Über Wahrheit im außerdigitalen Sinne -  Peter Schmitt

Über Wahrheit im außerdigitalen Sinne (eBook)

eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
179 Seiten
Felix Meiner Verlag
978-3-7873-4572-4 (ISBN)
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In Zeiten von Deepfakes und maschineller Intelligenz scheint die Suche nach Wahrheit über den Menschen ein antiquiertes Vorhaben zu sein. GPS-trackbar und HD-Kamera-durchleuchtet passt die altertümliche Wahrheit nicht mehr so recht in unsere computerisierte Welt. Dabei ist die Suche nach Wahrheit nichts weniger als das Programm unserer Kulturgeschichte selbst. Alle Künste sind auf sie geeicht: Bilder, Filme, Texte haben nur Bestand, wenn sie eine bestimmte Wahrheit in sich tragen. Für sie gehen Menschen über ihre Grenzen und bringen sich in Gefahr. Manche gehen für die Wahrheit sogar in den Tod. Von einem Mangel an Bedeutung kann man bei ihr kaum reden. Sie kolportiert vielmehr ein unerklärliches Zuviel davon. In seinem neuen Buch begibt sich Peter Schmitt auf die Suche nach Wahrheit im außerdigitalen Sinne. Sein Denkweg, der ihn zu so unterschiedlichen Philosophen wie Arthur Schopenhauer, Friedrich Nietzsche, Günther Anders und Yuval Noah Harari führt, mündet in ein engagiertes Plädoyer: Jenseits von bloßer »Truthiness« und aktueller KI-Gläubigkeit müssen wir anerkennen, dass die Suche nach Wahrheit eine elementare Wesenseigenschaft des Menschen ist. Nur wir Menschen sind zur Wahrheit fähig, nur wir besitzen diesen dubiosen Wahrheitstrieb.

Peter Schmitt ist Musiker und Philosoph. Er promovierte mit Auszeichnung bei Konrad Paul Liessmann über die Aktualität der Medienkritik bei Theodor W. Adorno und Günther Anders. 2021 erschien im Meiner Verlag: Postdigital. Medienkritik im 21. Jahrhundert.

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DER BESTIRNTE HIMMEL


Es ist Nacht. Unvorstellbar und doch – wenn es das Wetter erlaubt – sichtbar, ist der Sternenhimmel das wohl mysteriöseste Phänomen, dem wir gegenüberstehen. Er kommt uns als überwältigende Erscheinung zu und ist nicht zu begreifen: die weiß schimmernden Punkte im schwarzen Nichts. Galaxien, Millionen von Lichtjahren von uns entfernt, ihr Licht bereits Millionen Jahre alt. Wie könnten wir das je verstehen? Wir müssen die gewaltigen Ausmaße einfach hinnehmen und akzeptieren, selbst ein winziger, flüchtiger Teil eines gewaltigen Ganzen zu sein. Doch gerade entgegen dieser Bedeutungslosigkeit und Flüchtigkeit begeben wir uns auf die Suche nach Wahrheit. Philosophie muss beim Blick in die Sterne entstanden sein, aus Trotz. Es ist in der Tat unwahrscheinlich, dass der Mensch der Vorzeit beim Beerensammeln oder auf der Jagd angefangen hat, die verborgenen Zusammenhänge seiner Existenz in Frage zu stellen. Erst mit den spekulativen Erwägungen zu den ominösen Umständen (unter denen wir auch heute noch unser Dasein fristen) hat er sich in die Tiefen der philosophischen Auseinandersetzung begeben können. Und der Nachthimmel war in einer Zeit lange vor den Stadtlichtermeeren der Großstadt das eindrücklichste Phänomen, das ihn immer wieder zu bestimmten Fragen bewegt haben muss. Immanuel Kant entdeckte eine eigenartige, sich selbst verstärkende philosophische Dynamik in der Ästhetik des Nachthimmels. »Je öfter und anhaltender sich das Nachdenken« mit ihm beschäftigt, bewegt er uns zu »immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht«. Der »bestirnte Himmel«2 kam für ihn noch vor dem moralischen Gesetz. Der »Anblick einer zahllosen Weltenmenge vernichtet gleichsam meine Wichtigkeit, als eines tierischen Geschöpfs, das die Materie, daraus es ward, dem Planeten (einem bloßen Punkt im Weltall) wieder zurückgeben muß, nachdem es eine kurze zeit (man weiß nicht wie) mit Lebenskraft versehen gewesen«.3 Erstaunlich: Der Nachthimmel bewegt selbst den Begründer der transzendentalen Erkenntnistheorie zur Relativierung seiner selbst.

Lange vor Kant beginnt die europäische Philosophiegeschichte mit einem Denker, der beim Blick in den Sternenhimmel in einen Brunnen fällt. Konzentriert auf das sich ihm bietende Schauspiel vergisst er die Welt um sich herum und stolpert in den tiefen Schacht. Die Anekdote über Thales wird meistens verwendet, um den abgehoben weltfremden Typus des Philosophen darzustellen. Dabei verdeutlicht sie vor allen Dingen die Wichtigkeit des Nachthimmels selbst. Oder besser: Die Wichtigkeit des Nachthimmels als Inspirationsquelle, als Impulsgeber zum gedanklichen Verweilen vor der dubiosen flimmernden Unermesslichkeit. Und die umgibt uns jede Sekunde unseres Daseins. Hier und jetzt. Dabei ist der Himmel prinzipiell Teil unserer Welt und doch gleichzeitig auch nicht. »Der Sternenhimmel als ›äußerste Peripherie der menschlichen Lebenswelt‹ […], wie der stoische Philosoph Poseidonios den Himmel apostrophiert, entzieht sich dem unmittelbaren Zugang der Menschen, erstreckt sich jedoch sichtbar über den gesamten nächtlichen Himmel über ihnen und gehört als ›Grenze‹ dieses Raumes dennoch zum System der Welt dazu.«4 Es scheint, dass genau diese Ambivalenz den Himmel so faszinierend macht. Er ist ultimative Grenze und gleichzeitig Teil von uns. Wer einmal die Möglichkeit hat, den Sternenhimmel – wie er sich uns bietet – in vollem Volumen zu erleben, samt Silhouette der Milchstraße, die langsam bei einsetzender Morgendämmerung einem fulminanten Farbenspiel am Horizont weicht, wird es nicht leugnen können: Philosophie entzündet sich automatisch beim Blick nach oben und mischt sich mit purer ästhetischer Entrückung und einer Ahnung davon, dass etwas wahr sein muss, das weit über uns hinaus geht.

VON MÜCKEN UND MENSCHEN


Wahr ist damit unsere Begrenztheit. Auch über die lässt sich nicht sinnvoll reden. Das macht gerade die Grenze aus. Die Beschränktheit unseres Geistes können wir nicht von außen betrachten. Wir bleiben immer in ihm gefangen. Wir sind immer Teil eines limitierten Ganzen. Friedrich Nietzsches berühmte Eröffnung seines Essays »Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne« beginnt mit dem selbstreflexiven Blick in die Sterne. Unbedeutend und weit ab vom Schuss wir Menschen, »kluge Tiere«, die »das Erkennen erfanden«. Wie ein Monument stehen diese einleitenden Gedanken da: »Es war die hochmütigste und verlogenste Minute der ›Weltgeschichte‹: aber doch nur eine Minute. Nach wenigen Atemzügen der Natur erstarrte das Gestirn, und die klugen Tiere mußten sterben. – So könnte jemand eine Fabel erfinden und würde doch nicht genügend illustriert haben, wie kläglich, wie schattenhaft und flüchtig, wie zwecklos und beliebig sich der menschliche Intellekt innerhalb der Natur ausnimmt. Es gab Ewigkeiten, in denen er nicht war; wenn es wieder mit ihm vorbei ist, wird sich nichts begeben haben.« Das Eingesperrtsein in unsere Wahrnehmung und unser primäres Medium (die Sprache) scheint eine Wahrheit zu sein, der wir nicht entkommen können. Mehr noch: Unser Intellekt bleibt im Zuge dessen immer hinter den gewaltigen Ausmaßen der Welt zurück. »Denn es gibt für jenen Intellekt keine weitere Mission, die über das Menschenleben hinausführte. Sondern Menschlich ist er, und nur sein Besitzer und Erzeuger nimmt ihn so pathetisch, als ob die Angeln der Welt sich in ihm drehten. Könnten wir uns aber mit der Mücke verständigen, so würden wir vernehmen, dass auch sie mit diesem Pathos durch die Luft schwimmt und in sich das fliegende Zentrum dieser Welt fühlt.«5 Unser intellektuelles Pathos überlagert die Erkenntnis unserer mückenhaften Existenz. Wie die Mücke sind wir eingesperrt in unsere Wahrnehmung und bilden uns ein, die Welt, wie sie ist, erkennen zu können. Doch niemand kann eigentlich sagen, wie die Welt wirklich sei. Inmitten unserer Wahrnehmungsgrenze bleibt sie uns (und allen Mücken) auf seltsame Art unzugänglich.

Dabei ist es doch die Mücke, die ihre Welt erst erzeugt. Und wir sind es, die den bestirnten Himmel erst zum Leben erwecken, könnte man Nietzsche entgegenhalten. »Allein durch das Licht des Bewusstseins wird das Universum sichtbar, und sollte dieses Licht verlöschen, bliebe nur das Nichts. Außerhalb der erleuchteten Bühne des menschlichen Bewusstseins ist der mächtige Kosmos bloß eine geistlose Unwesenheit. Nur durch menschliche Worte und Symbole, die menschliches Denken festhalten, kann das von der Astronomie erforschte Universum von seiner immer währenden Leere erlöst werden.«6 Bei Lewis Mumford ist nicht der Mensch in seiner arroganten Selbstüberschätzung unbedeutend, sondern vielmehr das Universum tot, ohne den Menschen, der es erst zum Leben erweckt. Er erkennt – wie Nietzsche ein knappes Jahrhundert vor ihm – das sich nie auflösende Problem der antropomorphen Bedeutungszuschreibung. »Jeder Versuch, den Milliarden Jahren, die der Kosmos vor dem Auftreten des Menschen anscheinend existiert hat, objektive Realität beizumessen, schmuggelt heimlich einen menschlichen Beobachter in diese Feststellung, denn es ist die Fähigkeit des Menschen, rückwärts und vorwärts zu denken, die diese Jahre erschafft, sie zählt und mit ihnen rechnet. Ohne die zeitsetzenden Aktivitäten des Menschen ist das Universum zeitlos, so wie es ohne die Raumbegriffe des Menschen, seine Entdeckung von Formen, Strukturen und Rhythmen ein gefühlloses, formloses, zeitloses und bedeutungsloses Nichts ist.« Mit dem Blick in den Himmel entsteht erst die Poesie der menschlichen Deutung. Seine Faszination entwickelt sich nicht aufgrund der objektiven Größenordnungen. Letztere sind schon Bedeutungszuschreibungen, die im Radius der menschlichen Situation bleiben, der wir nicht entkommen können. Gerade bei wissenschaftlichen Erkenntnissen, die ja oft als Wahrheiten missverstanden würden, sei das so. Mumford verdeutlicht das am Beispiel der Zeitrechnung in Jahren. »Nicht die Sterne oder die Planeten erfahren die Jahre, noch weniger messen sie sie, sondern der Mensch tut es. Diese Beobachtung selbst ist ein Ergebnis der Aufmerksamkeit des Menschen für sich wiederholende Bewegungen, jahreszeitliche Vorgänge, biologische Rhythmen und messbare Perioden. Wird die Idee des Jahres auf das physikalische Universum zurückprojiziert, so zeigt sie etwas Weiteres, das für den Menschen wichtig ist; davon abgesehen, ist sie eine poetische Fiktion.«7

SPRACHE DER GÖTTER


Die Sterne galten in der Tat lange Zeit als die Sprache der Götter. »Die Masse der am Himmel mitgezogenen Sterne erscheint […] als Träger der Zeichen des Zeus: Als Teil der Mechanik sind sie ›in großer Zahl hierhin und dorthin‹ verstreut«. Sie erscheinen...

Erscheint lt. Verlag 19.2.2024
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
ISBN-10 3-7873-4572-8 / 3787345728
ISBN-13 978-3-7873-4572-4 / 9783787345724
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