schnürt, seit Burkhard, mein älterer Bruder, und ich in München losgefahren sind. Burkhard, der neben mir am Steuer sitzt, der auch jetzt die besseren Nerven hat. In dem es aber wohl genauso aussieht wie in mir. Der sich jetzt genauso wie ich den Zufallskontrollen bulgarischer Grenzbeamter ausliefert.

Hinter uns liegen 1300 Kilometer ermüdender Fahrt durch Österreich und über die enge, überlastete und mit Schlaglöchern übersäte Strecke des jugoslawischen »Autoput«. Burkhard hat etwas Fahrpraxis, ich kaum. Einen Tag sind wir jetzt unterwegs, die Nacht im Schlafsack im Auto war unruhig, kurz und keine Erholung. Immer wieder bin ich aus beklemmenden Träumen aufgeschreckt. Doch jetzt sind wir beide hellwach, unsere Aufmerksamkeit ist aufs Höchste gespannt.

Nur langsam bewegt sich die Schlange der Autos auf die jugoslawisch-bulgarischen Grenzkontrollen zwischen Dimitrovgrad und Kalotina zu. Fernlaster, altersschwache Studentenautos, überladene Ford-Transit-Busse auf dem Weg in die türkische Heimat ihrer Fahrer.

Unser Wagen – einer unter vielen. Zwei junge Männer, Jungen eigentlich, 20 und 22 Jahre alt. Unterwegs in einem kleinen roten Opel »Kadett«, vermeintlich auf dem Weg in den Urlaub in die Türkei oder zu noch ferneren Zielen. Nichts Besonderes in jenen Jahren, in denen eine ganze Generation den Rucksack packt und per Anhalter Richtung Kathmandu aufbricht oder mit dem Zug quer durch Europa reist – oder eben in die Türkei. Im Auto die übliche Unordnung aus Schlafsäcken und Lebensmittelvorräten, aus Werkzeug und Ersatzteilen, aus Karten und Kleidern.

Wenn man genauer hinschaut, scheint es etwas viel Gepäck für zwei. Drei Seesäcke, erstaunlich viele Hosen und Hemden, mehr Schlafsäcke als nötig. Natürlich, das lässt sich alles erklären: Verschenken, es könnte kalt werden, wer weiß, alte Sachen, könnten kaputtgehen. Das kann man uns noch glauben.

Was sich nicht erklären lässt, sind die drei Pässe, die wir im Wagen versteckt haben. Drei grüne Pässe: einen für Tom und je einen für seine Freunde. Grüne Pässe für Tom und Bernd und Thomas, die nicht aus München nach Bulgarien reisen, sondern aus Thüringen, aus der Altmark und aus Leipzig. Die, wenn alles geklappt hat, seit zwei Tagen an der Schwarzmeerküste auf uns warten. Die zwar Pässe haben – aber keine grünen, sondern blaue: DDR, nicht Bundesrepublik. Die auf diese drei grünen Pässe warten, um mit uns morgen aus Bulgarien in die Türkei auszureisen, aus der Diktatur des einen in die Freiheit des anderen Deutschlands.

Burkhard und ich wissen, dass wir gar nicht erst versuchen müssten, etwas zu erklären, wenn die Pässe gefunden werden. Alles ist zu offensichtlich. Drei Pässe, die nicht die unseren sind und in denen der bulgarische Einreisestempel schon eingetragen ist, den man doch erst an der Grenze erhält. Stempel, die gut aussehen – aber nur auf den ersten Blick. Die eben nicht perfekt geschnitten sind und die nicht fluoreszieren, wenn man sie bei ultraviolettem Licht betrachtet. Pässe, denen man bei genauerer Prüfung anmerken kann, dass die Ösen in den Passbildern nicht der Norm entsprechen. Denn ihre Fotos wurden ausgetauscht.

Aber wenn die Pässe nicht gefunden werden, kann alles klappen. Dann werden Burkhard und ich weiterfahren, die Nacht hindurch, bis an die Schwarzmeerküste. Wir werden Tom und Bernd und Thomas treffen, ihnen die Pässe geben, die Seesäcke und das überzählige Gepäck. Wir werden westdeutsche Jugendliche aus ihnen machen, die per Autostopp von der Bundesrepublik Richtung Türkei unterwegs sind. Die drei werden über Nacht die Biographien ihrer Pässe auswendig lernen. Gemeinsam werden wir an die Grenze zur Türkei fahren und dort gemeinsam ausreisen. Morgen Nachmittag, etwa gegen 16 Uhr. Nicht früher, nicht später.

Denn morgen ist Endspiel. Um 16 Uhr wird es in vollem Gange sein.

Sonntag, 7. Juli 1974. Das Datum ist ideal, da sind wir uns sicher. Morgen ist in München Endspiel, Finale der Fußball-Weltmeisterschaft: Deutschland-Holland. Die ganze Welt wird zuschauen oder zuhören, auch bulgarische Grenzbeamte. Sie werden abgelenkt sein und sie werden mit den jungen deutschen Reisenden fiebern, die um diese Zeit an ihre Grenze kommen. Sie werden sie an ihrem Wissen teilhaben lassen wollen und die Spannung des Sports wird die Spannung der Flucht überlagern. Fußball schafft eine Gemeinschaft des Augenblicks, die alle denkbaren Gegensätze verschwinden lässt.

Alles ist bedacht, alles. Das Risiko so gering und die Chance so groß wie möglich zu halten, das war der wichtigste Grundsatz aller Überlegungen gewesen, die wir in der zurückliegenden Zeit angestellt hatten. Neun Monate Vorbereitung liegen hinter uns und nur noch diese beiden Grenzübertritte vor uns: von Jugoslawien nach Bulgarien im Westen hinein, dann durch Bulgarien hindurch und im Osten wieder hinaus, in die Türkei. Danach ist alles egal. Denn ganz im Osten, jenseits der bulgarischen Grenze, sind wir wieder im »Westen« – ausgereist aus dem sozialistischen Bulgarien in den NATO-Mitgliedstaat Türkei. So paradox ist die zweigeteilte Welt.

Die Grenze rückt immer näher. Unausweichlich und quälend langsam.

Und wenn wir erwischt werden? »Beihilfe zur Republikflucht«, »staatsfeindlicher Menschenhandel«, so lauten die einschlägigen Delikte im DDR-Jargon. Bulgarisches Gefängnis oder Auslieferung an die DDR? Welches Strafmaß? Es gibt Dinge, die kann man niemanden fragen, die kann man nur auf sich zukommen lassen. Zu neun Jahren Haft hat das DDR-Bezirksgericht Schwerin den West-Berliner Peter Strauch wegen Fluchthilfe verurteilt, melden die Wochenendausgaben der westdeutschen Tageszeitungen an jenem 6. Juli 1974 – ein besonders hohes Strafmaß im Vergleich zu den drei, vier Jahren, die sonst oft verhängt werden. Die Zeitungen sind in jenen Monaten voll von Berichten über gescheiterte Fluchtversuche und verurteilte Fluchthelfer. Mit einer Welle von Prozessen und harten Urteilen stemmt die DDR-Regierung sich gegen immer neue Versuche ihrer Bürger, das Land zu verlassen.

Wenn man uns erwischt, wird man auch die drei Freunde verhaften, die sich vollständig in unsere Hand begeben haben, die uns blind vertrauen und deren Zukunft vom Gelingen unserer Planung abhängt. Man wird sie ausliefern, aburteilen und einsperren. Und wenn sie Glück haben, werden sie eines Tages freigekauft – denn den wahren Menschenhandel betreibt die DDR-Regierung: Gegen hohe Zahlungen in harter Währung lässt sie inhaftierte politische Häftlinge frei. 33 000 ihrer Bürger verkauft die DDR-Führung bis 1989 an die Bundesrepublik, 3,4 Milliarden DM verdient sie daran.

Also zumindest die Perspektive eines Freikaufs. Doch um welchen Preis?

Ruhig bleiben, nur ruhig bleiben. Unser Wagen rollt in die Grenzanlage. Die jugoslawische Seite zeigt bei der Ausreise kein großes Interesse an uns, die bulgarische bei der Einreise umso mehr. Schlagbäume, Schilder, Wachtposten. Abläufe und Prozeduren, so unausweichlich wie unverständlich, hinter uns und vor uns Sperranlagen. Eine perfekte Falle. »Willkommen in der Volksrepublik Bulgarien!« ruft es uns von großen Tafeln mehrsprachig entgegen; glückliche Arbeiter und Bauern winken uns strahlend von altersgrauen Propagandaplakaten zu, gestaltet im immer gleichen Ostblockstil des sozialistischen Realismus.

Der Grenzbeamte beugt sich in das geöffnete Autofenster, ein ausdrucksloses Gesicht, ein gemurmelter Gruß, die Pässe bitte. Sieht er nicht, dass mir das Herz bis zum Hals schlägt? Die Pässe werden in ein Schalterfenster hineingereicht, verschwinden hinter einem Tresen. Was passiert da? Listen? Suchmeldungen? Quatsch. Niemand kann wissen, was wir vorhaben. Die üblichen Fragen. Wohin. Warum. Routine. Noch ein Blick durch den Wagen. Routine. Die Pässe kommen zurück, der Grenzsoldat winkt den Wagen weiter. Durchschnittsreisende, unauffällig, kein Grund zur Stichprobe.

Ruhig bleiben, nur ruhig...

Erscheint lt. Verlag 4.6.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Geschichte Regional- / Ländergeschichte
ISBN-10 3-8412-3421-6 / 3841234216
ISBN-13 978-3-8412-3421-6 / 9783841234216
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