Meine wilde Nation (eBook)
285 Seiten
Verlag C.H.Beck
978-3-406-81410-5 (ISBN)
Alex Lissitsa ist Geschäftsführer der ukrainischen IMC Agrarholding und einer der bekanntesten Landwirte der Ukraine. Er ist ein international gefragter Experte für Agrar- und Lebensmittelwirtschaft und ein intimer Kenner seines Landes. Lissitsa promovierte an der Berliner Humboldt-Universität und spricht fließend Deutsch.
KATZE ALLEIN ZU HAUS
Die Westukraine füllt sich rasch mit Menschen auf der Flucht. Manche sind nur auf der Durchreise und wollen weiter nach Polen, Deutschland und Westeuropa. Andere harren im Westen des Landes aus, in der Hoffnung, dass sich die Lage in den Kriegsgebieten wieder bessert. Niemand weiß, wie weit die Russen vorrücken werden. Sogar bei uns im Dorf tauchen mehr und mehr Autos aus den bedrohten östlichen Teilen des Landes auf. Betten sind überall rar, Unterkünfte ausgebucht. Wasjas Elternhaus wird fürs Erste zu unserer Notunterkunft, doch allzu lange will ich ihnen nicht zur Last fallen. Nur, wohin ich mich wenden soll, weiß ich nicht. Der gesamte Osten des Landes ist bedroht, meine Heimat abgeschnitten. Im Westen habe ich weder Verwandte noch Freunde, die mich aufnehmen könnten. Die Standorte unserer Betriebe liegen samt und sonders im Norden und in der Zentralukraine östlich des Dnipro, also unsicheren Gegenden. Es steht zu befürchten, dass die Hauptstadt Kyjiw allen Beteuerungen des Präsidenten zum Trotz nicht lange standhalten wird. Ob es mein Unternehmen in zwei Wochen noch gibt, weiß ich nicht.
Zu all diesen Unwägbarkeiten kommt die Sorge um meinen Kater Kiki, den wir in der Wohnung in Kyjiw zurückgelassen haben. Ich habe ihn mit Futter und Wasser für zehn Tage versorgt.
Hoffentlich erschrecken ihn die Bomben nicht zu sehr. Die Putzfrau hat versprochen, sich um ihn zu kümmern. Sie fürchtet sich nicht vor dem Krieg, hat sie mutig behauptet. Sie ist aus der Region Luhansk nach Kyjiw geflüchtet und kannte den Krieg schon, denn dort wird seit 2014 geschossen und gebombt. Das hatte mich beruhigt.
– Wissen Sie, ich habe Luhansk überstanden. Ich gehe nirgendwo hin. Ich bleibe in Kyjiw. Machen Sie sich keine Sorgen. Ihre Katze ist gut versorgt.
Am dritten Tag rufe ich sie an, um mich zu erkundigen, ob es Kiki gut geht und in der Wohnung alles in Ordnung ist. In den Nachrichten war von Plünderungen die Rede. Man hat eine Ausgangssperre verhängt. Auf meine Nachfrage antwortet sie sehr zerknirscht:
– Ja, machen Sie sich keine Sorgen, es geht bestimmt alles in Ordnung.
An ihrer Stimme merke ich, dass irgendetwas nicht stimmt.
– Waren Sie schon in der Wohnung? Haben Sie Kiki frisches Futter gegeben? Die Päckchen liegen auf dem Tisch. Das haben Sie ja sicher gesehen.
– Ich war jetzt noch nicht da.
– Dann fahren Sie bestimmt morgen hin?
– Also, ich muss Ihnen leider sagen, dass ich jetzt schon in Polen bin.
– In Polen? Sie haben doch gesagt, Sie würden in Kyjiw bleiben.
– Na ja. Aber die vielen Raketen und das Durcheinander, das war dann doch etwas Anderes als in Luhansk. Außerdem liegt Ihre Wohnung direkt gegenüber vom SBU. Alle Straßen rundum sind gesperrt. Da kommt man gar nicht ran. Überall stehen Scharfschützen. Das ist mir alles zu gefährlich.
Also sitzt Kiki allein zu Hause. Hätte ich nicht nachgefragt, wüsste ich davon gar nichts. Futter und Wasser würden noch ein paar Tage reichen. Aber dann? Niemand ist da, der sich um die Katze kümmern könnte. Den einen Schlüssel hat Wasja mitgenommen. Den anderen hat die Putzfrau entweder mitgenommen oder in ihrer Wohnung bei Kyjiw zurückgelassen.
Hätte ich mir nur nie diese Katze zugelegt, denke ich für einen Moment. Einen Hund hätte ich einfach mitnehmen können. Dabei hatte ich anfangs fest vor, mir einen Hund zu kaufen. Es wäre doch die richtige Entscheidung gewesen, denke ich voller Reue.
Den Entschluss, mir ein Haustier zuzulegen, traf ich, als die Corona-Epidemie die Stadt Kyjiw lahmlegte. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob Hund oder Katze. Also habe ich alle meine Freunde auf Facebook gefragt: Hund oder Katze. In die Diskussion haben sich alle möglichen Leute eingeschaltet, darunter selbst die ehemalige Finanzministerin Oksana Markarowa und der damalige Botschafter in Berlin. Es ging unentschieden aus, eine Hälfte plädierte für einen Hund, die andere zog eine Katze vor. Na gut, dachte ich, dann nehme ich einen Hund.
Zu Katzen hatte ich ohnehin ein belastetes Verhältnis. Wer auf dem Land, also unter Bauern, aufgewachsen ist, wird das nachvollziehen können. Da wird die Tierwelt sehr einfach eingeteilt. Zuerst kommen die Nutztiere und dann gibt es noch den Rest. Das ist ähnlich wie bei den Pflanzen. Da gibt es essbare und nützliche Früchte und Unkraut. Genauso teilt das Bewusstsein des Landmenschen die Tierwelt ein, in Nutztiere und Untiere. Wir hatten natürlich sowohl Katzen wie auch einen Hund. Aber viel wichtiger waren Hühner, Enten, Gänse, Schweine und Kühe. Sie hatten immer die eindeutige Priorität. Um die Katze hat sich keiner gekümmert. Sie hieß Sirka. Im Haus hatte sie nichts zu suchen, außer sie fing Mäuse. Das Essen wurde ihr draußen vor der Tür hingestellt. Ansonsten war sie ein Nichts, ein Untier. Solange die Katze Ratten und Mäuse gefangen hat, durfte sie bleiben.
Sirka war eine schwarzweiße Katze, keine Rasse, alles bunt gemischt. Sie hat ihre Arbeit ganz gut verrichtet und war fleißig und geschickt beim Mäusefangen. Aber sie hatte schon zehn Jahre auf dem Buckel. Dabei brachte sie immer wieder ganz brauchbaren Nachwuchs auf die Welt. In der ganzen Nachbarschaft waren ihre Nachkommen gefragt, weil sie sie gut erzogen hat, genau das zu tun, was sie auch konnte. Nämlich Mäuse fangen. Nichts anderes. Normalerweise geht man mit Katzenbabies auf dem Land ganz anders um. Was macht ein Bauer, wenn eine Katze Junge geworfen hat? Er gräbt ein Loch, wirft die Kätzchen hinein und macht es wieder zu. Das Verhältnis der Bauern zu den Tieren ist ganz auf den Nutzen ausgerichtet, nicht auf Freundschaft, Zuneigung oder Streicheleinheiten. Mit dieser Einstellung zu Tieren bin ich aufgewachsen.
Nun sollte es also ein Hund sein. Ich schaute mir einige Rassen an und entschied mich schließlich, mir einen Beagle zuzulegen. Die sehen cool aus. Ich fand eine Züchterin, die einen Rassehund mit Stammbaum und allem Drum und Dran für 1000 Euro anbot. Davon musste ich 100 Euro als Vorkasse überweisen. Kein Problem, ich zahlte sofort.
Am Tag bevor ich den Hund holen wollte, ging ich in den Rozetka-Laden bei mir um die Ecke. Rozetka ist so etwas wie das ukrainische Amazon. Sie hatten auf dem Maidan eine Filiale, und dort konnte man Sachen bestellen und abholen. Das war in der Corona-Zeit sehr gefragt. Wie ich in der Schlange stand, sah ich vor mir eine junge Frau mit einem Beagle.
– Was für ein schöner Hund! Ich bin gerade dabei, mir auch einen Beagle zuzulegen. Morgen hole ich ihn ab.
Sie schaute mich entgeistert an. Es gibt einen Charakterzug bei allen Ukrainern. Sie lassen sich zwar ungern beraten und hören schon gar nicht darauf, aber dafür geben sie unglaublich gerne selbst Ratschläge. Zu egal welchem Thema, sie wissen immer genauestens Bescheid und scheuen nicht davor zurück, ihre Ansichten zum Besten zu geben, gerne im Kommandoton. Gleich ob es um Fußball geht oder den Bodenmarkt, um Gesundheit oder Hunde.
– Wie, Sie wollen sich einen Beagle anschaffen? Sind Sie noch bei Trost? Auf keinen Fall.
Dabei stand sie mit ihrem Hund vor mir, der ganz brav an der Leine wartete und mich mit treuen Augen anschaute.
– Auf keinen Fall, nie im Leben.
Sie hörte gar nicht mehr damit auf, mir die Horrorerlebnisse mit ihrem Hund zu schildern.
– Das sind ganz selbstverliebte Biester. Und wenn, dann mögen sie nur eine Person, und niemanden sonst. Diese Hündin hier ist ganz verliebt in meinen Mann. Sie verachtet mich. Außerdem frisst sie alles an. Meine Chanel-Schuhe zum Beispiel. Stellen sie sich das nur vor, meine Chanel-Schuhe, die ich mir gerade in Paris gekauft habe, hat sie vollkommen zerbissen.
– Wirklich?
Ich habe meine Sachen von Rozetka abgeholt und dann die Nummer der Frau angerufen, die mir den Beagle verkaufen wollte.
– Entschuldigen Sie bitte. Ich werde den Hund morgen doch nicht abholen.
– Aber Sie haben doch schon die Anzahlung geleistet.
– Ja, tut mir leid. Ich habe es mir anders überlegt.
Gut, dachte ich, also muss ich mir eine bessere Rasse aussuchen. Nachdem ich mich ein wenig umgeschaut hatte, entschied ich mich für einen Rhodesian Ridgeback. Die sehen auch sehr gut aus, und außerdem gibt es in der Nähe von Kyjiw einen Hof, wo sie gezüchtet werden. Ich bestellte mir dort umgehend einen Hund. Am Abend vor dem Kauf hatte mich Simon, ein amerikanischer Freund, zum Essen eingeladen. Ich fuhr zu ihm nach Hause. Er hat einen Hund.
– Morgen hole ich mir auch einen Hund.
– Was für eine Sorte denn?
– Rhodesian Ridgeback.
Da sah er mich an, riss...
Erscheint lt. Verlag | 16.5.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Geschichte ► Regional- / Ländergeschichte |
Sozialwissenschaften ► Politik / Verwaltung | |
ISBN-10 | 3-406-81410-7 / 3406814107 |
ISBN-13 | 978-3-406-81410-5 / 9783406814105 |
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