Solarpolitik -  Oxana Timofeeva

Solarpolitik (eBook)

Ein philosophischer Essay über die Sonne, Natur und Gewalt
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
125 Seiten
Matthes & Seitz Berlin Verlag
978-3-7518-2003-5 (ISBN)
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Ra, Tonatiuh, Surya, Sol invictus sind nur einige der Namen jener vielgestaltigen Gottheit, der die Menschen in früheren Zeiten in Ritualen und Gebeten huldigten und die mit dem Aufkommen monotheistischer Religionen schließlich auf die Rolle des sichtbaren Ausdrucks göttlicher Kraft reduziert wurde. Die Sonne selbst büßte indes nichts an Strahlkraft ein: Als Quell allen Lebens, dem immer auch ein destruktives Element zu eigen ist, befeuert sie spätestens seit Platon nicht nur unsere Vorstellung einer besseren Zukunft, sondern steht, wie die russische Philosophin Oxana Timofeeva unter Rückgriff auf Georges Bataille eindrücklich zeigt, für ein dringend benötigtes Gegenmodell zur auf unendliches Wachstum und Akkumulation zielenden, zerstörerischen Kapitalwirtschaft. Denn die Sonne ist reiner Überschuss. Sie verausgabt sich ohne Forderung nach Gegenleistung, ohne je an Grenzen zu stoßen. Eine politische Ökonomie also, die auf dem Prinzip der Sonne gründete, wäre eine des Altruismus und der Solidarität, eine, die sich verschenkt, sich ohne Berechnung verliert - und daher eine im Einklang mit der Natur stehende Möglichkeit jenseits aller bestehenden politischen Kategorien.

Oxana Timofeeva, 1978 in Sibirien geboren, ist Autorin und Mitglied im Ku?nstlerkollektiv Chto delat. Von ihr erschienen u. a.: Eto ne to [Das ist es nicht] (Limbach 2022), History of Animals (Bloomsbury 2018), Introduction to the Erotic Philosophy of Georges Bataille (New Literary Observer 2009) und bei Matthes & Seitz Berlin zuletzt Heimat. Eine Gebrauchsanweisung (2022).

I. Zwei Arten von Gewalt


Das Wort »Gewalt« dient uns als inflationäre politische Währung, die als Wechsel für alle Arten symbolischer Transaktionen herausgegeben werden kann. Da es aus der öffentlichen Politik und den Massenmedien kommend Einzug in die Alltagssprache hielt, findet es auf Handlungen und Verhaltensweisung Anwendung, die in unterschiedlichem Grad brutal sind, von Terrorismus bis hin zur Verletzung der Privatsphäre und der psychischen Autonomie einer Person. Polizeigewalt, sexuelle Gewalt, physische und emotionale Gewalt; Krieg; Gender-, häusliche, ethnische und rassistische Gewalt: Alle diese Arten erweisen sich als Universalien des gesellschaftlichen und privaten Lebens, sie bezeichnen entweder Situationen, die eskaliert und außer Kontrolle geraten sind, oder im Gegenteil: Situationen, in denen zu viel Kontrolle herrscht. Die anthropogenen Faktoren für den Klimawandel und das massenhafte Aussterben von Tier- und Pflanzenarten können ebenfalls in Begriffen der Gewalt diskutiert werden: Eine ökologische Weise, die Welt zu betrachten, geht einher mit einem Bild vom Menschen als Summe seiner Technologien, der die Erde schändet, und von einer ausbeuterischen Ökonomie, welche die Erde gleichsam als Arsenal nützlicher Ressourcen behandelt. Schlussendlich kann jedes Tun oder Lassen als Gewalt, die etwas oder jemandem angetan wird, eingestuft werden. Auch indem ich mich zwinge, dieses Buch zu schreiben, tue ich mir Gewalt an.

Angesichts der aufgezeigten Bandbreite, wie das Wort gebraucht werden kann, lassen sich beim Nachdenken über Gewalt allgemeine Tendenzen feststellen. Erstens ist Gewalt definitiv ein Thema, das moralisch geächtet ist; zweitens durchdringt der Gewaltdiskurs alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens, und zwar in einem solchen Ausmaß, dass es schwer ist, etwas zu finden, was nicht unter diese Etikettierung fallen würde. Gewalt ist moralisch missbilligt: Gewalt ist böse. Sie muss entlarvt und gebrandmarkt werden, ausgeschlossen, gestoppt, eliminiert, minimiert, verhindert oder bestraft. Die kulturellen Erfahrungen moderner westlicher Gesellschaften sind – bis auf wenige Ausnahmen – von einem hoch elaborierten humanistischen Werteschema geprägt. Das Thema Gewalt in einem positiv konnotierten Kontext anzusprechen, scheint daher im Widerspruch zum gesunden Menschenverstand zu stehen.

Gleichzeitig ist es eine Tatsache, dass auf dem gesunden Menschenverstand basierende Urteile nicht automatisch wahr werden, nur weil sie den gängigen moralischen Wertvorstellungen entsprechen. Zumal die Wahrheit im philosophischen Sinne durchaus direkt oder indirekt im Widerspruch stehen kann zu Urteilen und Bewertungen, die als Doxa, Dogma, Ideologie oder Nonsens verstanden werden. So betont Hegel in der Phänomenologie des Geistes, dass sich Gut und Böse in ihrer jeweiligen Aktualisierung einander annähern: Die Tugend ist eine Form Bewusstsein, die im Namen des abstrakten Guten agiert und gegen den Lauf der Welt ankämpft, ohne zu realisieren, dass sie selbst Teil dieses großen Tohuwabohus ist, das sie als das Böse etikettiert.22 Nietzsche schlägt demgegenüber vor, eine Neubewertung aller Taxonomien vorzunehmen, indem er die Philosophie jenseits von Gut und Böse rückt und die Gewalt als Ursprung jeder Moral zeigt.23 Beide, Hegel und Nietzsche, entdecken auf je spezifische Weise die Heuchelei sowie den Doppelstandard des Moralismus und schlagen alternative Ethiken vor, die von der Multidimensionalität des Lebens des Geistes (Hegel) oder des Körpers (Nietzsche) abgeleitet sind. Während Hegel die Evidenz des gesunden Menschenverstandes ironisch, aber zärtlich, von innen nach außen kehrt, demoliert Nietzsche sie unbarmherzig.

Später radikalisiert die marxistische wie linke Tradition diese antidogmatischen Tendenzen und schreibt die moralische Genealogie in die Geschichte des Klassenkampfs ein. Dass diese Tradition sich auf die Seite der Armen, Entrechteten und Unterdrückten schlägt, ist ein Affront wider die öffentliche Moral, welche die Interessen der herrschenden Klassen und privilegierter Gruppierungen vertritt und die Gewalt, die jene ausüben, als etwas Gutes darstellt. Doch genau hier, im Rahmen der linken Kritik, kommt eine äußerst spezifische Apologie der Gewalt auf, dabei handelt es sich nicht um eine Apologie staatlicher Gewalt, der Polizeigewalt oder allgemeiner der Gewalt des Stärksten. Worum es hier geht, ist nicht der Missbrauch von Macht, verkleidet als etwas gemeinhin Gutes, sondern die gewaltsame Wiederherstellung der Gerechtigkeit, die der gesellschaftlichen Unterdrückung ein Ende bereiten soll. Es ist nicht die Sphäre der Moral, sondern eine politische Perspektive, welche diese neue, allgemeine Übereinkunft revolutionärer Gewalt generiert, deren Entschuldbarkeit in Hinblick auf historische Präzedenzfälle, von der Pariser Kommune bis zur aktuellen Black Lives Matter-Bewegung und anderen populären Bewegungen, diskutiert wird.

Negation der Negation


Im 20. Jahrhundert wagten einige kluge Köpfe, von verschiedenen Arten emanzipatorischer Gewalt zu sprechen – unter anderem Georges Sorel, Walter Benjamin und Frantz Fanon. Es gibt, mit gewissen Einschränkungen, gute Gründe anzunehmen, dass Bataille seinerseits zu dieser Kategorie Denker gehört, obschon seine Theorie der Gewalt sich deutlich von den anderen abhebt. Im Folgenden möchte ich mich mit diesen Gründen befassen, die Konzeptionen dieser Denker einander gegenüberstellen, die Spezifik von Batailles Position näher erläutern, um so ein Argument für deren Wichtigkeit ins Feld zu führen.

Es gibt mindestens zwei Aspekte, unter denen die von Sorel, Benjamin, Fanon und Bataille entwickelten Gewalttheorien – auf der formal-strukturellen Ebene – Gemeinsamkeiten aufweisen, trotz erheblicher Unterschiede. Erstens die Idee, dass es zwei antagonistische Arten von Gewalt gibt. Die wahre Gewalt (Sorel), die göttliche Gewalt (Benjamin), die absolute Gewalt (Fanon) und die heilige Gewalt (Bataille) werden einem tatsächlich existierenden System legitimer Gewalt gegenübergestellt, auf dem die alten, ausbeuterischen, kolonialen oder profanen Herrschaftsregime basieren. Sorel betrachtet die übergeordnete proletarische Gewalt des Generalstreiks im Gegensatz zu der brutalen Gewalt des kapitalistischen Staatssystems; Benjamin führt eine göttliche beziehungsweise revolutionäre Gewalt ein, eine Gewalt, welche die Gewalt des Gesetzes bestreitet; Fanon formuliert die Idee, dass die kolonialisierten Menschen einen Widerstand üben, der gewaltsamer und brutaler ist als das koloniale Regime, gegen das die Menschen ankämpfen.

Zweitens besteht eine explizite Asymmetrie zwischen diesen beiden Arten von Gewalt. Der zweite Typ ist vertikal, rebellisch, emanzipatorisch oder erlösend – diese Gewalt ist eine Reaktion auf die Gewalt des ersten Typs oder einfach auf die Unterdrückung. Allerdings ist die Gewalt der Unterdrückten mehr als ein bloßes Zurückschlagen – in diesem Fall wären die einander gegenüberstehenden Seiten Variablen wären, die lediglich ihre Positionen tauschen würden, während die Formel insgesamt dieselbe bliebe. Weder gleicht noch spiegelt sie die tatsächlich existierende Gewalt, die sie evoziert hat, noch ist die Gewalt der Unterdrückten in deren Sprache übersetzbar, geht sie doch darüber hinaus und transferiert sie eben dadurch gleichsam auf ein neues Niveau beziehungsweise auf eine neue Möglichkeitsebene, wodurch sich wiederum ihre utopische Dimension eröffnet.

Diese beiden Aspekte konstituieren die dialektische Struktur der doppelten Negation. Der Punkt ist nicht, dass wir gegen eine Mauer rennen, sondern dass die emanzipatorische Gewalt mit der Negation der Negation korrespondiert: Beispielsweise negiert die Gewalt der Polizei die persönliche Freiheit, während die Gewalt der Demonstranten gegenüber der Polizei, indem sie diese Negation negiert, die wahre Freiheit bestätigt, die zuvor nur in Form einer abstrakten Idee existierte, jetzt aber real wird. So wurden während der Proteste gegen die Fake-Wahlen im August 2019 in Moskau eine ganze Reihe von Leuten wegen zivilen Ungehorsams und Gewalt gegen die Polizei verurteilt. Was sie getan hatten, waren eigentlich Bagatellen, sie warfen etwa leere Pappkaffeebecher oder Plastikflaschen in Richtung einer Gruppe von Polizisten, die mit Schlagstöcken auf Menschen einschlugen. Das Verhalten der Demonstranten wirkt angesichts dessen regelrecht harmlos und im positiven Sinne unverhältnismäßig: Was ist ein federleichter Pappbecher oder eine Plastikflasche gemessen an dem Schlagstock eines Polizisten? Und dennoch ist dieses Verhalten laut den Strafverfolgungsbehörden eindeutig als Gewalt einzustufen. Wieso? Weil hier die Freiheit am Werk war. Auf einen Schlag macht die Wahrheit des vorsätzlichen Handelns den Pappbecher zu etwas, was mehr wiegt als der Schlagstock. Die Gewalt der Polizei ist nicht absolut; es gibt immer eine mögliche Antwort darauf, und diese Antwort ist von dem Akt der Unterdrückung verschieden, der sie provoziert hat.

Natürlich stammen die hier diskutierten Theorien...

Erscheint lt. Verlag 7.3.2024
Übersetzer Anja Dagmar Schloßberger
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften
ISBN-10 3-7518-2003-5 / 3751820035
ISBN-13 978-3-7518-2003-5 / 9783751820035
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