Alle Kinder dieser Welt sind unsere Kinder -  Hanjo Sauer

Alle Kinder dieser Welt sind unsere Kinder (eBook)

Begegnung mit Hermann Gmeiner

(Autor)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
280 Seiten
Echter Verlag
978-3-429-06656-7 (ISBN)
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1949 gründete Hermann Gmeiner in Imst im österreichischen Tirol das erste SOS-Kinderdorf. Waren es in dieser Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg an­fangs in einem nicht unerheblichen Umfang Waisenkinder, die in einem SOS-Kinderdorf lebten, sind es heute meist Kinder und Jugendli­che aus schwierigen Familienverhältnis­sen, die Unterstützung und Förde­rung erfahren. Heute gibt es weltweit in 138 Ländern Kinderdörfer, Jugendwohnge­meinschaften, Schulen, Berufsausbildungszentren und familienstärkende Angebote. Hanjo Sauer hat seit seiner Begegnung mit Hermann Gmeiner über mehrere Jahrzehnte hauptamtlich und ehrenamtlich in unterschiedlichen Funktionen die Entwicklung der SOS-Kinderdörfer begleitet. Hier beschreibt er seine Erfahrungen.

Hanjo Sauer ist emeritierter Prof. für Fundamentaltheologie an der Katholischen Universität Linz.

2)Bereit für das neue Projekt


Die Entscheidung war also gefallen. Ich würde in den nächsten Jahren im Rahmen von SOS-Kinderdorf International tätig sein. Die Begeisterung war groß, auch wenn mir mein nüchterner Verstand sagte, dass vieles noch geklärt werden müsse. Es war zu erwarten, dass es aus den Reihen der Führungsmannschaft von Gmeiner erhebliche Widerstände geben werde. Schließlich hatte Gmeiner mit meiner Anstellung eine Personalentscheidung getroffen, die über alle Köpfe hinweggegangen war. Auch wenn Gmeiners engster Kreis wusste, dass von seiner Seite immer mit solchen Alleingängen zu rechnen war, so gab es als Reaktion zwar keinen offenen Protest, jedoch einen zähen passiven Widerstand. Tatsächlich hat es Jahre gedauert, bis ich mir von allen engen Mitarbeiter:innen Gmeiners so viel Vertrauen erworben hatte, dass eine reibungslose Zusammenarbeit garantiert war. Glücklicherweise wurden durch Personalentscheidungen dieser Art die Kompetenzbereiche, die sich die Mitglieder der Führungsmannschaft Gmeiners in vielen Jahren – meist oft nach zähem Ringen – erkämpft hatten, nicht unmittelbar eingeschränkt. Dennoch gab es ein nicht ganz unbegründetes Misstrauen, dass Gmeiner sein Interesse (und sein Vertrauen) auf neue Leute setzte und die Folgen einer neuen Machtverteilung im internationalen Bereich nicht absehbar waren. Alle diese Überlegungen standen nach der Entscheidung für Hermann Gmeiner bei mir nicht im Vordergrund. Zunächst galt es ja erst einmal, den Mitarbeiterstab kennen zu lernen. Das pflegte Gmeiner höchst unbürokratisch zu tun. Statt mir ein Organigramm in die Hand zu drücken oder mir die Strukturen des Vereins bzw. der Vereine zu erklären, lud er mich einfach nach Caldonazzo ein. Caldonazzo im Trentino sollte bald zum Mythos werden. Dort befand sich das große Ferienlager der SOS-Kinderdörfer, in das in den besten Zeiten im Sommer über 1000 Kinder und Jugendliche kamen und dort ihre Ferien verbrachten. Alle SOS-Kinderdörfer in Mitteleuropa, vor allem aus Österreich, Deutschland und Italien, hatten die Möglichkeit, mit einer Gruppe von Kindern und Jugendlichen anzureisen. Der Ort, direkt am Caldonazzo-See, bot außer dem Baden eine Reihe großartiger Freizeitaktivitäten, angefangen von mehrtägigen Bergtouren bis hin zu vielen Sportmöglichkeiten. Gmeiner war gerne dort und hatte die Angewohnheit, im August an ein paar von ihm festgelegten Tagen „Hof zu halten“. Das heißt, seine engsten Mitarbeiter:innen kamen zu Besuch, meist um selbst ein paar Tage Ferien zu machen, und standen in dieser Zeit zu Beratungen, bei denen zum Teil wichtige Entscheidungen getroffen wurden, zur Verfügung. Gmeiner liebte es, sich nicht dem strengen Sitzungsprotokoll mit einer genauen Tagesordnung und fest vereinbarten Zeiten zu unterwerfen, sondern sehr informell zu konferieren und Meinungsbildung zu betreiben. Meist musste das, was in Caldonazzo besprochen (und faktisch auch schon entschieden) worden war, später in den zuständigen Gremien nochmals auf die Tagesordnung gesetzt, nach den vorgegebenen Regeln behandelt und offiziell abgesegnet werden. Doch meist hatte Gmeiner eine so große Autorität, dass man sich nicht gegen das stellte, was er wollte und für sich auch schon entschieden hatte. Selbstverständlich war dies jedoch nicht. Vom Hörensagen weiß ich von einzelnen Fällen, dass Gmeiner von den Gremien mächtiger Vereine auch wieder dazu bewegt wurde, zurückzurudern und seine Entscheidung zu überdenken oder zu revidieren. Das alles erschloss sich mir erst im Laufe der Zeit. Zunächst erlebte ich, wie mich Gmeiner in der großen Runde seinen Getreuen vorstellte und erklärte, dass es meine Aufgabe sei, für die internationale Arbeit, die sich mit großer Dynamik entwickelte, Projektleiter:innen zu finden, auszubilden und bei ihrer Arbeit zu betreuen. Es wäre naheliegend gewesen, wenn jemand nachgefragt hätte, welche fachliche Kompetenz ich denn für diese Aufgabe mitbringen würde. Doch niemand hat nachgefragt. Gmeiner hatte in diesem Kreis so großes Vertrauen, dass man wohl der Auffassung war, er würde schon wissen, was er mache, und seine guten Gründe für diese Personalentscheidung haben. Man könnte sich natürlich auch wundern, warum sich Gmeiner nicht selbst gefragt hat, ob ich denn diese Aufgabe überhaupt erfüllen könne. Immerhin war ich ein kompletter Neueinsteiger und brachte weder eine Erfahrung im Fach der Pädagogik noch im Personalmanagement mit. Doch Gmeiner setzte offensichtlich so viel Vertrauen in mich, dass er der Überzeugung war, ich würde mir das notwendige Wissen schnellstmöglich aneignen. Tatsächlich halte ich dieses Vertrauen für die stärkste Motivation für einen engagierten Einsatz, der auch andere überzeugen kann.

Ich hatte später in Innsbruck tatsächlich daran gedacht, außer meiner Promotion in systematischer Theologie auch eine Promotion in Erziehungswissenschaft zu machen. In den notwendigen Vorgesprächen an der Universität war man daran interessiert, über mich an empirisches Material des SOS-Kinderdorf-Vereins heranzukommen. In meiner Position sollte das kein Problem sein. Begonnen habe ich dieses Studium mit großem Interesse. Der Gedanke, nach dem weitgehend spekulativen Arbeiten, mit dem ich es in der Theologie zu tun hatte, einmal handfestes empirisches Material bearbeiten zu können, hat mich durchaus fasziniert. Tatsächlich lag es regelrecht in der Luft, die hochfliegende systematische Theologie mit den harten, empirisch erhobenen Fakten zu konfrontieren. Besonders die Pastoraltheologie war dafür prädestiniert und als einer der Ersten begann in Wien Paul Zulehner sich dieser Herausforderung zu stellen. Hier hoffte ich, mir beim Studium der Erziehungswissenschaft die notwendige Kompetenz aneignen zu können. Doch nach dem Besuch einiger Wochen von Vorlesungen an der erziehungswissenschaftlichen Fakultät in Innsbruck trat große Ernüchterung ein und ich spürte bald, dass hier auch nur mit Wasser gekocht wurde, um es behutsam auszudrücken. Der weitere Lauf der Dinge hat mir zudem keine Zeit mehr zu einem Studium nebenbei gelassen, noch war ich daran sonderlich interessiert. Tatsächlich habe ich ein erziehungswissenschaftliches Studium in den kommenden Jahren selbst nicht gebraucht. Im SOS-Kinderdorf-Verein sowohl in Österreich als auch in Deutschland gab es genug Fachleute, die ihre Expertise einbringen konnten. Zudem hatte ich viel mehr mit Managementfragen zu tun als mit Fachfragen der Pädagogik.

Die kommenden Monate seit meiner ersten Begegnung mit Gmeiner bis zur Vorstellung in Caldonazzo habe ich gründlich dazu genutzt, mich damit vertraut zu machen, was SOS-Kinderdorf bedeutet: in der Theorie und in der Praxis. Gelesen habe ich alles, was ich in die Finger bekam. Das waren zuerst die Bücher des Generalsekretärs Hansheinz Reinprecht. Auch wenn ich darin manches Informative, insbesondere über die Biografie Hermann Gmeiners, fand, kostete es mich doch einige Überwindung, mich auf Reinprechts Hofberichterstattung und seine Propaganda einzulassen. Reinprecht hat dies in der persönlichen Begegnung von Anfang an gespürt und mir unterstellt, ich würde zu Gmeiners Werk in großer Distanz stehen, mit anderen Worten, ich sei zu wenig begeisterungsfähig. Mich störte umgekehrt das völlige Desinteresse an historisch-kritischer Betrachtungsweise. Hier wurden Geschichten erzählt, und je öfter sie erzählt wurden, desto legendärer wurde alles, sodass am Ende praktisch niemand mehr sagen konnte, wie sich die Dinge in aller Nüchternheit abgespielt hatten.

Viel interessanter als die wenig aussagekräftige Lektüre durchzusehen, waren jedoch die persönlichen Begegnungen. Ich nutzte alle Gelegenheiten, die sich boten, um möglichst viele der Getreuen Gmeiners, möglichst noch aus der frühen Zeit des Aufbaus, kennenzulernen. Das war ungeheuer spannend! Nahezu alle dieser Mitarbeiter:innen Gmeiners haben mich mit offenen Armen empfangen, haben mir ihre Geschichte erzählt und waren bereit, meine Fragen ausführlich und ehrlich zu beantworten. Wenn man mich später gefragt hat, was mir am SOS-Kinderdorf-Verein besonders gefällt, dann habe ich immer geantwortet: die vielen, so unterschiedlichen, aber ähnlich engagierten Menschen, denen ich begegnet bin. So ist der SOS-Kinderdorf-Verein für mich ein großes Bild, das aus sehr unterschiedlichen Gesichtern besteht. Hinter jedem Gesicht steht eine eigene Lebensgeschichte, steht eine unverwechselbare Persönlichkeit – ganz gleich ob es sich um Menschen in Führungspositionen handelt oder um solche, die mit den unterschiedlichsten Aufgaben betraut sind oder ob es sich um Kinder und Jugendliche handelt, die betreut werden und unserer Verantwortung überantwortet sind. Es liegt in der Natur der Sache, dass Gremienmitglieder wenig Kontakt zu den Betreuten haben. Ganz lebendig ist mir das Statement einer Kinderdorfmutter bei einer Tagung in der Hermann-Gmeiner-Akademie in Innsbruck in Erinnerung, die uns Gremienmitgliedern an den Kopf warf: „Sie haben doch überhaupt keine Ahnung von der Basis. Kennen Sie denn ein einziges Kind aus dem Kinderdorf persönlich?“ Dieser Affront hat gesessen und ich war entschlossen, diesen Vorwurf nicht...

Erscheint lt. Verlag 1.5.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Christentum
ISBN-10 3-429-06656-5 / 3429066565
ISBN-13 978-3-429-06656-7 / 9783429066567
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