Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik -

Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
283 Seiten
Narr Francke Attempto (Verlag)
978-3-7720-0252-6 (ISBN)
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Wenn auch marginalisiert, stellt literarische Mehrsprachigkeit keineswegs ein randständiges Phänomen der Literatur dar. Vielmehr lässt sie sich in verschiedensten Epochen aufspüren und sie manifestiert sich in vielfältigen sprachlich-ästhetischen Formen. Dabei eröffnen Sprachmischungen, Hybridisierungen und Neuformierungen ästhetische Zwischenräume sowie erweiterte Möglichkeiten der Deutung und Interpretation. Im Fokus dieses Bandes stehen Ästhetiken, Entwicklungen, Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit in Geschichte und Gegenwart, die auch hinsichtlich ihrer didaktischen Potenziale untersucht werden. Neben literaturwissenschaftlichen Perspektiven erörtern die Beiträge insbesondere literaturdidaktische Ansätze, die literarische Mehrsprachigkeit in poetischen Texten ins Zentrum stellen. Dabei werden verschiedene Formen des Inter-, Trans- oder Heterolingualen didaktisch reflektiert und/oder aus einer dominanzsprachkritischen Perspektive für den Literaturunterricht fruchtbar gemacht.

Dr. Nazli Hodaie ist Professorin für Deutsche Literatur und ihre Didaktik mit dem Schwerpunkt Heterogenität und Interkulturalität an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd. Dr. Heidi Rösch war bis zu ihrer Emeritierung 2020 Professorin für Interkulturelle Literaturwissenschaft und Literaturdidaktik am Institut für deutsche Sprache und Literatur der Pädagogischen Hochschule Karlsruhe. Lisa Treiber ist Lehrerin für das Lehramt an Grund-, Haupt- und Werkrealschulen und lehrt im Bereich Literaturdidaktik an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd.

Einleitung


Literarische Mehrsprachigkeit und ihre Didaktik

Nazli Hodaie, Heidi Rösch, Lisa Treiber

In literarischen Texten, so Robert Stockhammer, „ist sehr häufig mehr als ein Idiom im Spiel“ (2015: 147), wobei mehrsprachige Texte eher der Regel entsprechen, während Monolingualität die Ausnahme darstellt. Diese Feststellung gilt nicht nur für Texte der postkolonialen oder der (post)migrantischen Literatur, sondern auch und vor allem für „ältere Texte, die einige kanonische Geltung besitzen“ (ebd.).

Somit verkörpert literarische Mehrsprachigkeit keineswegs ein marginales Phänomen der Literatur, wohl jedoch ein marginalisiertes, eine Terra incognita, der innerhalb einer nationalphilologisch kartografierten Literatur wie der deutschen die Aura des Unreinen und des Nicht-Zuordenbaren anhaftete (siehe Kilchmann 2012: 14); und dies – zieht man den nationalphilologischen Diskurs mit seinem Drang zur Herstellung eindeutiger Zugehörigkeitsverhältnisse in Betracht – nicht unbegründet, denn die „heterolingualen Einschübe […] bilden […] einen Ort, an dem sich die ‚deutsche‘ Literatur immer schon fortschreibt von einer identitären Festlegung auf Nation oder Einsprachigkeit“ (Ette 2005: 181, zitiert nach Kilchmann 2012: 13). Mit literarischer Mehrsprachigkeit gehen zudem neue, andere sprachlich-ästhetische Formen einher, die sich u. a. in Hybridisierungen, Grenzüberschreitungen, Neologismen und Neuformierungen manifestieren und dabei ästhetische Zwischenräume sowie erweiterte Möglichkeiten der Deutung und Interpretation eröffnen. Somit ist ihr sowohl ein ästhetisches Potential als auch ein dominanzkritisches Moment immanent. Die Auseinandersetzung mit ihr sollte daher „im Spannungsfeld von literarischem Experiment und Kultur- bzw. Sprachkritik“ (ebd.: 12) erfolgen, sozusagen als genuin literarische Größe mit ästhetischem Anspruch, bei der „der Einsatz anderer Sprachen immer wieder [– sieht man vom Einbezug der Mehrsprachigkeit zur (Re-)Produktion von Dominanzverhältnissen ab –] die Vorstellung einer sprachlichen Einheit und damit die monolinguale Norm durchkreuzt“ (ebd.). Wird jedoch die Untersuchung literarischer Mehrsprachigkeit auf eine „germanistische Fremdwort-Bestimmung“ (ebd.: 12), womit Esther Kilchmann die an sich problematische Kategorisierung von Sprachen in fremd und eigen bezeichnet, reduziert, so wird der Effekt unterlaufen, den mehrsprachige literarische Texte in der Regel hervorrufen: diese „Trennungen zu hinterfragen und die Vorläufigkeit und Unzulänglichkeit von Kategorien wie Nationalsprache, natürliche versus künstliche Sprache zu bedenken zu geben“ (ebd.:12).

Blickt man nun auf den Umgang mit mehrsprachiger Literatur im Kontext des schulischen Literaturunterrichts bzw. des literaturdidaktischen Studiums, dominiert jedoch ebendiese reduktive Perspektive. Die Relevanz literarischer Mehrsprachigkeit für den didaktischen Kontext – sollte sie überhaupt thematisiert werden – resultiert weniger aus ihrem ästhetischen Potential als vielmehr aus einem differenzbasierten Paradigma, das als Antwort auf die schulische migrationsbedingte Heterogenität fremde Sprachen wertzuschätzen angibt und diese aus diesem Grunde auch in Lehr-Lern-Kontexten berücksichtigt wissen will (siehe Kunz 2018; Oomen-Welke 2010 u. a.). Dabei wird auf Kategorien zurückgegriffen, die eher einer binären Perspektive auf Sprache(n) Vorschub leisten, statt den Blick auf (sprachliche) Zwischenräume und die neu entstehenden Deutungsmöglichkeiten zu richten. Der große Anklang von parallel zwei- oder mehrsprachigen (Bilder-)Büchern, um nur ein Beispiel zu nennen, im didaktischen Kontext ist möglicherweise auf diesen Umstand zurückzuführen, erhalten diese doch die Vorstellung nationalsprachlicher Entitäten aufrecht und verleiten dementsprechend dazu, didaktisch zu kontrastiv angelegten Maßnahmen zu greifen. So dominant diese Perspektive auf Mehrsprachigkeit im deutschunterrichtlichen Kontext auch ist, darf sie nicht über weitere Zugänge hierzu hinwegtäuschen, denen ästhetische oder dominanz- und hegemoniekritische Perspektiven zugrunde liegen. Analog zur literaturwissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Mehrsprachigkeit lassen sich mit Blick auf Literaturdidaktik ebenfalls folgende drei Zugänge feststellen: 1. System- und/oder soziolinguistisch-sprachdidaktische Perspektiven, 2. kulturwissenschaftliche Perspektiven im Einklang mit den Cultural Studies und – in Ansätzen und eher am Rande – 3. ästhetische, poetologische und narratologische Perspektiven.

Bei Konzepten, denen die erstgenannte Perspektive zugrunde liegt, überwiegt die Übertragung linguistisch-sprachdidaktisch orientierter, meist (wenn auch nicht ausschließlich) kontrastiv angelegter, mehrsprachigkeitsdidaktischer Überlegungen auf die Mehrsprachigkeit in der Literatur (siehe Grimm 2017 u. a.).

Im Mittelpunkt kulturwissenschaftlich orientierter Zugänge steht meist die sog. Sprach(en)bewusstheit sowie Dekonstruktion und Dominanzkritik im literaturunterrichtlichen Kontext. Dies erfolgt z.B. im Zuge und mit dem Ziel der Reflexion und der sinnlichen Erfahrung sprachlicher Machtverhältnisse, migrationsgesellschaftlicher Mehrsprachigkeit und migrationsbedingter Sprachlernprozesse im imaginären Raum und in der Gesellschaft (siehe Filsinger/Bauer 2021; Nagy 2018). Als relevant erweist sich hierbei auch das Erkennen der literarischen Funktion innerer und äußerer Mehrsprachigkeit und die Dekonstruktion sprachlicher Zuschreibungen und Wahrnehmungen (siehe Kofer 2023; Wizany 2021) einerseits und/oder der sprachenpolitischen Funktion von Mehrsprachigkeit unter Rückgriff auf Postkoloniale Theorien (Othering, Hybridität, Zentrum und Peripherie; siehe Titelbach 2021) andererseits.

Beide Zugänge indes beziehen die Legitimation zur Didaktisierung literarischer Mehrsprachigkeit aus migrationsgesellschaftlichen Sprach(en)verhältnissen. Je nach paradigmatischer Verortung dominieren dabei Perspektiven, die die Sprach(en)vielfalt eher differenzorientiert oder eher dominanzkritisch didaktisieren.

Das hegemoniekritische, migrationsgesellschaftliche Mehrsprachigkeit in den Blick nehmende Konzept LitLA (Literature und Language Awareness) verbindet dies allerdings mit einer ästhetischen Perspektive auf literarische Mehrsprachigkeit als Gegenstand einer literatur- und sprach(en)bewussten Bildung (siehe Rösch 2021). Dennoch sind Konzepte, die die ästhetische Dimension literarischer Mehrsprachigkeit in den Mittelpunkt stellen und diese aus dieser Perspektive heraus auch didaktisieren, eher marginalisiert. In ihrem Umgang mit Mehrsprachigkeit in Literatur legen sie den Fokus teilweise auf Verfremdungen und Deautomatisierungen, (Sprach-)Komik und Sprachklang und/oder Sprachspiel (siehe Titelbach 2021) oder sie akzentuieren narratologische Zugänge (mehrsprachige Redeformen in Figurenrede bzw. Erzähler:innenbericht u. a.; siehe Rösch 2021). Literaturdidaktisch bisher nur am Rand berücksichtigt, eröffnen diese Perspektiven die Möglichkeit, literarische Mehrsprachigkeit im Kontext ästhetischer Bildung und damit im zentralen Aufgabenfeld der Literaturdidaktik zu verorten (für die oben genannte Systematisierung siehe Hodaie 2022, unveröffentlichtes Manuskript).

 

Vor dem Hintergrund vorangehender Überlegungen setzt sich der Sammelband mit literarischer Mehrsprachigkeit und ihrer Didaktik auseinander. Im Fokus stehen Ästhetiken, Entwicklungen, Formen und Funktionen literarischer Mehrsprachigkeit und deren Didaktisierung aus einer Perspektive heraus, die die Relevanz literarischer Mehrsprachigkeit als genuin literarische Größe und somit für die Entwicklung literarischer Kompetenz bedeutsam in den Blick nimmt. Wir orientieren uns daher an literaturdidaktischen Ansätzen, die literarische Mehrsprachigkeit in poetischen Werken ins Zentrum stellen, ihre verschiedenen Formen des Inter-, Trans- oder Heterolingualen didaktisch reflektieren und die im Werk vorhandene oder im Umgang damit zu realisierende dominanzsprachkritische Perspektive literaturdidaktisch gestalten.

Die Beiträge des Sammelbands liefern neben kritisch-theoretischen und textanalytischen auch produktive und rezeptive Zugänge. Diese sind postmigrantisch, macht- und linguizismuskritisch akzentuiert. Berücksichtigt werden unterschiedliche Gattungen und Genres, literaturhistorische Aspekte sowie Rezeptionssettings im Umgang mit literarischer Mehrsprachigkeit.

Kritisch-theoretische Zugänge liefert zum einen der Beitrag von Esther Kilchmann, die zur Theorie literarischer Mehrsprachigkeit einen strukturalistischen und poststrukturalistischen Lektüreansatz vorstellt: Auf der Grundlage von Saussures Zeichentheorie beschäftigt sie sich mit sprachkritischen Fragen der Generierung von Bedeutung und der Beziehung von Wort und Ding sowie einer poetischen, mehrsprachigen und mehrdeutigen Umgestaltung der lautbildlichen Seite des Zeichens. Literarische Mehrsprachigkeit versteht sie als poetisch selbstreflexives Verfahren, in dem die Besitzbarkeit von Sprache sowie die Festschreibung von Bedeutung aufgebrochen und „Knotenpunkte der Mehrdeutigkeit wie der kulturellen Mehrfachzugehörigkeit geschaffen“ werden.

Zum zweiten entfaltet Magdalena Kißling Verbindungslinien zwischen postkolonialer Literaturdidaktik und einer Didaktik literarischer Mehrsprachigkeit: Ausgehend vom Umgang mit einem rassistischen Sprachgebrauch, der zu einer sprachlichen Desorientierung im Literaturunterricht führen kann, plädiert sie dafür, rassistische Sprache als...

Erscheint lt. Verlag 13.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft
ISBN-10 3-7720-0252-8 / 3772002528
ISBN-13 978-3-7720-0252-6 / 9783772002526
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