Gefühlte Demokratie (eBook)
336 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45517-4 (ISBN)
Eckart Conze ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Marburg. Astrid Wallmann ist Abgeordnete und seit 2022 Präsidentin des Hessischen Landtags.
Eckart Conze ist Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Marburg. Astrid Wallmann ist Abgeordnete und seit 2022 Präsidentin des Hessischen Landtags.
Vorwort
Astrid Wallmann / Eckart Conze
Am 1. Dezember 2021 jährte sich zum 75. Mal der Hessische Verfassungstag. An diesem Tag vor 75 Jahren entschlossen sich die hessischen Bürgerinnen und Bürger nach unvorstellbarem Leid, den Weg in eine neue Zukunft zu beschreiten. Dieser Jahrestag bildete den Anlass für eine Tagung im Hessischen Landtag zum Thema »Gefühlte Demokratie. Die Weimarer Erfahrung im 20. und 21. Jahrhundert«, die wegen der Covid-Pandemie erst im Juni 2022 stattfinden konnte.
Im Dezember 1946 begann mit der Annahme der hessischen Landesverfassung eine neue Ära des modernen hessischen Parlamentarismus. Die hessische Verfassung von 1946 ist die älteste noch gültige Landesverfassung in der Bundesrepublik. Und es war alles andere als selbstverständlich, dass sich die Menschen in dem 1945 neu gebildeten Land Hessen zu diesem Neubeginn entschlossen. Das ist zu spüren, wenn man sich mit den ersten Schritten des noch jungen Parlaments beschäftigt. Als der Alterspräsident Jakob Husch (CDU) am 19. Dezember 1946 den Hessischen Landtag eröffnete, verstand er die erste Sitzung des nach langer Zeit erstmals wieder frei gewählten Parlaments nicht als einen Endpunkt auf dem Weg zur Demokratie. Er war sich bewusst, dass das, was er als einen »Gesundungsprozeß unseres schwerkranken Volkes« beschrieb, erst am Anfang stand: »Alle diejenigen aber, die guten Willens sind, gehören zu uns, gleichgültig, welche religiöse, politische oder sonstige Meinung von dem einzelnen vertreten wird. Denn nur diese Voraussetzung eines guten Willens wird gefordert von jenen, denen die Weihnachtsbotschaft den Frieden verheißen hat.«
Demokratie steht und fällt mit einem solchen guten Willen. Sie steht und fällt auch mit einer inneren demokratischen Haltung der Bürgerinnen und Bürger. Sie lebt von Voraussetzungen, die nicht verordnet werden können. Sie entspringt einem Gefühl im Volk. Verfassungen und Gesetze sind erst Ausdruck dieses Gefühls. Woher entspringt dieses Gefühl? Und woher entsprang es in der Zeit kurz nach dem Ende von Krieg und Gewaltherrschaft, als Ängste, existenzielle Not und Schuldgefühle alle anderen öffentlichen Fragen überlagerten? Blicken wir heute exemplarisch auf die Abgeordneten des ersten Landtages, so war ihre Motivation zum politischen Engagement durchaus unterschiedlich. Viele hatten ihre zerstörte Heimat vor Augen und suchten nach dem Krieg einen Ort, an dem sie sich für einen nachhaltigen Frieden einsetzen konnten. Und die beste Chance auf ein Ende der Gewalt sahen sie in einem demokratischen Gemeinwesen. Einige fanden die Wurzeln ihrer demokratischen Überzeugung in ihrem Glauben. Andere trieb der Wunsch, ihre Mitmenschen in diesen Zeiten der Not, der Kälte und des Hungers zum gegenseitigen Dienst zu animieren. Wieder andere empfanden den Dienst im politischen Amt als nationale Pflicht; in ihnen wuchs erst mit der Ausübung des Mandats die demokratische Überzeugung.
Es waren also vielfältige Gründe, die diese Abgeordneten zum Engagement in der und für die Demokratie motivierten. Es war nicht primär das Interesse an der neuen, demokratischen Staatlichkeit, das sie trieb. Aber das Engagement für einen demokratischen Staat und die Auseinandersetzung mit den Herausforderungen dieses jungen demokratischen Staates trugen zur Entwicklung demokratischer Überzeugungen bei. Dass genau dies, das immer wieder neue Vermitteln demokratischer Haltung, zu den ureigensten und nie abgeschlossenen Aufgaben von Demokratie gehört, dessen waren sich die hessischen Parlamentarier der ersten Stunde sehr bewusst.
So stellte auch der erste gewählte Ministerpräsident Hessens, Christian Stock (SPD), in seiner Antrittsrede am 20. Dezember 1946 fest, die Brüchigkeit der Demokratie in der Weimarer Republik habe maßgeblich darin bestanden, dass nicht genügend Menschen hinter ihr standen. Demokratie sei, so der Ministerpräsident, eine »Erziehung zur guten Sache«. Und es sei eine gewichtige Verantwortung des Volkes, sich das Recht der Demokratie nie wieder rauben zu lassen. Sein Nachfolger Georg-August Zinn (SPD) nahm diesen Gedanken wieder auf, als er 1959 die politische Verwaltung als eine »Schule der Demokratie« beschrieb.
Einerseits ist also der Wille »zur guten Sache« eine wichtige Triebfeder für die Demokratie. Zugleich ist die Demokratie selbst aber eine pädagogische Einrichtung, die zu dieser guten Sache erziehen kann. Ein demokratisches Grundgefühl, ein demokratischer Grundkonsens kann nicht verordnet werden. Er ist untrennbar verbunden mit den Erfahrungen und Emotionen, die Menschen in und mit der Demokratie machen. Lehren aus der Geschichte zu ziehen, in diesem Sinne aus historischen Erfahrungen zu lernen, ist Teil politischer Kultur. Deshalb sieht es der Hessische Landtag auch als seine Aufgabe an, die Erforschung der politischen und parlamentarischen Geschichte des Landes Hessen zu unterstützen. Das spiegelt sich nicht nur in dem Symposium von 2022, dessen Beiträge hier publiziert werden, sondern beispielsweise auch in der vom Hessischen Landtag geförderten Onlineplattform: www.parlamente.hessen.de.
In einer Demokratie ist politische Bildung eine unverzichtbare Aufgabe. Demokratie braucht politische Bildung. Die Mütter und Väter der hessischen Verfassung konnten für diese Aufgabe nicht, wie wir heute, auf 75 Jahre erfolgreiche hessische Demokratiegeschichte zurückblicken. Die Erfahrungen, die sie mit dem Parlamentarismus gemacht hatten, blieben in Erinnerung als die Geschichte einer gescheiterten Demokratie in der Weimarer Republik. Die Feinde der Demokratie, allen voran die Nationalsozialisten, hatten diese Republik und die demokratischen Ideale verächtlich gemacht und die Demokratie und ihre Vertreter mit Hass und Hetze überzogen. Nach 1933 haben sie unbeschreibliches Elend und Leid über die Welt gebracht.
Ob sich in Deutschland eine Demokratie stabilisieren und einwurzeln konnte, war unmittelbar nach 1945 eine offene Frage und alles andere als sicher. Bei der Erarbeitung der hessischen Verfassung gab es eine intensive Auseinandersetzung mit der Weimarer Verfassung. Sie stand einerseits sogar Modell für viele Formulierungen der hessischen Verfassung. Andererseits aber gab es auch Abgrenzung und Kritik. Am Ende dieses Prozesses stand ein Dokument, das großen Wert auf eine föderale Struktur und auf soziale Integration und Verantwortung legte.
Die Verfassung Hessens atmet das Ideal, dass politische und gesellschaftliche Herausforderungen am besten bei den Menschen, mit ihnen und von ihnen selbst angenommen und bewältigt werden können. Sie begreift aus historischer Erfahrung heraus Demokratie als harte Arbeit aller Bürgerinnen und Bürger. Und sie verstetigt die Frage, wie unsere Gesellschaft den Ansprüchen der Menschen immer wieder neu genügen kann. Von dieser Frage geleitet ist es den Menschen in Hessen nach 1945 gelungen, ein demokratisches Staatswesen zu bauen, das zu Stabilität, Ansehen und Akzeptanz gelangen konnte. Hier begann eine Erfolgsgeschichte, auf die man auch mit Stolz zurückblicken kann. Gleichwohl – und gerade angesichts dieser Erfolgsgeschichte – bleibt die Frage: Woher entspringt das Gefühl, das unserer Demokratie zugrunde liegt? Wie bleibt er wach, dieser Wille »zur guten Sache«, wie es Christian Stock formulierte? Und wie kann die Demokratie selbst eine Schule zur guten Sache sein und vor allem auch bleiben?
Der Vergleich mit der Erfahrung von Weimar wird im Zusammenhang mit aktuellen Herausforderungen der Demokratie immer wieder bemüht. Da geht es um die Auffächerung der politischen Lager und um die unklaren Verhältnisse in den Parlamenten. Es geht um die Skepsis gegenüber der Leistungsfähigkeit und der Legitimation der repräsentativen Demokratie und deren Institutionen. Aber auch die Angriffe auf die Demokratie, die in den vergangenen Jahren nicht nur qualitativ, sondern auch quantitativ zugenommen haben, beschwören die Weimarer Vergangenheit herauf und erfüllen Demokraten mit großer Sorge.
Was hält eine Demokratie lebendig? Allein diese Frage ist Grund genug für ein Symposium im Hessischen Landtag und eine Buchveröffentlichung, die sich in gefühlsgeschichtlicher Perspektive mit der Weimarer Erfahrung und ihrer Wirkung im 20. und 21. Jahrhundert beschäftigen.
Das Symposium im Hessischen Landtag in Wiesbaden, dessen Beiträge und Ergebnisse dieses Buch dokumentiert, setzte eine Tradition solcher Veranstaltungen...
Erscheint lt. Verlag | 17.7.2024 |
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Co-Autor | Eckart Conze, Christoph Cornelißen, Carola Dietze, Dagmar Ellerbrock, Silke Fehlemann, Ute Frevert, Alexander Gallus, Rüdiger Graf, Christoph Gusy, Jens Hacke, Till van Rahden, Elke Seefried, Astrid Wallmann, Benedikt Wintgens, Andreas Wirsching, Kerstin Wolff |
Verlagsort | Frankfurt am Main |
Sprache | deutsch |
Themenwelt | Geschichte ► Allgemeine Geschichte ► 1918 bis 1945 |
Schlagworte | 20. Jahrhundert • Bundesrepublik Deutschland • Demokratie • Demokratiegeschichte • Emotionen • Emotionsgeschichte • Erfahrung • Erster Weltkrieg • Gefühle • Gegenwart • Geschichte • geschichte der demokratie • Geschichte der Gefühle • Gesellschaft • Konflikt • Krise • Nationalsozialismus • Verfassung • Weimarer Geschichte • Weimarer Republik • Zwischenkriegszeit |
ISBN-10 | 3-593-45517-X / 359345517X |
ISBN-13 | 978-3-593-45517-4 / 9783593455174 |
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Größe: 4,4 MB
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