Minoritäre Technologien (eBook)

Eine deleuzo-guattarische Technikphilosophie
eBook Download: EPUB
2024 | 1. Auflage
564 Seiten
Campus Verlag
978-3-593-45750-5 (ISBN)

Lese- und Medienproben

Minoritäre Technologien -  Christoph Hubatschke
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Erstmals beleuchtet ein Forschungsband die bisher kaum beachteten technikphilosophischen Aspekte im Werk von Gilles Deleuze und Félix Guattari. In einer systematischen Darstellung werden zentrale Begriffe wie Maschine, Gefüge, Kontrollgesellschaft und Post-Media sowie wichtige Referenzautoren wie Spinoza, Marx, Simondon, Leroi-Gourhan und Foucault diskutiert. Mit seinem Konzept der »minoritären Technologien« aktualisiert Christoph Hubatschke die deleuzo-guattarische Techniktheorie und bezieht unter anderem auch feministische Einsätze mit ein. Deutlich stellt sich heraus, dass eine von Deleuze und Guattari informierte Technikphilosophie auch heute noch Antworten auf höchst relevante technopolitische Fragen gibt.

Christoph Hubatschke, Dr. phil., ist Philosoph und Politikwissenschaftler und forscht an der Universität Wien.

Christoph Hubatschke, Dr. phil., ist Philosoph und Politikwissenschaftler und forscht an der Universität Wien.

1.Von der Mitte ausgehend, durch die Mitte hindurch, immer mittendrin


Wohin geht ihr? Woher kommt ihr? Was wollt ihr erreichen? Das sind unnütze Fragen. Reinen Tisch machen, bei Null anfangen oder neu beginnen, einen Anfang oder eine Grundlage suchen – all das sind falsche Vorstellungen von Reise und Bewegung (methodische, pädagogische, initiatorische oder symbolische Vorstellungen). Kleist, Lenz oder Büchner haben eine andere Art zu reisen und sich zu bewegen, von der Mitte ausgehend, durch die Mitte hindurch, eher gehen und kommen als aufbrechen und ankommen. (TP, 41)

In einem kurzen Text mit dem Titel »A Rant about ›Technology‹« (2004) reflektiert die feministische Science Fiction-Autorin Ursula LeGuin über die Frage der Technik. Der Text ist eine Antwort auf einen Rezensenten, der ihre Arbeit als »soft science fiction« kategorisiert, weil LeGuin angeblich nicht über Technologien schreibe, ja das Reden über Technologien gar vermeide. Während »hard science fiction«, so die verbreitete Annahme, vor allem mit Fragen der Technik beschäftigt ist, sich für zukünftige und fremde Technologien und das genaue Funktionieren neuer Technologien interessiere, ist »soft science fiction« in LeGuins sarkastischen Worten mehr an »psychology and emotions and squashy stuff like that« (LeGuin 2004) interessiert. LeGuin weist diese problematische Unterscheidung scharf zurück. Denn es ist unmöglich, so LeGuin, Science Fiction zu schreiben, ohne gleichzeitig immer – implizit oder explizit – über Technologien und technische Objekte zu schreiben: »[H]ow can anybody make a story about a future or an alien culture without describing, implicitly or explicitly, its technology?« (LeGuin 2004) Wie Gesellschaften funktionieren und organisiert sind, wie Lebewesen, welcher Art auch immer, sich ernähren, fortpflanzen, und kommunizieren, wie sie sich kleiden und wie und was sie arbeiten, all dies hat immer schon, so LeGuin, mit Technologien zu tun. Woher dann der Vorwurf, sie sei nicht an Technologie interessiert? Dieser Vorwurf, so LeGuin, verweist auf ein grundsätzlich falsches Verständnis von Technologien:

But the word [technology] is consistently misused to mean only the enormously complex and specialised technologies of the past few decades, supported by massive exploitation both of natural and human resources. […] »Technology« and »hi tech« are not synonymous, and a technology that isnt »hi,« isnt necessarily »low« in any meaningful sense. We have been so desensitized by a hundred and fifty years of ceaselessly expanding technical prowess that we think nothing less complex and showy than a computer or a jet bomber deserves to be called »technology« at all. As if linen were the same thing as flax – as if paper, ink, wheels, knives, clocks, chairs, aspirin pills, were natural objects, born with us like our teeth and fingers – as if steel saucepans with copper bottoms and fleece vests spun from recycled glass grew on trees, and we just picked them when they were ripe… (LeGuin 2004)

Was also als Technologie, als technisches Objekt wahrgenommen wird, und welche Objekte nicht als Technologie, als komplex, als Teil einer technischen Welt gesehen werden, diese Grenzen sind, so LeGuin, mehr als verschwommen. Zu gerne wird Technik auf »neue Technologien« reduziert – sei es zu Zeiten der Industriellen Revolution die Dampfmaschine, oder große automatisierte Webmaschinen, oder heute Computer, Internet, AI und Robotik. Derart werden alltäglich gewordene Objekte oft nicht mehr als etwas Technisches wahrgenommen. Die Unterscheidung zwischen Hochtechnologien und vermeintlich »einfachen« oder »primitiven« Technologien ist jedoch nicht nur eine problematische, sie ist eine grundsätzlich irreführende. LeGuin lässt jedenfalls das Argument der vermeintlich komplexeren Hochtechnologie nicht gelten:

One way to illustrate that most technologies are, in fact, pretty »hi,« is to ask yourself of any manmade object, Do I know how to make one? […] I dont know how to build and power a refrigerator, or program a computer, but I dont know how to make a fishhook or a pair of shoes, either. I could learn. We all can learn. Thats the neat thing about technologies. Theyre what we can learn to do. (LeGuin 2004)

Für LeGuin ist Technik also immer schon mit dabei. Ihre Science Fiction, und dies ist ein Grund, warum sie als Vorreiterin der feministischen Science Fiction gilt, stellt jedoch keine innertechnischen Logiken und funktionalen Erklärungen in den Mittelpunkt der Geschichte, sondern fokussiert auf die Mannigfaltigkeit der Technologien, auf deren soziale und politische Dimensionen. Damit impliziert sie, dass es Technik an sich nicht gibt, sondern wir es vielmehr immer mit einer Verwobenheit von sehr unterschiedlichen und höchst komplexen Technologien zu tun haben. Die Komplexität betrifft dabei nicht bloß das technische Objekt selbst, sie ist vielmehr eine des Gefüges, in das das technische Element eingebunden ist, ja aus dem das technische Element überhaupt erst entsteht.

Mit LeGuin wird deutlich, dass es nicht nur geboten ist, die Kategorien hi-tech und low-tech transversal zu durchkreuzen, sondern dass Technik losgelöst von konkreten Kontexten nichts aussagt – zu viel beschreibt und gleichzeitig zu wenig. Zu viel, weil alles Mögliche, sehr Verschiedene in eine homogene und vor allem von anderen Bereichen fein säuberlich getrennte Kategorie zusammengefasst wird; zu wenig, weil nichts Konkretes über die jeweiligen Technologien und technischen Objekte gesagt werden kann, diejenigen Kontexte und Gefüge ignoriert werden, in denen Technologien entwickelt, technische Objekte produziert, angewandt, weiterentwickelt aber auch gehackt werden. Technologien und technische Objekte, so legt LeGuin nahe, werden überhaupt erst durch je konkrete Zusammenhänge und Verhältnisse zu etwas Technischem. Über Technik kann nichts Allgemeines gesagt werden. Was als komplex und was als einfach erscheint, was als abgeschlossenes technisches Objekt und was als komplexes technisches System gilt, all dies wird von den Gefügen bestimmt. Es ist eben diese Bresche, in welche auch die in dieser Arbeit nachgezeichnete und weitergedachte deleuzo-guattarische Technikphilosophie schlägt.

Alfred Nordmann stellt in seiner Einführung zur Technikphilosophie (2008) die These auf, dass die Technikphilosophie ein Fachgebiet ohne »eigene Fragestellung« ist: »Im Grunde ist die Technikphilosophie die ganze Philosophie noch einmal von vorn – diesmal unter Einbeziehung der Technik.« (Nordmann 2008, 10) Die Technikphilosophie stelle die großen philosophischen Fragen noch einmal neu: Was können wir wissen, was sollen wir tun, was ist der Mensch? All diese Fragen müssen unter Einbeziehung der Technik und fortwährend neuer Technologien immer und immer wieder neu gestellt und verhandelt werden, so Nordmann. Doch wenn wir LeGuins Bemerkungen ernst nehmen, müssen wir uns ebenso fragen, ob Technik nicht in vielen philosophischen Entwürfen – implizit oder explizit – mitgedacht wurde und wird. Denn wie, so könnten wir mit LeGuin fragen, lassen sich große philosophische Fragen überhaupt stellen, geschweige denn beantworten, ohne Technik miteinzubeziehen? Was wir zum Beispiel wissen können, hängt maßgeblich mit konkreten Technologien und technischen Objekten zusammen. Wie Mona Singer bezüglich der erkenntnistheoretischen Dimension der Technik schreibt, sieht man durch technologische Mittel »nicht bloß genauer oder mehr«, sondern »mit ihnen auch anders und Anderes« (Singer 2015, 7). Technologien und technische Objekte sind nicht nur ein Zusatz, eine Erweiterung, etwas, das uns zwingt, bestimmte Fragen »neu zu stellen«; vielmehr sind sie integraler Bestandteil jeglichen sozialen Handelns. Es gilt daher nicht nur philosophische Probleme »mit Technik neu« zu denken, sondern ebenso nach jenen konkreten Technologien zu fragen, die philosophische Fragen angeleitet, beeinflusst oder überhaupt erst ermöglicht haben, jenen Technologien, die Antworten gegeben haben sowie jenen Technologien und philosophischen Fragen, die ausgelassen und ignoriert wurden beziehungsweise nicht als Technologien wahrgenommen wurden. Es gilt nach den Gefügen zu fragen, von denen ...

Erscheint lt. Verlag 6.3.2024
Verlagsort Frankfurt am Main
Sprache deutsch
Themenwelt Geisteswissenschaften Philosophie Philosophie der Neuzeit
Schlagworte Deleuze • Guattari • Kritische Philosophie • Kritische Theorie • Marx • Mensch und Maschine • Philosophiegeschichte • Poststrukturalismus • Spinoza • technikbegriff • Technikphilosophie • Techniktheorie
ISBN-10 3-593-45750-4 / 3593457504
ISBN-13 978-3-593-45750-5 / 9783593457505
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