Abseits des Krieges -  Gunnar Hindrichs

Abseits des Krieges (eBook)

Ein philosophischer Essay
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2024 | 1. Auflage
126 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-81458-7 (ISBN)
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Mit den militärischen Eskalationen der Gegenwart hat die Mehrfachkrise unserer Gesellschaft einen neuen Stand erreicht. Das verlangt auch eine neue Auseinandersetzung mit dem, was Krieg heute eigentlich ausmacht. In zehn miteinander verknüpften Kurzessays unternimmt Gunnar Hindrichs eine philosophische Reflexion auf die Eigenbestimmtheit des Krieges: unter den besonderen Bedingungen unserer Zeit. Eine Philosophie «des» Krieges gibt es nicht. Aber es lassen sich Grundlagenbestimmungen anstellen, die unsere kriegerische Gegenwart unter kategorialen Gesichtspunkten betrachten - Weltgeschichte, Recht, Macht, Selbsterhaltung, Helden, Institutionen u. a. -, und so «ihre Zeit in Gedanken erfassen» (Hegel). Hierbei darf sich die philosophische Reflexion nicht auch noch selber einberufen lassen. Vielmehr muss sie sich abseits des Krieges vollziehen: Weder macht sich die Philosophie zur Kriegspartei, noch bleibt sie neutral. Denn hinter allen ihren Überlegungen steht unausgesprochen das Nein zum Krieg. Auf diesem Weg geht es ihr darum, dem Ziel alles Nachdenkens über den Krieg - dem Frieden- näherzukommen.

Gunnar Hindrichs ist Professor für Philosophie an der Universität Basel. 2007 erhielt er den Akademiepreis der Heidelberger Akademie der Wissenschaften. <br><br>

II. Recht


Wer Krieg führt, meint meistens, recht zu haben. Wenn der frühere Bundeskanzler, fünfzehn Jahre nach dem Fest, bekannte, Deutschland habe mit der Bombardierung Serbiens an einem Völkerrechtsbruch teilgenommen, dann gestand er nicht deren Unrecht ein.[1] Vielmehr spielte er auf höhere Rechte an, um derentwillen das Völkerrecht hatte gebrochen werden müssen: die in einer humanitären Katastrophe beschädigten Menschenrechte. Vor solchen Rückgriffen schrecken andere zurück. Habermas etwa rechtfertigte jene Bombardierung mit der Formulierung, sie sei «hauchdünn» vom Völkerrecht legitimiert gewesen.[2] Hiernach fällt etwas nicht einfach unter eine Rechtsnorm oder nicht. Stattdessen erfasst das Recht eine Handlung mehr oder weniger, und man hat gerade noch Glück gehabt, dass sie nicht im Regen stand. Ersichtlich redet man so nur dann, wenn Zweifel sich regen. Weder in dem einen noch in dem anderen Fall will man den eigenen Krieg im Unrecht sehen – und betreibt einigen Rechtfertigungsaufwand.

Das ist keine neue Sache. Im platonischen Dialog Alkibiades I antwortet die Titelfigur – der Stratege Alkibiades als junger Mann – auf eine Frage des Sokrates: «wenn einer auch dächte, man sollte gegen die, die recht handeln, Krieg führen, so würde er es doch nicht eingestehen.» Sokrates fügt an: «Denn dies ist nicht gesetzlich», worauf Alkibiades zustimmt: «Freilich nicht, und auch für schön wird es ja nicht gehalten.»[3] So unterwirft man seine Kriegsgelüste dem Recht, weil man weder gesetzlos noch hässlich handeln möchte. Allerdings kann Alkibiades dem Sokrates keine überzeugende Antwort auf die Frage geben, woher er denn um Recht und Unrecht wisse. Vielmehr verwickelt er sich in Aporien: weil er meint, um Recht und Unrecht zu wissen, ohne es wirklich zu tun; ein Nichtwissen aber, das zu wissen glaubt, ist verantwortlich für alles Übel. Einziger Ausweg: sein Nichtwissen einzugestehen und nach Einsicht in die Idee des Rechten zu streben.[4] Hiernach hilft in den Rechtsfragen des Krieges nur der Überstieg aus der Sinnenwelt in das Reich der Ideen. Es hilft nur Metaphysik.

Warum eigentlich dieser – alte wie neue – Rechtfertigungsaufwand? Vermutlich deshalb: das Recht birgt ein wichtiges Versprechen. Es lautet: die Gegebenheiten behalten nicht das letzte Wort. Dieses Versprechen ist bereits in der frühen Unterscheidung von Physis und Nomos angelegt. Als die griechischen Städte über den Sachverhalt nachdachten, dass ihre Gebräuche, Sitten und Gesetze von Ort zu Ort unterschiedlich waren, während doch die Natur überall dieselbe blieb, unterschieden sie die beiden Bereiche.[5] Sie sahen: die Natur ist gegeben, aber die Regeln des politischen Miteinanders werden von den Menschen gesetzt. Dadurch gehen diese Regeln über das einfach Gegebene hinaus. Hiermit ist noch kein Bruch zwischen Physis und Nomos, zwischen gegebener Natur und gesetztem Recht verbunden. Aber es führt einen wichtigen Unterschied ein. Man kann ihn dahingehend deuten, dass das Gegebene noch etwas anderem begegnet, dessen Anspruch über die Gegebenheiten hinausgeht.

Dieser Anspruch wurde in der Moderne unter neuen begrifflichen Vorzeichen ausgebaut. Letztlich mündete er in die Differenz von Faktizität und Geltung.[6] Faktizität – das betrifft die Welt der Tatsachen und Gegebenheiten. Geltung hingegen erstreckt sich immer auch ins Kontrafaktische. Denn ein Gesetz, ein Recht, eine Forderung gelten auch dann, wenn die Tatsachen sie nicht erfüllen, sie verletzen oder ihnen zuwiderlaufen. Und eben hierauf beruht das Versprechen des Rechts: das Gegebene besitzt nicht das letzte Wort. Es muss sich an einem Aufgegebenen messen lassen. Im Zweifelsfall kann sich dieses Aufgegebene gegen das Gegebene stellen. Was gilt, bildet daher mehr als eine Angelegenheit nackter Tatsachen. Es besitzt eine Form von Notwendigkeit – keine kausale und keine logische, aber eine fordernde, die auch wider das auftritt, was der Fall ist. In diesem Sinne begegnet hier das Faktische dem Kontrafaktischen.

Auch die Verknüpfung von Krieg und Recht steht in diesem Zusammenhang. Kriege gehören zum Gegebenen: sie sind Tatsachen in einer Welt von Tatsachen. Darum muss man mit ihnen rechnen. Aber diese Tatsächlichkeit ist nicht alles. Denn wenn Kriege sich mit dem Recht verknüpfen lassen, dann gründen sie zugleich in etwas Kontrafaktischem. Zwar bleibt die Welt der – politischen, gesellschaftlichen, ökonomischen, kulturellen, psychologischen – Bestände der Kontext und der Boden von Kriegen. Doch dieser Kontext und Boden beugt sich Forderungen, die über Kontexte und Böden hinausgehen. Das erlaubt es, zwischen rechtmäßigen und unrechtmäßigen Kriegen zu unterscheiden. Entsprechend stehen Kriege in der Spannung zwischen Faktizität und Geltung. Sie wollen nicht nur gegeben sein, sondern auch aufgegeben – oder zumindest im Einklang mit dem Aufgegebenen stehen, nämlich mit den Forderungen des Rechts.

Solchen Einklang stellen gewöhnlich Rechtfertigungserzählungen her. Im Ukrainekrieg sieht sich Russland im Recht, weil es eine ökonomische und militärische Einkreisungsstrategie der Staaten des Nordatlantikpaktes abwehren müsse, die auf seine innere Zerrüttung und äußere Bedrohung abziele. Die Ukraine wiederum sieht sich im Recht, weil ihre Selbstbestimmung und territoriale Integrität verletzt wurden. Und die Staaten des Nordatlantikpaktes sehen sich mit ihrer finanziellen, logistischen, technischen Fütterung der Ukraine im Recht, weil der Bruch des Völkerrechts durch den Angriffskrieg eines Unrechtsstaates ihren Beistand fordere. Hier verkeilen sich gegenläufige Rechtfertigungserzählungen ineinander. Sie feuern den Krieg von allen Seiten an.

Eine Instanz, die über sie insgesamt Recht sprechen könnte, gibt es nicht. Zwar besteht eine Anzahl internationaler Gerichte. Aber sie bergen ein grundsätzliches Problem. Den normativen Fluchtpunkt internationaler Gerichte bildet die Weltbürgerlichkeit.[7] Sie verstehen alle Menschen dieser Erde als Bürger der einen Welt. Darum kann sich ihre Gerichtsbarkeit über sie erstrecken. Philosophisch wurde der Fluchtpunkt «Weltbürgerlichkeit» insbesondere durch Kant geprägt: als die Idee, in der die naturwüchsigen Auseinandersetzungen zwischen Staaten durch deren allgemeines Rechtsverhältnis überwunden werden, mit der unendlichen Aufgabe eines ewigen Friedens.[8] Diese Idee bleibt bestehen. Für die internationale Gerichtsbarkeit bildet der Fluchtpunkt «Weltbürgerlichkeit» aber keine Idee. Er wird zur Arbeitsmaxime. Und damit drücken die internationalen Rechtsinstanzen nicht nur, in gewohnter Eindimensionalität, dem Rest der Welt die bürgerlichen Rechtsverhältnisse auf.[9] Unter der Hand verwandeln sie auch alle zwischenstaatlichen Kriege in Weltbürgerkriege. Denn indem die internationale Gerichtsbarkeit alle Menschen als Bürger einer Welt versteht, versteht sie deren Kriege als Kriege innerhalb einer planetarischen Bürgerschaft.

Damit zieht sie die klassische Kriegseinhegung zurück. Seinerzeit bestand die Leistung des Westfälischen Friedens darin, den Krieg, der zwischen Staaten herrscht, von den konfessionellen Bürgerkriegen zu unterscheiden. Das Trauma eines Dreißigjährigen Krieges – «Wir sehen keine Stadt! wie ist der Ort verworren / Mit dunkelrother Glut: Die Häuser sind verschorren / In Asch’ und in sich selbst: Wird auch noch iemand seyn, / Der aus den Kohlen sucht ein halb=verbrandt Gebein / Von denen die der Schlaff dem Feuer hat verrathen! /Wir schauen deren Noth die in den Flammen braten / Und wissen keinen Rath»[10] – ließ sich auf diese Weise rechtlich beenden. Denn nun konnten gegenläufige Sittlichkeiten friedlich nebeneinander bestehen. Ihr Friedensschluss betraf nicht mehr ihre Gehalte. Er betraf allein ihr äußeres Verhältnis.

Seither galt es, auf den Unterschied zwischen Bürgerkrieg und Staatenkrieg zu achten. Für Carl Schmitt und seine Schüler wurde das nachgerade zur Besessenheit. Jede ideologische Aufladung des Politischen drohte ihnen die alten konfessionellen Bürgerkriege in säkularisierter Gestalt wieder zu erwecken. Und weil die Welt sich seit dem neunzehnten Jahrhundert in Konservativismus, Liberalismus, Sozialismus entzweite, sei ein Weltbürgerkrieg entstanden, dessen Friedensschluss nur durch die dezisionistische Souveränität autoritärer Staaten verhindert werden könne: mit einer ideologisch inhaltsleeren, rein existentiellen Freund-Feind-Unterscheidung.[11] Indessen hatte diese Position keine Schwierigkeiten, sich mit einer Ideologie, nämlich dem Faschismus, zu verbinden. Das weist auch darauf hin, dass...

Erscheint lt. Verlag 16.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Geschichte der Philosophie
Sozialwissenschaften Politik / Verwaltung
ISBN-10 3-406-81458-1 / 3406814581
ISBN-13 978-3-406-81458-7 / 9783406814587
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