Schule des Südens (eBook)

Die kolonialen Wurzeln der französischen Theorie

(Autor)

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2024 | 1. Auflage
335 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-2051-6 (ISBN)

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Schule des Südens -  Onur Erdur
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In seiner Ideengeschichte in acht Porträts erschließt Onur Erdur eine neue Geografie des französischen Denkens, das die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts prägte: Die Theorien von Intellektuellen wie Michel Foucault, Jean-François Lyotard und Hélène Cixous wurden maßgeblich in Nordafrika oder in der Auseinandersetzung mit den französischen Kolonien geformt. Erdurs Spurensuche führt ihn nach Algier, wo der junge Soldat Pierre Bourdieu mitten im Algerienkrieg seinen Wehrdienst ableistet; ins Küstendörfchen Sidi Bou Saïd nördlich von Tunis, wo Michel Foucault zwischen Sonnenbaden, Strandspaziergängen und ritualisierter Körperkultur zu einer Haltung des philosophischen Hedonismus gelangt; oder nach Casablanca, wo sich Roland Barthes in einer Art Erleuchtung zu einem Romancier fantasiert - und zu Jacques Derrida, Hélène Cixous oder Jacques Rancière, die ihre algerische Herkunft philosophisch reflektieren. Onur Erdurs kenntnisreiche Perspektive taucht die französisch geprägte Postmoderne ins Licht der Sonne Nordafrikas. Ein halbes Jahrhundert nach der Veröffentlichung der Hauptwerke des Poststrukturalismus blickt Schule des Südens unter das Pflaster der französischen Akademie - darunter glänzt der Strand von Tunis.

Onur Erdur, 1984 in Diyarbakir geboren, ist Historiker und Kulturwissenschaftler. Er forscht und lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin zu Fragen der globalen Ideengeschichte.

Onur Erdur, 1984 in Diyarbakir geboren, ist Historiker und Kulturwissenschaftler. Er forscht und lehrt an der Humboldt-Universität zu Berlin zu Fragen der globalen Ideengeschichte.

Einleitung: Im Süden der Theorie


Algier, 1955: Er hätte seinen Militärdienst einfach irgendwo in der französischen Provinz absitzen können. Stattdessen begibt sich der junge Philosoph Pierre Bourdieu auf ein Schiff, das ihn nach Algerien bringt. Was er in dem Kriegsland sieht, erschüttert ihn: eine von den Franzosen in Lager gesperrte, entwurzelte algerische Gesellschaft. Seine eigene Situation und Präsenz vor Ort empfindet er als ein moralisches Problem, als »Ursünde des Intellektuellen aus dem Lande der Kolonialherren«.1 Er beschließt, nach dem Wehrdienst im Land zu bleiben, will inmitten des Algerienkriegs etwas Nützliches tun und beginnt mit soziologischen Forschungen, um Zeugnis von der ihn umgebenden Ungerechtigkeit abzulegen. Die algerischen Erfahrungen werden Bourdieus gesamtes wissenschaftliches Werk prägen. In Algerien keimt seine berühmte Theorie des Habitus auf.

Paris, 1957: Im Gegensatz zu den meisten Linksintellektuellen seiner Generation, die den algerischen Unabhängigkeitskampf unterstützen, entzieht sich der in Algerien geborene Albert Camus mittlerweile der deutlichen Parteinahme. Sein vermittelndes Eintreten für ein friedliches Zusammenleben von Franzosen und Algeriern wurde zuvor als liberal verunglimpft. Eingespannt zwischen dem Kolonialismus der Rechten, dem Antikolonialismus der Linken und dem Terror des FLN, entscheidet er sich bewusst fürs Schweigen. In Schweden, zwei Tage nach der Verleihung des Literaturnobelpreises, wird Camus bei einem Treffen mit Studierenden wegen dieses Schweigens zur Rede gestellt. Im Eifer des Gefechts antwortet er: »Ich habe den Terror immer verurteilt. Ich muß auch einen Terrorismus verurteilen, der, beispielsweise in den Straßen Algiers, blind wütet und eines Tages auch meine Mutter oder meine Familie treffen kann. Ich glaube an die Gerechtigkeit, aber bevor ich die Gerechtigkeit verteidige, werde ich meine Mutter verteidigen.«2 Man wird Camus, dem Moralisten, diese Sätze lange nicht verzeihen.

Tunis, 1968: Seit zwei Jahren lebt Michel Foucault nun schon in dem malerischen Küstendörfchen Sidi Bou Saïd. Es ist ein magischer Ort für ihn. Auf einem seiner Strandspaziergänge kommt ihm die lang ersehnte Definition des Diskursbegriffs, später auch die Idee von »den anderen Räumen«. Tunesien scheint generell eine inspirierende Kulisse zu sein: Bei einem seiner früheren Aufenthalte kam Foucault am Strand von Djerba (im Club Méditerranée) auf den berühmten Satz aus Die Ordnung der Dinge, »daß der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Gesicht im Sand«.3 Foucault lehrt Philosophie an der Universität von Tunis, ist aber vor allem mit sich selbst beschäftigt. Er nimmt sich vor, jeden Tag etwas sportlicher und sonnengebräunter zu werden. Gegenüber der Presse de Tunisie sagt er: »Ich bin wegen des mythischen Bildes gekommen, das alle Europäer sich gerade von Tunesien machen: Sonne, Meer, die große Trockenheit Afrikas.«4 Zu den neokolonialen Lebensbedingungen in dem seit rund zehn Jahren unabhängigen Land und überhaupt zur blutigen französischen Kolonialherrschaft in Nordafrika wird sich Foucault zeit seines Lebens nicht ein einziges Mal äußern.

Die drei Szenen könnten unterschiedlicher nicht sein. Sie handeln von drei Intellektuellen, die an drei verschiedenen Orten und in drei unterschiedlichen Lebenslagen je eigene Erfahrungen sammelten und Entscheidungen trafen. Bei all den Unterschieden sind den Szenen aber bestimmte Dinge gemeinsam, denen im Folgenden mein Interesse gilt. Im Mittelpunkt steht die persönliche Konfrontation französischer Intellektueller mit kolonialen Räumen und Situationen. Was für Bourdieu, Camus und Foucault gilt, gilt auch für viele weitere führende französische Philosophen und Intellektuelle der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Sie weisen alle einen »kolonialen Hintergrund« auf. Viele unter ihnen stammen direkt aus französischen Kolonien: So sind neben Camus beispielsweise Louis Althusser, Hélène Cixous, Jacques Derrida und Jacques Rancière in Algerien geboren, während Marguerite Duras in Französisch-Indochina zur Welt kam und Alain Badiou in Marokko. Andere wiederum hielten sich im Laufe ihres Lebens längere Zeit und aus unterschiedlichsten Gründen in den Kolonien oder deren Nachfolgestaaten auf – darunter etwa Roland Barthes in Marokko, Bruno Latour in der Elfenbeinküste sowie Étienne Balibar, Simone de Beauvoir oder Jean-François Lyotard in Algerien. Man könnte dieser Liste mühelos weitere prominente Namen und Orte hinzufügen. Der Grundtenor bliebe derselbe: Der Kolonialismus war für sie alle eine unbestreitbare biographische Realität. Die Frage ist nur, warum dieses doch sehr erstaunliche koloniale Setting des französischen Denkens so lange unbeachtet blieb.

Dieses Buch ist eine Erkundungsreise in den Süden der französischen Theorie. Fast alle Protagonisten verbanden mit ihren Aufenthalten in den Kolonien und Postkolonien befreiende wie auch traumatische Schlüsselereignisse, die ihre persönlichen Lebenswege, ihre politischen Einstellungen und ihre theoretischen Werke maßgeblich bestimmten. Um das Ausmaß dieser Prägungen zu ermessen, gilt es, ihnen zu den konkreten Schauplätzen der Geschichte zu folgen – in die koloniale Zeit, in den Algerienkrieg, in die ehemaligen Protektorate Marokko und Tunesien, ins unabhängige Algerien, aber auch immer wieder zurück nach Paris, in die Metropole des Empires und der Intellektuellen.5 Es bedarf einer Spurensuche: Wie kamen die Intellektuellen in diese kolonialen Situationen? Was trieb sie an? Wie verhielten sie sich dort? Und vor allem: Wie schlugen sich die räumlichen Erfahrungen des Kolonialen in ihren wissenschaftlichen Werken und theoretischen Konzeptionen nieder? Mich interessiert die Frage nach dem Konnex von Erfahrung und Theorie: Wie lässt sich das menschlich Erfahrene so nah an das Geistig-Theoretische heranrücken, dass man das eine in das andere hinübergleiten sieht? Wie entsteht Theorie? Wie keine andere Strömung des 20. Jahrhunderts bildete gerade die französische Theorie einen Denkstil aus, der gegen die Identität und für die Differenz, gegen das Zentrum und für die Peripherie, gegen das Hegemoniale und fürs Minoritäre eintrat. Dieses Buch verfolgt, wie dieser Denkstil nicht etwa in Pariser Bibliotheken, sondern am Strand von Tunis und in den Straßen Algiers entstanden ist.

Darüber hinaus geht es mir um die in den drei Szenen aufblitzenden Fragen der Moral und der Gerechtigkeit, um die Verantwortung von Intellektuellen in Zeiten des Kolonialismus. Wir haben es mit klassischen Versuchsanordnungen intellektueller Selbstprofilierung und moralischer Prüfung zu tun. Spätestens seit Émile Zola sind Intellektuelle stets Exponenten von Moral, auch in ruhigen Zeiten. Was geschieht aber mit ihren öffentlichen Überzeugungen, wenn sie mit der kolonialen Wirklichkeit konfrontiert werden? Ganz gleich, ob die Intellektuellen die Begegnungen suchten oder nicht, ob sie sich in den Kolonien oder in der Metropole aufhielten, ob sie sofort oder erst dreißig Jahre später Stellung bezogen, ob sie der Generation »Sartre« oder der Generation »Foucault« angehörten – sie alle waren auf die eine oder andere Art mit der moralischen Frage konfrontiert, wie sie sich zum politischen und kulturellen Unrecht des Kolonialismus verhalten sollten, wo sie doch zugleich Repräsentanten des französischen Staats, des Militärs, des Bildungssystems oder der europäischen Kolonialbevölkerung waren. Dieses Motiv des kolonialen Dilemmas zieht sich wie ein roter Faden durch die Auseinandersetzungen der Intellektuellen. Manche schritten zur Tat, manche rangen mit sich, andere schwiegen lieber, aber sie alle versuchten, eine Haltung zu finden. Wenn man so will, dann sind ihre je spezifischen Umgangsweisen mit der kolonialen Frage nichts anderes als Variationen auf dieses eine Leitmotiv von Schuld und Sühne. Wie sie im Einzelnen damit umgingen und was daraus folgte – auch darum geht es in diesem Buch. Man könnte von einer Tugendlehre des Geistes im Angesicht des kolonialen Unrechts sprechen.

Um die Grundannahmen und Thesen dieses Buches klar zu benennen: Ich bin der Überzeugung, dass die Entstehung von Theorien (und generell das Abenteuer des Denkens) untrennbar verbunden ist mit der erlebten Erfahrung ihrer Urheberinnen und Urheber. Damit will ich nicht sagen, dass Theorie und Denken auf biographische Lebensgeschichten reduzierbar seien oder dass Denkerinnen und Denker mechanisch durch soziale und politische Umstände determiniert wären. Aber klar ist auch: Theorie entsteht nicht in einem abstrakten und luftleeren Raum, sondern immer in lokalen, historischen und individuell erfassten sozialen Kontexten. Als Zeugen und Akteure ihrer Zeit erfassen und gestalten Intellektuelle die sie umgebende Welt, aber genauso stark sind sie in die Geschichte ihrer Gesellschaften involviert und werden dabei von dieser durchdrungen. Das Besondere...

Erscheint lt. Verlag 2.5.2024
Verlagsort Berlin
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie
Schlagworte 20. Jahrhundert • cancel culture • Dekolonisierung • Dekonstruktion • Derrida • Französische Philosophie • French Theory • Helene Cixous • Kolonialgeschichte • Kolonialismus • Kolonialkriege • Lyotard • Michel Foucault • Poststrukturalismus • Theoriegeschichte • Wokeness
ISBN-10 3-7518-2051-5 / 3751820515
ISBN-13 978-3-7518-2051-6 / 9783751820516
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