Lebendige Seelsorge 1/2024 (eBook)
76 Seiten
Echter Verlag
978-3-429-06680-2 (ISBN)
Ute Leimgruber, Dr. theol., Professorin für Pastoraltheologie und Homiletik an der Universität Regensburg.
Weniger ist nicht genug
Ein Plädoyer für eine ambitionierte kirchliche Transformation
Die Debatte über die Zukunft des kirchlich verfassten Christentums ist im vollen Gange. Kirche wird kleiner und gerät in die gesellschaftliche Minderheitenposition. Sich mit einem bloßen Weniger an Kirche zufrieden zu geben, genügt allerdings nicht. Spiritualisiertes Gesundschrumpfen, ein aussitzendes Hoffen auf bessere Zeiten oder die Konzentration auf die kleine Herde führen in die ekklesiologische Sackgasse. Was es braucht, ist eine ambitionierte kirchliche Transformation. Björn Szymanowski
Dass die Kirche unausweichlich zusammenschrumpfen wird, ist nicht zu bestreiten. Schon die Freiburger Studie zu Kirchenmitgliedschaft und Kirchensteuer hat dies 2019 deutlich vor Augen geführt: Gemessen an der damaligen Austrittsquote wird sich die Zahl der katholischen Kirchenmitglieder bis 2060 auf rund 12 Millionen halbieren (vgl. Gutmann/Peters 2021). Angesichts der drastisch gestiegenen Austrittszahlen in den vergangenen Jahren ist mittlerweile eine Reduktion der Mitglieder auf ein Drittel wahrscheinlicher (vgl. Gutmann/Peters 2023, 35). Die Austritte verursachen – nach konservativer Rechnung – bis zum selben Zeitpunkt einen prognostizierten Kaufkraftverlust (inflationsbedingte Wertsenkung des Geldes) der katholischen Kirche von über 50 Prozent. Im Verbund mit beträchtlichen Personalengpässen hat diese Entwicklung erheblich zu einem strukturellen Um- oder besser Rückbau der traditionellen Gestalt pastoraler Basisorganisation beigetragen. Seit 2000 hat sich die Zahl der Pfarreien und sonstigen Seelsorgestellen deutschlandweit um mehr als ein Viertel reduziert.
Die Phänomenologie des Schrumpfens ist damit noch keinesfalls erschöpft. Die Skizze zeigt aber: Die Lage ist ernst und das Kleinerwerden eine Realität, der nicht ausgewichen werden kann. Kein Wunder also, dass die Sehnsucht nach den ‚guten alten Zeiten‘ im Binnenbereich von Kirche zunimmt. Es steht viel auf dem Spiel: von berufsbiografischen Identitäten bis hin zur geistlichen Heimat. Was menschlich verständlich ist, wird organisational zum Problem, wenn das unaufhaltsame Kleinerwerden in eine Richtung verläuft, die Kirche nicht weiter, sondern bloß enger macht. Dieser Effekt kann vielfach beobachtet werden, nämlich dort, wo diözesane Reformen nur die Strukturen der Pastoral, nicht aber ihre Aufgabe in einer postmodernen Gesellschaft in den Blick nehmen; wo Pfarreien trotz Fusion und eklatantem Mitgliederschwund überkommene Gemeindebilder reproduzieren; wo lediglich ein Bruchteil der Mitglieder über die Zukunft von Kirche entscheiden; wo vielversprechende Aufbrüche im Streit über die Gottessdienstordnung scheitern oder wo Fakultäten aus Angst vor einer Selbstkannibalisierung des theologischen Vollstudiums auf neue Studiengänge verzichten. Überall dort und vielerorts mehr wird das Schrumpfen zum willkommenen Anlass, um sich in die binnenkirchliche Komfortzone zurückzuziehen und manchmal einen „bequemen Traditionalismus“ (Rahner 1972, 33) zu pflegen.
Björn Szymanowski
Dr. theol., Leiter des Kompetenzzentrums Führung in Kirche und kirchlichen Einrichtungen am Zentrum für angewandte Pastoralforschung (zap) in Bochum sowie Mitgründer und Direktor der dortigen zap:academy.
Was es braucht, sind theologische, geistliche und organisationale Investitionen in eine Kirche, die ambitioniert umsteuert.
Ein bloßes Weniger an Kirche allerdings ist keinesfalls genug. Das Kleinerwerden darf nicht nur ertragen, sondern muss gestaltet werden. Was es braucht, sind theologische, geistliche und organisationale Investitionen in eine Kirche, die ambitioniert umsteuert. Drei Perspektiven erweisen sich meines Erachtens als besonders fruchtbar.
SAMMLUNG IST SENDUNG UND SENDUNG ZIELT AUF WACHSTUM IN VIELFALT
Das Christentum ist von seinem Ursprung her auf Wachstum in Vielfalt angelegt. Gleich zu Beginn des Markusevangeliums wird das kompakt greifbar: „Nachdem Johannes ausgeliefert worden war, ging Jesus nach Galiläa; er verkündete das Evangelium Gottes und sprach: Die Zeit ist erfüllt, das Reich Gottes ist nahe. Kehrt um und glaubt an das Evangelium!“ (Mk 1,14 f.) Die Szene markiert den Startpunkt des Wirkens Jesu in Israel und ist charakteristisch für das biblische Sendungsverständnis: Jesus ergreift die Initiative. Er wartet nicht, bis Menschen zu ihm kommen. Der Augenblick für Umkehr und Glaube ist günstig, weil die Zeit erfüllt und das Gottesreich nahe ist. Nur wenige Verse später folgt die erste Berufungsszene (vgl. Mk 1,16 f.): Am Meer von Galiläa ruft Jesus Petrus und Andreas in die Nachfolge, das heißt konkret: zu und hinter sich. Er stiftet Gemeinschaft und nimmt die Jünger in seine Lehre, damit sie zu Menschenfischern werden. Sammlung und Sendung greifen biblisch untrennbar ineinander. Wer einen Platz in der Gemeinschaft Jesu einnimmt, hat Anteil an seiner Mission. Biblisch betrachtet verspielt der Rückzug in die beschauliche Komfortzone also den Kairos der Gottesherrschaft und verkennt den Sendungscharakter, dem jede Sammlung (ekklesia) innewohnt. Das Wirken der Jünger:innen von heute ist – nach wie vor – „Fortsetzung der Sendung Jesu“ (Schnelle 2009, 283).
Was das intendierte Ziel dieses Wachstums angeht, ist Differenzierung geboten. Das biblische Zeugnis wäre grundlegend missverstanden, wenn der Ruf zur Umkehr auf plumpe Rekrutierung oder Uniformität in Glaubensdingen verkürzt würde. Selbstverständlich kennen die Evangelien Jünger:innen, die Jesus auf seinem öffentlichen Weg im Ganzen nachfolgen und unter denselben Bedingungen leben wie er: heimat-, familien- und besitzlos (vgl. Mt 8,20; Mk 10,28–30 par.). Dieser Ruf ergeht aber nicht an alle Menschen, denen Jesus begegnet. Die Evangelien berichten von zahlreichen Personen, die auf Jesus hören, ihn unterstützen oder mit ihm sympathisieren – ohne allerdings mit ihm dauerhaft auf Wanderschaft zu gehen: der Bettler Bartimäus, der Jesus nur für kurze Zeit begleitet (vgl. Mk 10,52), der Pharisäer Nikodemus, der nachts zu Jesus kommt (vgl. Joh 3,1 f.) oder Josef von Arimathäa, der geheime Jünger (vgl. Joh 19,38). Entscheidend ist: Ein soteriologisches Defizit entsteht ihnen dadurch nicht. Die intensive Jesus-Nachfolge ist weder Ideal- noch Normalfall.
Mit anderen Worten ist die Jünger:innenschaft Jesu nach neutestamentlichem Zeugnis „offen genug für unterschiedlichste Gestalten der heute vorfindbaren Zugehörigkeit und unterschiedliche Grade der Nähe und Ferne zur kirchlichen Institution“ (Collet/Eggensperger/Engel 2018, 227). Eine Kirche, die kleiner wird, setzt diese Vielfalt der Nachfolge nicht automatisch aufs Spiel. Mit dem Rückzug in die Komfortzone hingegen steigt das Risiko beträchtlich. Denn wo personelle und finanzielle Ressourcen mehrheitlich in einige wenige Sozialformen für einige wenige Mitglieder fließen, da wird Sammlung als Isolierung und Sendung als Verengung betrieben. Ob das im Fall der klassischen Pfarrei- und Gemeindeseelsorge zutrifft, für die je nach Bistum immerhin rund die Hälfte der Kirchensteuermittel aufgewendet werden, obwohl sie nachweislich nur zweieinhalb von zehn gesellschaftlichen Milieus erreicht, ist damit noch nicht gesagt. Der Verdacht liegt allerdings nahe. Eine ambitionierte kirchliche Transformation bricht mit der Dominanz einiger weniger Sozialformen und etabliert Zugangs- und Kontaktwege im Plural. Ein Weniger an alternativen Anschlusspunkten gelebter Nachfolge ist keineswegs genug. Dieser Anspruch kommt vom Ursprung.
Eine ambitionierte kirchliche Transformation bricht mit der Dominanz einiger weniger Sozialformen und etabliert Zugangs- und Kontaktwege im Plural.
DER GESELLSCHAFTLICHE BEDARF AN PROFESSIONELLEM KIRCHLICHEN HANDELN
Mit der Weite der Sendung korrespondiert der gesellschaftliche Bedarf an weltzugewandten, gerade nicht um Rückzug bemühten weltanschaulichen Gemeinschaften. Denn trotz rückläufiger Bindung sind die Erwartungen an Kirche nach wie vor hoch. Das gilt in unterschiedlicher Hinsicht: Der jüngst erschienene dritte Bericht der Bundesregierung zur weltweiten Lage der Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist ein prägnantes Beispiel aus politischer Perspektive. Mit bemerkenswerter Klarheit wird anerkannt, „dass religiöse Akteurinnen und Akteure substanzielle Beiträge zur Erreichung aller nachhaltigen Entwicklungsziele leisten können“ (BMZ 2023, 43). Darum ist die Intensivierung des Dialogs und der Kooperation mit ‚religiösen Change Agents‘, auch in Sachen Demokratiestärkung, erklärtes Ziel der Bundesregierung. Soziologische Studien spiegeln den Befund: Einer der wichtigsten Bindungsfaktoren katholischer Kirchenmitglieder ist das kirchliche Engagement für Gerechtigkeit und Solidarität. Sogar Konfessionslose erwarten von den Kirchen, dass sie Beratungsstellen für Menschen mit Lebensproblemen betreiben, öffentlich...
Erscheint lt. Verlag | 1.3.2024 |
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Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geisteswissenschaften ► Religion / Theologie |
ISBN-10 | 3-429-06680-8 / 3429066808 |
ISBN-13 | 978-3-429-06680-2 / 9783429066802 |
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