Zwei Schriften über Leo N. Tolstoi und sein Werk -  Raphael Löwenfeld

Zwei Schriften über Leo N. Tolstoi und sein Werk (eBook)

Gespräche über und mit Tolstoj (1890/1901) - Leo N. Tolstoj, sein Leben, seine Werke, seine Weltanschauung (1892/1901)

(Autor)

Peter Bürger (Herausgeber)

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2024 | 1. Auflage
332 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7583-4934-8 (ISBN)
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Ohne Literaturvermittler und Übersetzer, die aus dem Judentum (bzw. jüdischen Familien) kamen, hätte es einen Großteil der vor dem Ersten Weltkrieg erschienenen Tolstoi-Editionen für eine deutschsprachige Leserschaft überhaupt nicht gegeben. Als herausragender Akteur ist an erster Stelle der aus Posen stammende Slawist, Übersetzer, Publizist und Theaterdirektor Raphael Löwenfeld (1854-1910) zu nennen. Löwenfeld hat Leo N. Tolstoi zweimal (1890 und 1898) in Russland aufgesucht und auf solider Grundlage zwei frühe Darstellungen über den Dichter verfasst, die als wegweisende Pionierwerke gelten und in dem hier vorgelegten Band ungekürzt - jeweils nach der letzten Auflage - dargeboten werden: "Gespräche über und mit Tolstoj" (1890/1901) und "Leo N. Tolstoj, sein Leben, seine Werke, seine Weltanschauung" (1892/1901). Der Verfasser hat zu Anfang des 20. Jahrhunderts die maßgebliche deutsche Ausgabe "Sämtlicher Werke" Tolstois im Verlag von Eugen Diederichs herausgegeben und einen Riesenanteil der Übersetzungen aus dem Russischen ab 1890 selbst besorgt. Seine Berliner Theaterarbeit für ein breites Publikum war u.a. auch von Idealen des berühmten Russen inspiriert. Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe D, Band 1 (Signatur TFb_D001) Herausgegeben von Peter Bürger, Editionsmitarbeit: Bodo Bischof, Ingrid von Heiseler

Der Slawist, Berliner Theater-Direktor und maßgebliche Tolstoi-Herausgeber für den deutschen Sprachraum Dr. Raphael Löwenfeld wurde 1854 in Posen geboren und starb 1910 in Charlottenburg. Seine "Eltern waren der Schuldirektor Viktor Löwenfeld und seine Frau Henriette geb. Zadek. Er wuchs mit drei Schwestern und seinem Zwillingsbruder, dem späteren Historiker Samuel Löwenfeld, in Posen auf. Nach dem Studium der Philologie und der Promotion 1877 war er Lektor für russische Sprache und Literatur an der Universität Breslau. - Die 1893 von Raphael Löwenfeld anonym veröffentlichte Schrift 'Schutzjuden oder Staatsbürger. Von einem jüdischen Staatsbürger' war der Hauptanstoß zur Gründung des Central-Vereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), dessen Vorstand er mehrere Jahre angehörte." (wikipedia.org) Auf der Grundlage von zwei Besuchen Tolstois in Russlands verfasste Löwenfeld wegweisende Darstellungen über Leben und Werk des russischen Dichters.

AUF DER FAHRT


Wir befanden uns im Schnellzuge zwischen Breslau und der russischen Grenze. Ich war an einer kleineren Station von einem Wagen in den anderen gestiegen. Der Dampf zweifelhafter Cigarren hatte mich vertrieben, und ich suchte mir ein Plätzchen in der Nichtraucher-Abteilung der zweiten Klasse. Welche Enttäuschung! Ich öffne die Thür in dem Augenblick, da der Zug sich in Bewegung setzen will, und springe erschrocken zurück. Das ganze Coupé eine Rauchwolke. Aber es hilft nichts, ich muß hinein.

Das Unangenehme des Rauches wurde glücklicherweise durch den Duft gemildert, den eine türkische Cigarette der feinsten Sorte ausströmte. Es war aber schwer, durch den Dampf hindurch den Raucher zu sehen. Erst als sich eine Stimme fragend an mich wandte: „Ist es gestattet?“ erkannte ich eine Dame. Sie war bis hierher ganz allein gereist und hatte sich, der strengen preußischen Vorschrift nicht achtend, über das Gebot des Nichtrauchens hinweggesetzt. Sie legte zwar die Cigarette aus dem Munde, versuchte aber sofort sich die Erlaubnis mit einer zweiten Frage zu erkaufen. „Sie rauchen vielleicht auch? Wir Russen nehmen häufig nur darum im Nichtraucherwagen Platz, weil man hier viel ungestörter rauchen kann.“

Nein, gnädige Frau, antwortete ich, ich rauche nicht. Ich bin hier hineingekommen, um ungestört zu lesen, aber das darf Sie nicht hindern …

Sie lesen russisch, wie ich sehe.

Ja, ich habe einige Kenntnis der Sprache und beschäftigte mich gegenwärtig mit einem der hervorragendsten Dichter Ihres Landes.

O, es ist nicht schwer, zu errathen, mit wem. Mit wem beschäftigt sich denn jetzt das Ausland? Nur mit Einem. Turgenjew war vor Jahren der gelesenste Russe, Dostojewskij wird bei Ihnen bewundert, aber er beschäftigt die Geister nicht mehr. Es giebt nur Einen, das ist Leo Tolstoj. Auch bei uns hat er Freund und Feind, und obwohl seine neueren Werke verboten sind, besitzt sie doch Jedermann, der einen Groschen für ein lithographirtes Exemplar übrig hat. Ich habe da auch in meinem Koffer ein Exemplar der Kreutzersonate. Merkwürdig! Es ist im Ausland gedruckt und geht in so vielen Exemplaren über die Grenze, daß man das Verbot der Regierung nicht begreift.

Sie haben das Buch gelesen?

Ja, es hat mich weniger in Erstaunen gesetzt als Ihre Landsleute. Ich bin vor sechs Wochen über Berlin in ein böhmisches Bad gereist. Wo ich eine Zeitung in die Hand nahm, war die Rede von diesem Buch. Ich las Gutes und Schlechtes, Falsches und Richtiges durcheinander. Was mir am meisten auffiel, war, daß die Kritiker, die über die Kreutzersonate schrieben, von den vorangegangenen Werken unseres Dichters nur geringe Kenntnis zu haben schienen. Das Revolutionäre dieses Buches hat sie mehr beschäftigt als die vollendete Kunstschönheit seiner „Anna Karenina“, seines „Eheglücks“ und seines gewaltigen Epos „Krieg und Frieden“.

Sie können Recht haben, gnädige Frau. Man ist etwas spät auf Tolstoj aufmerksam geworden, gerade etwa um die Zeit, da man in Rußland aufhörte, den Dichter zu bewundern und anfing sich mit dem sittlichen Reformator zu beschäftigen. Aber ganz so ohne Kenntniß seiner großen Schöpfungen sind wir nicht. Was ich da in der Hand habe, ist sein „Krieg und Frieden“. Ich lese es russisch und habe in meinem Koffer eine deutsche Übertragung, theils um mir manchmal weiter zu helfen, teils auch, um den Wert der deutschen Übersetzung festzustellen.

Das werden Sie kaum über die Grenze bringen. Die Censur ist jetzt doppelt streng bei Allem, was den Namen Tolstoj trägt.

Es fehlten nur noch wenige Minuten bis zu dem Grenzort, an welchem die Koffer der Reisenden untersucht werden. Die Hochöfen links und rechts vom Bahngeleise lenkten unsere Aufmerksamkeit ab. Die Unterhaltung war unterbrochen, und ehe wir sie wieder aufnahmen, waren wir bereits in Sosnowice.

Die Dame hatte leider Recht behalten. Einer der Packknechte, der meinen Koffer von oben bis unten durchwühlte, obwohl ich ihm wiederholte, daß er außer den Büchern nichts Verdächtiges enthalte, zog nun auf’s Geratewohl zugreifend, ein paar Bände hervor und ging damit, ohne ein Wörtchen zu sagen, auf einen Gendarmen los, der träg auf einer Bank des Bahnsteiges saß. Der Gendarm entpuppte sich als der Vertreter der russischen Censur.

Wohin reisen Sie?

Nach Moskau.

Gut! Sie werden diese Bücher in Moskau auf der Zensur wiederfinden.

Diese Bücher? Sie haben ja noch gar nicht hineingeblickt, Sie wissen ja noch gar nicht, ob es verbotene sind. Ganz Rußland liest seit Jahrzehnten dieses Buch in abertausend Exemplaren.

Aber es ist ja ein deutsches Buch.

Gewiß, es ist die Übersetzung von „Krieg und Frieden“ des Grafen Tolstoj.

Der Name traf ihn wie ein Schlag. Er erhob sich, würdigte mich kaum noch eines Blickes und gab die Bücher an einen zweiten Beamten weiter. Es half nichts, daß ich ihn zu überzeugen suchte, daß es sich um ein gänzlich harmloses Werk des Dichters handle, daß kein Mensch in Rußland, der Zar selbst keinen Anstoß daran nehmen könnte … es nützte Alles nichts. Ich war um meine Reiselektüre gekommen und hatte die Aussicht, meine kurz gemessene Zeit in Moskau in der Censurabtheilung verbringen zu müssen. Kurz entschlossen übergab ich die Bücher einem der Spediteure, die am Grenzort zahlreich vertreten sind, damit er sie mir unter meiner Adresse nach Berlin sende, und fügte mich in mein Schicksal.

Ich habe wiederholt die russische Grenze überschritten. In so empörender Gestalt war mir die Censur noch nie gegenüber getreten. Ich hatte immer die Liebenswürdigkeit und Zuvorkommenheit der russischen Beamten bewundert. Können sie auch das herrschende Gesetz, besonders in Zeiten, wo es so streng gehandhabt wird, wie jetzt, und in Bezug auf Personen, die eine so hervorragende Stellung einnehmen, wie Leo Tolstoj, schwer umgehen, so suchen sie doch seine Strenge durch ihre höfliche Art zu mildern. Ich war auch noch nie einem so rohen, ungebildeten Beamten begegnet, dem ein Urteil über das Erlaubte oder Unerlaubte von Büchern anvertraut gewesen wäre. Ein Mann, der nicht einmal einen in deutschen Buchstaben geschriebenen Namen lesen konnte, vertrat hier ein Amt, zu dem, wie man glauben sollte, nicht bloß eine gewöhnliche, sondern eine höhere Bildung erforderlich ist. Ich hatte einen Vorgeschmack von dem bekommen, was Leo Tolstoj als Vorkämpfer für geistige Freiheit bedeutet.

Meine Reisegefährtin hatte inzwischen ihr Abendbrod verzehrt und in freundlicher Weise auch für mich gesorgt. Es waren trotz des langen Aufenthaltes nur noch wenige Minuten bis zum Abgang des Zuges. Ich mußte mich beeilen, um noch rechtzeitig einen Platz zu finden.

Am andern Morgen waren wir in Warschau. Die Dame gab mir, ehe der Zug hielt, ihre Visitenkarte und eine Empfehlung nach Moskau.

Diesen Herrn müssen Sie unbedingt besuchen. Wenn Sie Tolstoj so ernst beschäftigt, wie Sie mir vorhin erzählt haben, haben Sie in ihm den besten Führer. Er ist nicht bloß ein Verehrer des Dichters, sondern ein Freund Tolstojs und ein inniger Anhänger seiner socialen Anschauungen. Wenn Sie ihn zufällig in Moskau treffen – denn es muß ein glücklicher Zufall sein, wenn Sie jetzt Jemanden in der Stadt finden – so haben Sie, wenn ich so sagen darf, das Vorzimmer zu Tolstojs Hause betreten.

Ich dankte ihr herzlich, nahm Abschied und beeilte mich, den Anschluß an die Terespoler Bahn zu erreichen.

Es ist geradezu erstaunlich, wie der Geist Tolstojs, wo man sich auch in Rußland bewegen möge, uns in Allem entgegentritt. Wir hatten 33 Stunden Reise vor uns. Im Zuge waren nur wenig Passagiere, und fast jeder der Fahrgäste hatte seine eigene kleine Abtheilung in dem prächtigen Wagen. Als uns aber, nach drei Stunden etwa, das Bedürfnis der Unterhaltung in dem gemeinschaftlichen kleinen Flur zusammenführte, war der Gegenstand des Gespräches wiederum – Tolstoj. Fast alle Passagiere waren aus dem Auslande gekommen und hatten sich dort reichlich mit den Büchern versehen, die man im Inlande nicht bekommen kann; und unwillkürlich befand ich mich heute mit einem Herrn in einem ähnlichen Gespräch, wie ich es gestern mit der Dame geführt hatte. Ich sah wohl, daß es der Mühe wert war, Ansichten und Thatsachen, die im Laufe des Gespräches geäußert wurden, aufzuzeichnen; und war auch nicht Alles, was ich hörte, neu oder durch Originalität überraschend, so erfuhr ich doch Manches, was mir für meine späteren Pläne von Wert war.

Wir hatten schon eine Nacht hinter uns und einen lebhaften Disput über Tolstojs Bildungsgang.

Wäre der Graf nicht immer auf seinem Gute gewesen, nahm einer der Mitreisenden das Wort, hätte er häufiger im Westen gelebt und die geistige Bewegung Europas mit größerem inneren Antheil mitgemacht, er wäre unmöglich zu den asketischen Anschauungen gekommen, die er in seinen religiös philosophischen Büchern in ein System gebracht hat. Aber mit...

Erscheint lt. Verlag 12.3.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Sprach- / Literaturwissenschaft Literaturwissenschaft
ISBN-10 3-7583-4934-6 / 3758349346
ISBN-13 978-3-7583-4934-8 / 9783758349348
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