Antisemitismus, Pogrome und Judenfreunde im russischen Zarenreich -

Antisemitismus, Pogrome und Judenfreunde im russischen Zarenreich (eBook)

Quellentexte und Forschungen aus den Jahren 1877-1927

Peter Bürger (Herausgeber)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
532 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-1610-1 (ISBN)
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Dargeboten wird hier ein umfangreiches Lese-Werk über "Antisemitismus, Pogrome und Judenfreunde im russischen Zarenreich" mit historischen Quellentexten und Forschungen aus den Jahren 1877-1927. Es ist konzipiert als Ergänzung zu einem ebenfalls in der Tolstoi-Friedensbibliothek erscheinenden Band "Leo N. Tolstoi: Begegnung mit dem Judentum" (TFb_B013). Die Auswahl ermöglicht Zugänge zu den Standorten des Dichters Fjodor M. Dostojewski und des Religionsphilosophen Wladimir Solowioff. Die beiden Männer nehmen gegensätzliche Haltungen zur sogenannten Judenfrage ein. In den frühen 1880er Jahren kommt es zu einer ersten Folge von Pogromen mit Dutzenden Mordopfern. Hierauf reagieren mehrere russische "Autoritäten" mit Stellungnahmen zugunsten der Juden. Diese Voten sind entnommen einer Dokumentation, die zunächst in Russland nicht erscheinen konnte. Vier weitere Quellentexte beziehen sich auf die zweite antijüdische Pogromwelle 1903 bis 1906 mit bis zu 2000 Toten und zahllosen Verwundeten. Vollständig dargeboten wird das Buch "Der Antisemitismus in Russland" des Grafen Iwan Iwanowitsch Tolstoi aus dem Jahr 1907. Nach der Revolution von 1905 legt hier ein entfernter Verwandter des Dichters L.N. Tolstoi, der 1905/06 als Minister für Volksbildung der Regierung angehört hat, sein Plädoyer für die vollständige Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung des russischen Kaiserreiches vor. Die Aufhebung aller diskriminierenden Gesetze lässt sich indessen erst Anfang 1917 nach Abdankung des Zaren verwirklichen. Die Massaker der rechten - nationalistischen und antibolschewistischen - Waffenträger im Bürgerkrieg mit Morden an hunderttausend oder mehr Juden in den Jahren 1918-1921 sind nicht mehr Thema des vorliegenden Buches. Sie fallen in die Zeit nach Leo Tolstois Tod und dem Ende der zaristischen Autokratie. Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe D, Band 2 (Signatur TFb_D002) Herausgegeben von Peter Bürger

I.
Die Judenfrage


(Aus dem ‚Tagebuch eines Schriftstellers‘, zuerst veröffentlicht im März 1877)6

Fjodor Michailowitsch Dostojewski

VORBEMERKUNGEN


Oh, bitte nur nicht zu glauben, ich beabsichtigte hier wirklich die „Judenfrage“ auszuwerfen! Diese Überschrift habe ich nur zum Scherz geschrieben. Ein Problem von der Größe, wie es die Stellung der Juden in Rußland und anderseits die Lage Rußlands ist, das unter seinen Söhnen drei Millionen Juden zählt, – solch ein Problem zu lösen, geht über meine Kraft. Wohl aber kann ich darüber eine eigene Meinung haben, und zudem hat es sich jetzt herausgestellt, daß viele Juden sich plötzlich für diese Meinung interessieren. Seit einiger Zeit schreiben sie mir Briefe, in denen sie mir ernst, bitter und betrübt vorwerfen, ich fiele über sie her, ich haßte den Juden, und zwar nicht wegen seiner „Mängel“, ,,nicht als Exploiteur“, sondern gerade als „Juden“, als Volk, also etwa in dem Sinne, wie: „Judas hat Christus verkauft“. Das schreiben mir „gebildete“ Juden, d. h. solche, die sich immer bemühen, einem zu verstehn zu geben, daß sie bei ihrer Bildung schon längst nicht mehr weder die „Vorurteile“ ihrer Nation teilen, noch ihre religiösen Gebräuche erfüllen, wie die anderen, einfachen Juden, denn sie hielten dieses für ihrer Bildung unwürdig. „Und auch an Gott glauben wir natürlich nicht mehr“, schreiben sie mir. Dazu will ich vorläufig nur bemerken, daß es von diesen „höheren Israeliten“, die sonst so für ihre Nation einstehn, einfach Sünde ist, ihren bereits vierzig Jahrhunderte lebenden Jehovah zu vergessen und zu verleugnen. Es ist nicht nur aus dem Gefühl der Nationalität heraus Sünde, sondern auch noch aus anderen, tieferen Gründen. Ist es nicht sonderbar, daß man sich einen Juden ohne Gott gar nicht denken kann? Doch dieses Thema gehört schon zu den ganz großen, daher müssen wir von ihm hier vorläufig absehn. Am meisten wundert mich eines: wie und woher kommt es, daß man mich für einen Feind der Juden, als Volk, als Nation, ja, für einen Judenhasser hält? Den Juden als Exploiteur und für einzelne seiner Laster zu verurteilen, wird nur teilweise so-gar von diesen Herren selbst erlaubt, aber … aber nur in Worten: in Wirklichkeit kann man jedoch schwerlich einen reizbareren und kleinlicheren Menschen, als den gebildeten Israeliten, finden, einen, der sich leichter gekränkt fühlt als ein Jude als „Jude“. Doch wann und wodurch habe ich Haß auf die Juden, als Volk, bewiesen? Da ich in meinem Herzen nie so etwas gefühlt habe und alle Juden, mit denen ich in engere oder auch nur flüchtige Berührung gekommen bin, dieses wissen, so weise ich ein für allemal solch eine Beschuldigung, noch bevor ich auf die Judenfrage näher eingehe, von mir ab, um es später nicht immer wieder tun zu müssen. Beschuldigt man mich vielleicht deswegen des „Hasses“, weil ich anstatt ,,Israelit“ „Jude“ sage? Erstens habe ich nicht geglaubt, daß dieser Name kränken könnte, und zweitens habe ich mich seiner, soweit ich mich erinnere, immer nur zur Bezeichnung einer bestimmten Idee bedient: ,,Judentum, verjudet, jüdisch“ u. ä. Es hat sich daher stets um einen gewissen Begriff, eine besondere Richtung, um die Charakteristik irgend einer Epoche gehandelt. Man könnte wohl über diese Bezeichnung streiten, mit ihr nicht übereinstimmen, aber man kann nicht das Wort als beabsichtigte Kränkung auffassen.

Ich erlaube mir, einen Auszug aus dem sehr schönen Schreiben eines äußerst gebildeten Israeliten anzuführen, denn es hat mich ungemein interessiert: es enthält eine der charakteristischsten Anschuldigungen, die gegen mich in Betreff meines ,,Hasses auf die Juden als Volk“ erhoben worden sind.

… nur Eines kann ich mir entschieden nicht erklären: das ist Ihr Haß auf den „Juden“, der fast in jedem Heft Ihres „Tagebuches“ durchbricht.

Ich möchte gerne wissen, warum Sie sich nur gegen den Juden auflehnen und nicht gegen den Exploiteur im allgemeinen? Ich verabscheue nicht weniger als Sie die Vorurteile meiner Nation – ich habe nicht wenig unter ihnen gelitten –, doch niemals werde ich zugeben, daß im Blute dieser Nation gewissenloses Aussaugen der anderen liege.

Sollten Sie denn wirklich nicht das Grundgesetz jedes sozialen Lebens verstehen können: daß ohne Ausnahme alle Bürger eines Staates, wenn sie nur alle Pflichten ihm gegenüber erfüllen, auch an allen Rechten und an allen Vorteilen, die dieser Staat gewährt, Anteil haben müssen und daß für die Übertreter des Gesetzes, für die schädlichen Mitglieder der Gesellschaft ein und dasselbe Gesetz gelten muß? … Warum müssen alle Israeliten in den Rechten beschränkt werden und warum müssen sie spezielle Strafgesetze haben? Wodurch ist die Exploitation der Ausländer – die Juden sind doch immerhin russische Untertanen –: der Deutschen, Engländer, Griechen, deren es in Russland so unzählige gibt, wo-durch ist die besser, als die jüdische Exploitation? Wodurch sind die russischen rechtgläubigen Aufkäufer, Blutsauger, Schmarotzer, Branntweinverkäufer, die betrügerischen Prozeßführer für die Bauern, wie wir sie jetzt überall in Rußland finden können, besser, als dasselbe Handwerk betreibende Juden, die doch immer nur ein begrenztes Feld der Tätigkeit haben? Warum ist dieser schlechter wie jener?

Es folgt ein Vergleich zwischen bekannten berüchtigten Juden mit ähnlich berüchtigten Russen, natürlich solchen, die ersteren in nichts nachgeben. Was beweist das aber? Wir sind doch nicht stolz auf sie, heben sie doch nicht als nachahmenswerte Beispiele hervor; im Gegenteil, wir wissen ja alle, daß diese, wie jene, nicht ehrenwert sind.

… Solche Fragen konnte ich Ihnen zu Tausenden stellen. Währenddessen verstehen Sie, wenn Sie vom ,,Juden“ sprechen, unter diesem Begriff die ganze bettelarme Masse der drei Millionen Israeliten Rußlands, von denen wenigstens zwei Millionen neunhunderttausend einen verzweifelten Kampf um ihre elende Existenz führen und doch sittlich reiner leben nicht nur als die anderen Völker, sondern auch als das von Ihnen vergötterte russische Volk. Ferner verstehen Sie unter diesem Namen die ansehnliche Zahl derjenigen Israeliten, die eine höhere Bildung genossen haben, die sich in allen Gebieten des Staatswesens auszeichnen, wie z. B. …

Hier wiederum mehrere Namen, die zu veröffentlichen, ich nicht das Recht zu haben glaube, denn mehreren von ihnen, außer Goldstein, könnte es vielleicht unangenehm sein, zu erfahren, daß sie israelitischer Herkunft sind.

… und Goldstein, der in Serbien für die slavische Idee den Heldentod gefunden hat, und alle die Anderen, die fürs Wohl der Gesellschaft und der Menschheit arbeiten? Ihr Haß auf den ,,Juden“ erstreckt sich sogar auf Disraeli, der wahrscheinlich selbst nicht einmal weiß, daß er von spanischen Israeliten abstammt und der die englische konservative Politik selbstverständlich nicht vom Standpunkt des „Juden“ leitet … (?)

Bedauerlicherweise kennen Sie nicht unser Volk, weder sein Leben, noch seinen Geist, noch endlich seine vierzig Jahrhunderte alte Geschichte. Bedauerlicherweise, sage ich, weil Sie jedenfalls ein aufrichtiger, absolut ehrlicher Mensch sind, doch unbewußt der riesigen Masse eines bettelarmen Volkes Schaden zufügen. Die mächtigen „Juden“ jedoch, die die Mächtigen dieser Welt in ihren Salons empfangen, fürchten natürlich weder die Presse noch selbst die ohmnächtige Wut der Exploitierten. Doch nun genug über dieses Thema! Schwerlich werde ich Sie überzeugen können – wohl aber wünschte ich sehr, daß Sie mich überzeugten.“

Dieser Auszug dürfte genügen. Bevor ich jedoch etwas zu meiner Verteidigung sage – denn solche Anschuldigungen kann ich nicht ruhig hinnehmen – möchte ich noch auf die Wut des Angriffes und den Grad der Empfindlichkeit hinweisen. Erstens, so lange wie mein ,,Tagebuch“ erscheint, hat in ihm noch kein einziger Satz gegen den „Juden“ gestanden, der solch einen erbitterten Angriff rechtfertigen könnte. Zweitens fällt es einem unwillkürlich auf, daß der verehrte Schreiber, wenn er auch auf das russische Volk zu sprechen kommt, sich in seinen Gefühlen nicht bezwingen kann und das arme russische Volk denn doch etwas zu sehr von oben herab behandelt. Jedenfalls zeigt dieser Ingrimm nur zu deutlich, mit welchen Augen die Juden selbst auf uns Russen sehn. Der Schreiber dieses Briefes ist wirklich ein gebildeter und talentvoller Mensch – nur glaube ich nicht, daß er auch ohne Vorurteile wäre –; was für Gefühle soll man daraufhin noch von den zahllosen ungebildeten Juden erwarten? Ich sage das nicht etwa als Beschuldigung: diese Gefühle sind ja...

Erscheint lt. Verlag 15.4.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Religion / Theologie Judentum
ISBN-10 3-7597-1610-5 / 3759716105
ISBN-13 978-3-7597-1610-1 / 9783759716101
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