Einsame Spaziergänge -  Jean-Jacques Rousseau

Einsame Spaziergänge (eBook)

Sein letztes nachgelassenes Werk
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
168 Seiten
resilienz-verlag.de
978-3-911069-03-8 (ISBN)
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Im Jahr 1776, wenig Zeit vor seinem Tod, begann Rousseau seine Rêveries du promeneur solitaire (Träumereien des einsamen Spaziergängers) niederzuschreiben. Sie sind autobiografisch gehalten und Rousseau blickt auf sein Leben zurück, bekennt, welche Hoffnungen er hatte, welche Erwartungen an ihn gestellt wurden und was er von seinen Mitmenschen hält. Da sie gemeinsam mit den Confessiones erschienen, erhielt die Nachwelt auf einen Schlag eine Aufsehen erregende Menge an autobiografischen Eröffnungen. Seine "einsamen Spaziergänge" der späteren Lebensjahre, so schreibt Rousseau in einem Brief seien für ihn das Bedeutsamste und "am häufigsten und am liebsten Erinnerte". Wolfram Frietsch sieht hier das Resilienz-Potenzial: Im Grunde sind die zehn Spaziergänge Zwiegespräche mit sich selbst und dann des Autors Jean-Jacques Rousseau mit seinem Leser. Mit einem Schlag war er aus "der Ordnung der Dinge gehoben" worden und wusste nicht wie. Nach und nach lernt er, Kohärenz wiederzugewinnen und lässt genau daran den Leser teilhaben: "Nach vielen unruhigen Jahren bekam ich wieder Mut, ging in mich selbst, und dann erst lernte ich den Wert der Zuflucht kennen, die ich mir aufgespart hatte." Die Resilienz der "Spaziergänge" ist der rote Faden, auf den der Herausgeber in seinem Vorwort aufmerksam macht: Es beginnt sich der wichtigste Resilienzfaktor herauszukristallisieren, der in den Spaziergängen zum Tragen kommt ...

Erster Spaziergang


So bin ich denn nun allein auf der Erde; habe keinen Bruder, keinen Freund, keine Gesellschaft außer mir? Der geselligste, liebevollste der Menschen ward einmütig verbannt. Sie sannen nach in ihrem Haß gegen mich, und suchten, welche Qual meiner empfindlichen Seele wohl die schmerzlichste sein könnte, und sie zerrissen mit Ungestüm die Bande, die mich an sie knüpften. Ich würde die Menschen wider ihren Willen geliebt haben; sie verloren mein Wohlwollen nur dadurch, daß sie aufhörten Menschen zu sein. Nun sind sie mir wie Fremde, Unbekannte; ja sie sind für mich, als wären sie gar nicht, weil sie es so wollten. Aber ich, der ich nun bin losgerissen von ihnen und von allem, was bin denn ich selbst? Das muß ich nun untersuchen. Unglücklicherweise kann ich diese Untersuchung nicht anstellen, ohne vorher einen Blick auf meine Lage zu werfen; diese Betrachtung leitet mich von den Menschen auf mich selbst.

Mehr als fünfzehn Jahre befinde ich mich nun in diesem wunderbaren Zustand, und noch scheint er mir ein Traum. Es kommt mir vor, als plagte mich eine Unverdaulichkeit, als läg ich in einem ungesunden, unruhigen Schlafe, aus welchem ich nun erwachen, und in der Gesellschaft meiner Freunde Vergessenheit meines Grams finden sollte. In der Tat, ich muß, ohne es zu merken, einen Sprung vom Wachen zum Schlafen oder vom Leben zum Tode getan haben. Ich bin aus der Ordnung der Dinge gehoben, und weiß nicht wie; ich sank in ein unverständliches Chaos, wo ich nichts sehe; und je mehr ich über meinen Zustand nachdenke, desto weniger begreif ich, wo ich bin.

Wie konnte ich das Schicksal voraussehen, das meiner harrte? Wie kann ich's jetzt begreifen, da es ganz über mir ist? Konnte ich mir vernünftigerweise vorstellen, daß ich, ich derselbe Mensch, der ich war und noch bin, einst für ein Ungeheuer, einen Vergifter, einen Meuchelmörder gehalten und von dem niedrigsten Pöbel mißhandelt werden sollte; daß einst die Vorübergehenden mich statt des Grußes anspeien, daß eine ganze Generation sich eine Unterhaltung daraus machen sollte, mich lebendig zu begraben? Diese seltsame Veränderung kam schnell und unvorhergesehen über mich, und ich ward dadurch erschüttert. Meine innerlichen Bewegungen, mein Unwille stürzten mich in eine Art von Wahnsinn, der sich kaum in zehn Jahren verlor, und während dieser Zeit beging ich einen Irrtum, einen Fehltritt, eine Unbedachtsamkeit über die andere, und so gab ich durch meine Unbehutsamkeit den Beherrschern meines Schicksals Werkzeuge in die Hände, die sie sehr geschickt zu brauchen wußten, um es auf immer nach ihrer Absicht zu bestimmen.

Ich kämpfte lange ebenso fruchtlos als heftig. Ohne Geschicklichkeit, ohne Kunst, ohne Verstellung, sondern freimütig, offen, ungeduldig und hitzig wie ich war, diente mein Kämpfen nur dazu, mich ihnen preiszugeben und ihrer Bosheit Waffen zu verschaffen, die sie eifrig ergriff. Da ich endlich einsah, wie fruchtlos mein Bemühen war, und daß ich mich selbst vergebens quälte, so entschloß ich mich zu dem einzigen, was mir übrig blieb: mich meinem Schicksal zu unterwerfen, und nie mehr gegen die Notwendigkeit zu sträuben. Dieser Entschluß ersetzte mir alles, was ich ausgestanden hatte durch die Ruhe, die er mir gab, und die nie mit den Mühseligkeiten eines fruchtlosen Widerstands hätte bestehen können.

Noch ein Umstand trug zu dieser Ruhe vieles bei. So fein meine Verfolger ihre Bosheit ausgesonnen hatten, so vergaßen sie doch etwas aus allzu großem Eifer; sie ließen ihren Haß nicht stufenweise auf mich wirken, und so verloren sie den Vorteil, meine Leiden immer zu unterhalten und durch frische Anfälle zu erneuern. Wären sie so geschickt gewesen, mir einen Schimmer von Hoffnung zu lassen, so hielten sie mich noch von dieser Seite fest. Sie könnten mir noch eben so mitspielen, wenn sie mir eine täuschende Hoffnung vorhielten, denn meine betrogene Erwartung gab mir immer neue Marter; aber so haben sie ihre ganze Erfindung erschöpft; sie nahmen sich selbst alles, da sie mir nichts übrig ließen. Die Verleumdung, Unterdrückung, Spott und Beschimpfung, womit sie mich überhäuften, können weder vergrößert noch gemildert werden. Sie waren so eifrig, das Maß meines Elends vollzumachen, daß wir nun beiderseits außer Stande sind, sie, mein Unglück zu vergrößern, ich, mich zu retten; die ganze Macht der Menschen, von der ganzen Arglist der Hölle unterstützt, könnte nichts mehr hinzusetzen. Selbst der physische Schmerz würde meine Leiden nicht vergrößern, sondern nur verändern; wenn ich vielleicht schreien müßte, so dürfte ich nicht seufzen; so lange mein Leib zerfleischt würde, hätte mein Herz Ruhe.

Was hab ich nun noch von ihnen zu besorgen, nachdem alles geschehen ist? Da sie meine Lage nicht verschlimmern können, so darf ich sie nicht mehr fürchten. Unruhe und Schrecken sind Übel, deren sie mich auf immer entledigt haben; das ist gewiß Trost. Ein wirkliches Übel peinigt mich nicht so sehr; was gegenwärtig ist, dulde ich mit Entschlossenheit, aber nicht das zukünftige. Meine Einbildungskraft sieht das zukünftige Unglück in einer schrecklichern Gestalt. Die Erwartung ist mir weit schmerzlicher, als die Gegenwart; die Drohung ist mir fürchterlicher als der Schlag. Sobald ein Übel da ist, so verliert es alles, was die Phantasie ihm gegeben hatte, und es erscheint in seiner wahren Größe. Ich finde es alsdann weniger schrecklich, als ich es mir eingebildet hatte, und selbst im Leiden fühl ich Trost. In einem solchen Zustand, wenn keine Unruhe, keine Furcht mich quält, keine Hoffnung mich täuscht, kann die bloße Gewohnheit mir einen Schmerz, der nicht mehr zu vergrößern ist, täglich erträglicher machen, und da seine Dauer meine Empfindung allmählich schwächt, so können sie ihn nicht erneuern. Dies hab ich meinen Verfolgern zu danken, die alle Pfeile ihres Grolls gegen mich verbraucht haben. Sie beraubten sich selbst aller Gewalt über mich und ich kann in Zukunft ihrer lachen.

Erst seit zwei Monaten ist die völlige Ruhe in meinem Herzen wieder hergestellt. Ich fürchtete schon lange nichts mehr, aber ich hoffte noch, und diese Hoffnung, die bald getäuscht, bald vereitelt wurde, war schuld, daß tausend verschiedene Leidenschaften mein Herz bestürmten. Ein trauriger unvorhergesehener Zufall hat endlich diesen schwachen Strahl von Hoffnung aus meinem Herzen getilgt und mir mein Schicksal gezeigt, wie es unabänderlich hienieden festgesetzt ist. Von dieser Zeit an hab ich mich gänzlich entschlossen, und die Ruhe wiedergefunden.

Sobald ich anfing, das Gewebe ganz einzusehen, so verging mir der Gedanke auf immer, dem Publikum eine andere Meinung von mir beizubringen; zu was hätte mir auch diese Erkenntnis, diese Rückkehr genützt, da sie nicht mehr gegenseitig sein konnte? Umsonst würden die Menschen wieder zu mir kehren wollen; sie würden mich nicht wieder finden. Bei dieser Denkart, die sie mir von sich eingeflößt haben, würde mir ihr Umgang unschmackhaft, selbst lästig sein; und ich bin in meiner Einsamkeit weit glücklicher, als ich in ihrer Gesellschaft sein würde. Sie haben alle süßen gesellschaftlichen Gefühle aus meinem Herzen gerissen, und sie könnten in meinem Alter nicht wieder in mir erwachen; es ist zu spät. Ob sie mir in Zukunft Guts oder Leids zufügen, von ihrer Seite ist mir alles gleichgültig; und wie sie auch immer gegen mich handeln, so ist die gegenwärtige Generation nichts für mich.

Aber auf die Zukunft vertraute ich, und hoffte, daß eine bessere Nachkommenschaft die Urteile und das Betragen der jetzt Lebenden gegen mich genauer untersuchen, und die Kunstgriffe derjenigen aufdecken würde, welche diese Urteile und dies Betragen lenken, und daß ich so einst für das gelten würde, was ich bin. In dieser Hoffnung schrieb ich meine Dialoge und tat tausend törichte Versuche, sie auf die Nachwelt zu bringen. Diese Hoffnung, so fern sie auch war, erhielt meine Seele in eben einer solchen Bewegung, als wenn ich noch ein gutes Herz in dieser Zeit suchte. Ich habe in meinen Dialogen gesagt, auf was ich diese Erwartung gründete; aber ich irrte und nahm es glücklicherweise eben zeitig genug wahr, um vor meinem Ende noch eine vollkommene Ruhe und Zufriedenheit genießen zu können. Dieser Zustand begann bei der Epoche, von der ich rede, und ich darf glauben, daß er nicht mehr unterbrochen werden soll.

Es vergeht beinahe kein Tag, an welchem ich nicht durch neue Betrachtungen einsehe, wie sehr ich mich irrte, als ich glaubte, das Publikum könnte eine andere Meinung von mir fassen; auch im folgenden Zeitalter wird das nicht geschehen: denn es wird in allem, was mich betrifft, durch Führer gelenkt, die sich immer erneuern. Einzelne Menschen sterben, aber ganze Stände sterben nicht, und von solchen bin ich verfolgt. Die nämlichen Leidenschaften leben ewig in ihnen, und ihr brennender Haß, unsterblich wie der Dämon, der ihn einhauchte, behält immer seine Tätigkeit. Wenn...

Erscheint lt. Verlag 14.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
ISBN-10 3-911069-03-0 / 3911069030
ISBN-13 978-3-911069-03-8 / 9783911069038
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