Lebenskunst in der Antike (eBook)
170 Seiten
Books on Demand (Verlag)
978-3-7597-3833-2 (ISBN)
Der Autor ist im südöstlichen Münsterland aufgewachsen, studierte Philosophie, Soziologie und Politikwissenschaften in Münster und Berlin. Er lebt und arbeitet in Berlin.
I. Positionsbestimmungen
Seit dem 11. Jahrhundert v. Chr. begann, vom griechischen Kernland ausgehend, eine weitläufige Siedlungsaktivität im Mittelmeerraum. Sie erstreckte sich zunächst überwiegend auf den kleinasiatischen Teil des Mittelmeeres und weitete sich ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. auf den gesamten Mittelmeerraum aus. An den Rändern des Mittelmeeres sowie des Schwarzen Meeres entstanden griechische Kolonien als Ausgründungen griechischer Städte. Sie pflegten weiterhin eine gemeinsame kulturelle Verbundenheit und blieben in Austausch und Kontakt zu ihren griechischen Heimatstädten. Diese Kolonisierung war weder zentral gesteuert, noch war sie auf singuläre Ursachen zurückzuführen. Die Neugründungen waren zumeist durch den Ausbau von Handelsstrukturen und als Reaktion auf das lokale Bevölkerungswachstum motiviert. Sie wurden in vielversprechenden und oft unbewohnten Gegenden angelegt, führten allerdings zwangsläufig zu Auseinandersetzungen mit der ansässigen Bevölkerung.7
Der griechische Einfluss auf die lokalen Kulturen war immens. Dies gilt umgekehrt ebenso für die griechische Bevölkerung, die auf diesem Weg mit neuen Ideen in Kontakt kam. Was in den neuen Stadtgründungen erprobt wurde, konnte in die griechischen Mutterstädte zurückgetragen werden. Dabei war die Eigenständigkeit der Peripherie von entscheidendem Vorteil. Für die neu gegründeten Städte eröffneten sich Spielräume und Chancen, in denen sie Neues ausprobieren konnten. Zugleich waren sie weiterhin eingebunden in einen gemeinsamen kulturellen Raum, der über eine geteilte Sprache verfügte, in der Kommunikation und Handel abgewickelt wurde und die mit internen kulturellen Differenzen umgehen konnte.
Die Ausgründung von Kolonien folgte keinem festen Plan. Sie war allerdings auf seefahrende Personen angewiesen, welche Handels- und Verkehrsrouten aufrechterhielten und dazu beitrugen, Informationen zu verbreiten. Durch die griechische Kolonisation entstand im Mittelmeerraum ein Schatz an Erfahrungen, der zu neuen Formen des Alltagswissens führte und in der Vermittlung und Weitergabe von Wissen vor neue Herausforderungen stellte. Die Aufrechterhaltung von Handelsrouten im Mittelmeerraum, die Rollen und Aufgaben der politischen Beteiligung der Bürger in den Stadtversammlungen und die Partizipation an Veranstaltungen, wie den Olympischen Spielen erforderte ein umfangreiches handwerkliches, technisches und kulturelles Wissen, welches aufbereitet, gepflegt und vermittelt werden musste. Daneben brauchte es in den Stadtstaaten stabilisierende politische Strukturen, unter denen sich gesellschaftliches Leben entfalten konnte. Zudem engagierten die neuen Kolonien nicht selten philosophisch bewanderte Personen, um sich eine eigene Verfassung ausarbeiten zu lassen.
Um diese unterschiedlichen Herausforderungen im Umgang mit Wissen und Erkenntnis anzugehen, wurden Personen benötigt, die sich nicht nur an der Ausarbeitung von politischen Verfassungen beteiligten, sondern ebenso in der Aufbereitung und Vermittlung von Wissen tätig waren, um neue Wissensfelder zu erschließen. Kurz gesagt, es wurden philosophierende Köpfe gesucht, die sich mit verschiedensten lebenspraktischen Fragestellungen auseinandersetzen konnten und denen die neuen Rollen in der Wissensproduktion leicht von der Hand ging.8
Befördert durch diese neuen gesellschaftlichen Rollen entwickelt sich die antike Philosophie im Austausch zwischen den neuen Siedlungsgebieten und dem griechischen Kernland. Nimmt man eine Karte des griechischen Mittelmeerraumes, dann sind es die kolonisatorischen Ausgliederungen der griechischen Stadtstaaten, in denen einzelne uns heute noch bekannte philosophische Positionen erstmals auftauchten.9 Zugleich treffen wir auf verschiedene Formen des Philosophierens. Sie tritt als Suche nach Weisheit auf, die nach verbindlichen Formen des Wissens und der geteilten Erfahrung eines gemeinsamen Lebens sucht. Und sie begegnet uns in beratender Form, als eine lebenspraktische Kunst, auf der Suche nach dem guten und glücklichen Leben.
Es ist daher nicht verwunderlich, dass sich die ersten Philosophen nicht allein mit erkenntnistheoretischen Fragen oder sozialphilosophischen Ethiken auseinandersetzten, sondern in ihre Forschung ebenfalls physikalische, biologische, physiologische oder kosmologische Überlegungen aufnahmen. Die entstehende Disziplin der Philosophie begegnet uns hier als eine breit angelegte Suche nach Wissen und Erkenntnis. Erkenntnisse aus der Naturbeobachtung wurden zusammengeführt und mit Meinungen und Hypothesen verknüpft, die in einem streitenden Austausch um Geltung rangen. Neue Erfahrungen und Herausforderungen mussten verarbeitet werden und dazu brauchte es ein reflektiertes Antworten auf drängende Fragestellungen, das ebenfalls mit neuen Trends und Ideen umzugehen wusste.
Untereinander standen diese Philosophierenden in Kontakt und Konkurrenz. In lokalen Schulen wurden junge Heranwachsende unterrichtet und einzelne Positionen und neue Lehrmeinungen wurden immer wieder aufgegriffen und umformuliert. Wer es sich leisten konnte und etwas auf sich hielt, der besuchte andere Schulen, um das dortige Wissen abzugreifen. Jugendliche und junge Heranwachsende wurden aus den Kolonien zur Ausbildung nach Griechenland zurückgeschickt, um ein mehr an Erfahrung zu gewinnen. Eines der bekanntesten Zentren für diesen Wissensaustausch im griechisch geprägten Mittelmeerraum war Athen. Seit dem 4. Jahrhundert. v. Chr. entstanden hier philosophische Schulen, die zu Anlaufstellen der philosophischen Ausbildung und Wissensvermittlung wurden. Neben Athen gab es weitere kulturell bedeutsame Zentren, welche die soziale und religiöse Verbundenheit der griechischen Kolonien mit ihren Mutterstädten verstärkten. Eines dieser Zentren war Delphi.
In Stein gemeißelte Weisheiten
Die Stadt Delphi liegt unterhalb des Parnass-Gebirges am Golf von Korinth, gut 150 km nordwestlich von Athen. Seit dem 8. Jahrhundert v. Chr. entstand in Delphi eine dem griechischen Gott Apollon gewidmet Kultstätte, die zu einem kulturellen Zentrum und überregionalen Anlaufpunkt in der klassischen Antike wurde. Hier fanden alle vier Jahre die Pythischen Spiele statt.10 Sie umfassten sportliche und künstlerische Wettkämpfe, eingebunden in kultische und religiöse Handlungen, die zu Ehren des Apollon abgehalten wurden.
Delphi war zugleich eine der bekanntesten Orakelstätten der griechischen Antike. Die Weissagungen erfolgten im Tempel des Apollon durch die Oberpriesterin des dort ansässigen Kults. Sie trug dazu bei, dass sich Delphi zu einer Anlaufstelle für die unterschiedlichsten Streit- und Zweifelsfragen entwickelte. Wer sich mit Sorgen oder Fragen an das Orakel richtete, erhielt eine Antwort, die allerdings in jedem Fall mit Vorsicht anzunehmen war. In antiken Tragödien wird nicht selten das Unglück thematisiert, welches aus einer nicht zutreffenden Interpretation der Orakelsprüche folgte.11 Die Geschichten von Ödipus, Krösus oder Alexander dem Großen liefern passende Beispiele dafür, dass die Worte des Orakels in jedem Fall mit Bedacht anzunehmen waren. Das Orakel wurde allerdings nicht nur in Bezug auf persönliche Entscheidungen befragt, sondern ebenfalls zu Fragen der kolonisatorischen Neugründung griechischer Städte konsultiert. Über seine Weissagungen beeinflusste es die Lage neuer Kolonie und mischte sich in die dort zukünftig zu verehrenden Gottheiten ein. Die Auswahl im griechischen Pantheon ist groß. Nicht selten fiel sie zugunsten des in Delphi verehrten Apollon aus.12
Von dem antiken Tempel des Apollon in Delphi stehen heute nur noch die Grundmauern. Im Kontext der Auseinandersetzung mit der Suche nach einer regulierten Lebensweise ist das dortige Orakel in zweierlei Hinsicht von besonderem Interesse. Zunächst einmal verweist die Praxis der Konsultation des delphischen Orakels auf eine Ressource, die heute nicht mehr in gleicher Weise zur Verfügung steht. Wenn zur Entscheidungsfindung zunächst einmal mehrere Tagesreisen zu Fuß, mit dem Esel, im Wagen oder per Schiff durch Griechenland zurückgelegt werden mussten, ehe ein Ort erreicht war, wo das Anliegen vorgetragen wurde, um daraufhin eine Antwort zu erhalten, mit der zunächst wieder mehrere Tage oder Wochen zurückgereist werden musste, bevor das Vorhaben in die Praxis umgesetzt werden konnte, dann wurde hier in sehr großzügigem Maße auf die Ressource Zeit zurückgegriffen, der heute oft nicht mehr derselbe Platz eingeräumt wird. Wer nach Delphi zum Orakel reiste, verfügte über Zeit und zumeist über die nötigen finanziellen Mittel, um im dortigen Heiligtum eine ordentliche Spende zu hinterlassen.
Wie lässt sich die kulturelle Funktion eines Orakels angemessen in unsere heutige Gegenwart übersetzen? Ich denke, wir sollten hier weniger an Wahrsagende auf Jahrmärkten denken, als an einen politisch vernetzten Thinktank, der versucht ist, zukünftige politische und ökonomische Geschicke zu beeinflussen. Ein besonderer Schatz in Delphi sind dabei Wissen und aktuelle Informationen. Über die ratsuchenden Personen war Delphi im Mittelmeerraum vernetzt, bekam einen privilegierten Zugang zu geplanten Unternehmungen und konnte dieses Wissen...
Erscheint lt. Verlag | 3.4.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Philosophie ► Geschichte der Philosophie |
ISBN-10 | 3-7597-3833-8 / 3759738338 |
ISBN-13 | 978-3-7597-3833-2 / 9783759738332 |
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